Cinema Italiano

Ein frischer Blick

 

von Gerhard Midding

 

Eine der wenigen erfreulichen Erkenntnisse, welche die Pandemie für die Filmbranche und ihr Publikum bereithält, liegt in der Feststellung, dass Filme keine verderblichen Waren sind. Sie haben nicht zwangsläufig ein Verfallsdatum, nach dessen Ablauf sie ungeniessbar wären. Aufgeschoben muss nicht aufgehoben bedeuten.

 

Gewiss, viele der grossen Hollywood-Blockbuster sind auf ein bestimmtes Momentum angewiesen. Es ergibt sich aus der Ungeduld der Fans und der Furcht, vom nächsten Konkurrenten überboten zu werden, der mit noch spektakuläreren Stunts, Verfolgungsjagden und Spezialeffekten prunken kann. Aber die meisten «kleinen» Filme erzählen Geschichten, die zeitloser sind. Ihre Aktualität ist nicht erloschen, weil sie ein, zwei Jahre später als geplant in die Kinos kommen. Gleichwohl ist die Zwischenzeit nicht folgenlos verstrichen: Die Filme haben sich nicht verändert, aber unser Blick auf sie.

 

Um unserer Betrachtung standzuhalten, müssen sie allerdings robust und zugänglich sein. Dieses Kriterium erfüllen die fünf Titel dieser Auswahl prächtig. Sie sind noch vor Ausbruch der Pandemie entstanden oder in Italien gar davor herausgekommen. Sie handeln nicht von ihr – und doch verbinden sie sich nun mit ihr. «L’amore a domicilio» mutet im Jahre 2021 so an, als würde diese Komödie während eines Lockdowns spielen, dabei war die hübsche Idee, die Liebe unter Hausarrest zu stellen, schon 2019 unwiderstehlich. Das Pandämonium wiederum der besserwisserischen, übergriffigen Eltern in «Genitori quasi perfetti» weckt einen tiefen Wunsch nach sozialem Abstand. Dem Bild, das die Filme sich von alltäglichen Dingen machen, ist unversehens eine zusätzliche Relevanz zugewachsen: unfreiwillig, aber nicht unverdient. Die medizinischen Masken, die auf der Krebsstation in «Cosa sarà» getragen werden, gehören natürlich seit jeher zur Ausrüstung von Pflegepersonal und Ärzten. Aber sehen wir sie inzwischen nicht doch mit anderen Augen? Ihre Selbstverständlichkeit hat einen anderen Stellenwert für uns.

 

Jetzt, wo wir sie selbst tragen müssen, sind wir womöglich zu einer Einfühlung in Krankheit und Leiden bereit, die uns zuvor noch etwas ferner lag. Die fünf Filme sind in einer Unschuld geschrieben, gedreht, gespielt und geschnitten worden, die sie sich jetzt nicht mehr bewahren können. Sie müssen es auch nicht. Vielmehr bieten sie sich stolz dem heutigen Blick dar. Auf je eigene Weise erzählen sie Geschichten, die man vor der Pandemie erzählen konnte und danach weitererzählen kann: Ihre Aktualität liegt in ihrer Sicht auf das Menschliche. Sie erheben nicht den Anspruch, ein Kommentar zu unserer augenblicklichen Gegenwart zu sein. Aber es spricht für den Moment nichts dagegen, sie so zu lesen.

 

Denn ihnen allen ist gemeinsam, dass sie – in verschiedenen Genres und mit unterschiedlicher Fallhöhe – davon handeln, wie die Leben der Charaktere durch unvorhersehbare Ereignisse aus den Angeln gehoben werden. Das Verhängnis kann eine zufällige Begegnung sein, ein Unfall, ein Missgeschick oder eine unerwartete Diagnose. Das ist nicht immer das beste Angebot, welches das Leben den Figuren machen kann, ist aber stets der Auslöser einer erzählerischen Dynamik, an deren Ende eine Erkenntnis stehen könnte. Bei all diesen Umbrüchen gibt es aber auch eine sehr italienische Kontinuität: die Familienbande, denen nicht zu entrinnen ist und die doch neu definiert werden müssen. Eine Frage, die sich unweigerlich allen Figuren stellt, ist die, ob sie gute Eltern, Söhne oder Töchter sind.

 

Renato in «L’amore a domicilio» etwa lebt noch bei seinem Vater, der nach vielen Jahren noch nicht verwunden hat, dass seine Frau ihn verliess. Der Sohn ist ein erfolgreicher Versicherungsvertreter, der auch in Beziehungen lieber auf Nummer sicher geht. Anna, die plötzlich in sein Leben schneit, kommt ihm da gerade recht: Sie kann ihm nicht weglaufen, da sie unter polizeilichem Hausarrest steht. Aber leichtes Spiel hat er mit ihr nicht, ihr sizilianisches Temperament und ihre kriminelle Energie werfen Renatos geregeltes Dasein zusehends aus der Bahn. Emiliano Corapis Film nimmt Mass an der Tradition der Screwball Comedy. Die Ausgangssituation – Gangsterbraut trifft Unbescholtenen – erinnert an Jonathan Demmes turbulentes Road Movie «Something Wild», allerdings ohne die topografische Freizügigkeit. Dem amerikanischen Muster verleiht Corapi ein eminent italienisches Flair als einem gelassen-feurigem Familienfilm: Renato muss sich aus der Enge seines behüteten Daseins lösen, sein Vater soll sich wieder der Gegenwart öffnen und Anna will den Respekt ihrer missbilligenden Mutter erringen. Ohne allzu viel verraten zu wollen: Einer der chaotischsten Raubüberfälle der Filmgeschichte und Dantes «Inferno» spielen entscheidende Rollen in dieser Komödie der Emanzipation.

