Die Verwandlung von Schatten in Licht: Víctor Erice, ein Solitär des Weltkinos

 

Hymnen an die Magie des Kinos

 

von Geri Krebs

 

Ein Moderator im Smoking tritt vor den Bühnenvorhang und wendet sich ans Publikum: «Der Produzent und der Regisseur des Films möchten Sie vor der Vorführung dieses Films gerne warnen. Dies ist die Geschichte eines Wissenschaftlers, der versucht hat, ein Lebewesen zu erschaffen, ohne daran zu denken, dass nur Gott das zu tun vermag. Diese Geschichte ist skandalös und könnte Sie sogar erschrecken. Seien Sie bereit. Wenige Filme haben einen solchen Eindruck in der Welt hinterlassen. Aber ich rate Ihnen, ihn nicht allzu ernst zu nehmen.»

 

Während dieser Worte ruht die Kamera auf den Gesichtern der gespannt lauschenden Menschen im Saal. Beim angekündigten Film handelt es sich um «Frankenstein», James Whales 1931 erschienene erste Verfilmung von Mary Shelleys Roman. Bereits in dieser Film-im-Film-Sequenz, einer der ersten Szenen von «El espíritu de la colmena» (Der Geist des Bienenstocks), offenbart sich etwas von der Meisterschaft eines Cineasten, der mit seinem schmalen Œuvre von nur vier langen Filmen in fünfzig Jahren Filmgeschichte geschrieben hat: Víctor Erice.

 

Schon allein die Eröffnung, als ein klappriger Lastwagen gemächlich durch eine staubige, in fahles Licht getauchte Ebene rollt und in ein kleines Dorf einbiegt, begleitet von einer begeistert «Kino! Kino!» rufenden Kinderschar, zeigt die sichere Hand eines Filmemachers, der wie ein Maler mit wenigen Pinselstrichen ein atmosphärisches Bild zu schaffen versteht, das einen von Anfang an in seinen Bann zieht. Wenig später wird besagter «Frankenstein» auf der Leinwand im Gemeindesaal sein Unwesen treiben. Im Publikum, von der Kamera für Momente in ein Chiaroscuro getaucht, das an Gemälde alter Meister des spanischen Barock erinnert, sitzen auch zwei kleine Mädchen, die Geschwister Ana und Isabel. Verkörpert werden sie von der sechsjährigen Ana Torrent und der achtjährigen Isabel Tellería – Entdeckungen des Regisseurs. Die beiden Mädchen sind es, die den ganzen Film tragen, dessen Geschichte sich aus ihrer Perspektive entwickelt. Die Ausdruckskraft des Blicks, vor allem derjenige der sechsjährigen Ana, Hauptprotagonistin von «El espíritu de la colmena», ist schlicht grossartig.

 

Als Víctor Erice 1972 sein Langfilmdebüt drehte, stand Spanien noch immer unter der Diktatur Francos, die auch nach dem Tod des Gewaltherrschers im November 1975 noch über ein Jahr andauern sollte. Unter diesem am längsten währenden faschistischen Regime Europas war es für einen Regisseur alles andere als risikolos, einen derartigen Film zu realisieren. Ein Film, der 1940 spielt und in dem es nicht darum geht, dass standhafte Franco-Truppen sich gegen böse, Priester massakrierende Republikaner durchsetzen. Ganz im Gegenteil: Mit der Darstellung eines verwundeten Widerstandskämpfers, dem Ana in einer Ruine ausserhalb des Dorfes begegnet und mit dem sie sich anfreundet, brach Erice ein langjähriges Tabu, das bis dahin im spanischen Kino gegolten hatte.

 

Hervorgegangen war «El espíritu de la colmena» aus dem Projekt eines klassischen Horrorfilms, in dem Víctor Erice das Frankenstein-Motiv weiterentwickeln wollte. Ein Projekt, das aber aus Budgetgründen scheiterte. Erice tat sich daraufhin mit dem Autor Angel Fernández Santos zusammen, einem Kommilitonen aus seiner Studienzeit an der Madrider Filmschule Anfang der 1960er-Jahre, der aus politischen Gründen von der Schule ausgeschlossen worden war. Gemeinsam erarbeiteten sie das Drehbuch zu einem minimalistischen Mysterienspiel, das durch die Augen zweier Kinder die faschistische Diktatur denunziert – ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren. In meditativer Langsamkeit und getreu der Dialogzeile «die Schatten in Licht verwandeln» des Mad Scientist aus «Frankenstein», feiert «El espíritu de la colmena» das «Abenteuer des Lichts», wie es ein Kritiker anlässlich der Weltpremiere 1973 am Filmfestival San Sebastián formulierte, wo er als erster spanischer Film in der Geschichte des Festivals den Hauptpreis gewann.

 

Víctor Erice kam 1940 zur Welt, in ebenjenem Jahr, in dem «El espíritu de la colmena» spielt. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in San Sebastián, wohin seine Eltern aus einem kleinen Dorf in den Bergen der baskischen Provinz Bizkaia übersiedelt waren, als er wenige Monate alt war. In San Sebastián gründete er mit Gymnasialfreunden einen Filmclub, schrieb schon als Teenager Filmkritiken für die Zeitschrift Nuevo Cine, ein Pendant zu den Cahiers du cinéma. Hier lernte er auch den späteren Produzenten Elías Querejeta (1934–2013) kennen, der für die Entwicklung des aufmüpfigen jungen spanischen Kinos in der Spätphase der Diktatur und den Jahren danach von grösster Wichtigkeit werden sollte und der auch «El espíritu de la colmena» produzierte.