 

Auch die zwei Familien in «I predatori» wären einander nie begegnet, wenn nicht ein einfallsreicher, listiger Zufall sie zusammengeführt hätte. Pietro Castellitto lässt zwei gegensätzliche soziale Sphären aufeinanderprallen. Zum einen die Vismara, ein Clan munterer Neofaschisten, der ein Waffengeschäft betreibt und seine Freizeit vorzugsweise mit Picknick und Schiessübungen (dazu läuft Mussolini-Rock) verbringt. Auf der anderen Seite die Pavone, die zum gehobenen Bildungsbürgertum gehören: der Vater ist Chefarzt, die Mutter eine gestresste Regisseurin sowie der Sohn – gespielt von Castellitto selbst, der mit seinem Vater Sergio nicht nur das Profil, sondern auch das Gespür für komödiantisches Timing gemeinsam hat –, der gern den Leichnam von Friedrich Nietzsche exhumieren würde und dringend eine Bombe braucht. Das Drehbuch wurde zu Recht in Venedig in der Sektion Orizzonti ausgezeichnet; es vergeudet keine seiner zahlreichen Ideen, sondern greift sie mit unerbittlich verspielter Konsequenz wieder auf. Der Titel der angriffslustigen Satire erinnert nicht von ungefähr an «I mostri», Dino Risis klassisches Hohelied der Niedertracht. In der Tat knüpft Castellitto an die vergnüglich entlarvende Tradition der Commedia all’italiana an, die nie davor zurückscheute, ihre Landsleute von ihrer unvorteilhaftesten Seite zu zeigen.

 

Wie Raubtiere wirken mitunter auch die Eltern in «Genitori quasi perfetti», die bei einem Kindergeburtstag aufeinandertreffen. Wiederum kollidieren auf abgründig-amüsante Weise unterschiedliche Gesellschaftsschichten und Lebensentwürfe. Man gibt sich zeitgemäss, politisch korrekt und tolerant. Aber bald fallen reihum die Masken in diesem hitzigen Ensemblefilm, der mit der 2016 entstandenen Komödie «Perfetti sconosciuti» von Paolo Genovese einerseits das tückische Adjektiv im Titel gemein hat und zugleich die Lust, eine Kaskade heilsamer Katastrophen anzustossen. Am Ende des Nachmittags scheint das Leben der alleinerziehenden Mutter Simona in Trümmern zu liegen. Das fulminante Musical-Finale von Laura Chiossones Film besiegelt jedoch ein Plädoyer für echte Toleranz, für das Anerkennen des Andersseins.

 

Auch die 30-jährige Carmela in «Rosa pietra stella» ist eine alleinerziehende Mutter, die den Wechselfällen des Lebens trotzt. Aber die Vorzeichen sind völlig anders in Marcello Sanninos Film. Carmela steckt voller Lebenswut; sie bringt sich und ihre Tochter mit illegalen Gelegenheitsjobs durch, bis die Zwangsräumung ihrer Wohnung droht. Hier bietet Familienzusammenhalt weder Unterstützung noch Geborgenheit, er ist heillos konfliktreich. Die Einfühlsamkeit, mit der Sannino seine ruppige, rebellische Heldin begleitet, lässt an die Sozialdramen der Brüder Dardenne denken, deren Stammschauspieler Fabrizio Rongione eine tragende Rolle spielt. Der ungemein wandlungsfähige Darsteller tritt übrigens auch in «L’amore a domicilio» auf, wo er einem Ganoven durchaus sympathische Kontur gibt.

 

Während «Rosa pietra stella» radikal aus dem komödiantischen Tonfall der bisher erwähnten Filme ausschert, vereint Francesco Bruni in «Cosa sarà» souverän beide Erzählimpulse. Der Filmregisseur Bruno Salvati, gespielt von Kim Rossi Stuart, der auch am Drehbuch mitwirkte, wird bei einer Untersuchung mit dem Befund konfrontiert, dass er an einer seltenen Art von Leukämie erkrankt ist. Er muss einen geeigneten Stammzellenspender finden und gerät dabei auf die Spur eines Familiengeheimnisses. Brunis Film beruht auf eigenen Erlebnissen, die er jenseits einer autobiografischen Nabelschau als Tragikomödie inszeniert. Er knüpft an seinen meisterlichen «Tutto quello che vuoi» an, der mit eben solch heiterer Wehmut von Krankheit und der Neugier auf das Leben erzählt. «Cosa sarà» ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit des Filmemachers Bruno, eine träumerische Bestandsaufnahme des Scheiterns und Gelingens, sondern ein entschiedener Blick nach vorn. Alles wird gut: Das ist keine naive, sondern eine belastbare Botschaft in diesen Zeiten.

 

Gerhard Midding ist freier Autor und Filmjournalist für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, Filmbulletin) sowie Radio (rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat).

 

Wie immer im November werfen wir auch dieses Jahr mit unserem «Cinema Italiano» einen frischen Blick auf das aktuelle italienische Filmschaffen und freuen uns in dieser Ausgabe über explosive Debüts, manch alten Bekannten und allgegenwärtige Familienbande. Es sind spannende Geschichten von den Rändern der Gesellschaft, die sich komödiantisch oder kritisch mit prekären Lebensverhältnissen, Familiengeheimnissen, Mutterrollen, Elternschaft und dem Zusammenprall unterschiedlicher Gesellschaftsschichten befassen und einen anregenden Einblick in die Befindlichkeiten unserer südlichen Nachbarinnen und Nachbarn erlauben.