 

Auch Erices zweiter Film, das 1983 erschienene Drama «El sur» (Der Süden), wurde von Querejeta produziert, und auch dieser Film spielt in der Zeit der Diktatur. Auf zwei Zeitebenen – 1949 und 1957 – angesiedelt und zusätzlich aus der Gegenwart durch die inzwischen erwachsene Protagonistin im Voiceover kommentiert, erzählt er von Estrella, die sich an die mysteriöse Gestalt und das Schicksal ihres Vaters erinnert und zu verstehen versucht, warum er so handelte, wie er gehandelt hat. Wie «El espíritu de la colmena» ist auch «El sur» eine flammende Anklage gegen den Faschismus und das, was er mit den Menschen und ihren Beziehungen anrichtet. Mehr noch als in seinem Vorgängerfilm setzt Víctor Erice hier bleierne Stille und eisiges Schweigen als politisches Statement und formales Mittel ein. Auch dieser Film ist letztlich eine Hymne auf die Kraft des Kinos. Denn Estrella – von der damals 16-jährigen späteren Regisseurin Icíar Bollaín gespielt – entdeckt eines Tages, wie eng das Schicksal ihres aus Südspanien stammenden Vaters mit dem Kino verknüpft ist. Nach dem Bürgerkrieg hatte dieser in den kalten Norden flüchten und im Süden seine grosse Liebe, eine angehende Filmschauspielerin, zurücklassen müssen. Diese Frau sieht der Vater Jahre später auf der Leinwand in einem Kino der nahen Stadt wieder, wohin er sich wiederholt heimlich absetzt. Das alte, prächtige Kino mit dem klingenden Namen «Arcadia» inszeniert Erice dabei in einer Schönheit und Opulenz, dass es – wie der letztlich unerreichbare Süden – zu einem Sehnsuchtsort wird.

 

Mehr noch als «El espíritu de la colmena» ist «El sur» vom durch Víctor Erice wiederholt beschworenen Grundsatz beseelt, dass Kino viel näher bei der Malerei liegt als bei der Literatur. Was sich etwa in der Szene manifestiert, als die kindliche Estrella in der Kirche ihre Erstkommunion erhält und dabei an eine Mariendarstellung des spanischen Barockmalers Francisco de Zurbarán erinnert. Oder als Estrella ihren Vater zum letzten Mal sieht und dieser so allein und verloren an einem Restauranttisch sitzt wie auf einem Bild von Edward Hopper.

 

So verwundert es nicht, dass Víctor Erice seinen nächsten Film «El sol del membrillo» (Das Licht des Quittenbaums) ganz der Malerei widmete und den erzählerischen Minimalismus, der schon «El sur» stärker bestimmte als «El espíritu de la colmena», hier nochmals steigerte. «El sol del membrillo» ist ein in Teilen fiktionaler Dokumentarfilm, der sich weitgehend darauf beschränkt, die Entstehung eines Gemäldes zu zeigen. Der mit Víctor Erice befreundete hyperrealistische Maler Antonio López García arbeitet über die Dauer mehrerer Monate im Hof seines Hauses in Madrid an einem Ölgemälde, das den Quittenbaum zeigt, der dort wächst. Unter Erices langen Filmen ist «El sol del membrillo» der einzige ohne Film im Film. Und doch ist er einer, in dem der filmische Prozess als zentrales Element einen Film dominiert, der künstlerisches Schaffen im Entstehen einzufangen versucht.

 

Nach diesem Werk, das 1992 in Cannes den Jurypreis gewann, realisierte Erice während dreissig Jahren keinen langen Film mehr. Er drehte mehrere Kurzfilme, lehrte an Filmschulen, veröffentlichte 2007 die Videokorrespondenz «Erice – Kiarostami: Correspondencias» mit seinem cineastischen Seelenverwandten Abbas Kiarostami und wirkte an mehreren Omnibusfilmen mit. Am bekanntesten etwa «Ten Minutes Older: The Trumpet» von 2002, bei dem unter anderem auch Wim Wenders, Jim Jarmusch und Aki Kaurismäki mit von der Partie waren.

 

Erst 2023 überraschte der mittlerweile 82-Jährige mit einem neuen langen Spielfilm, dem fast dreistündigen Drama «Cerrar los ojos» (Die Augen schliessen). Mehr noch als in seinen ersten zwei Spielfilmen steht hier Film im Film als Mittel des Geschichtenerzählens im Zentrum. Es geht um den Schauspieler Julio, der vor 22 Jahren verschwand und dessen mysteriösen Fall die Journalistin eines Reality-TV-Kanals aufgreift. Dazu kontaktiert sie den Filmregisseur Miguel, in dessen nie vollendetem Film «La mirada del adiós» (Der Blick des Abschieds) Julio die Hauptrolle spielte. Miguel hat sich seither von der Filmszene zurückgezogen und lebt in einem kleinen Haus am Rande eines Dorfes an der Küste der Provinz Granada – in jenem Süden, den Víctor Erice in «El sur» aus Budgetgründen nicht hatte drehen können.

 

In seinem neuesten Werk, das Testament, selbstreferenzielles Mysterienspiel und sowohl Abgesang als auch Hymne an die Kraft des Kinos ist, zeigt er nun den Süden in seiner ganzen lichtdurchfluteten Schönheit. Die erwachsene Tochter des verschwundenen Schauspielers besetzt er mit Ana Torrent, dem Mädchen aus «El espíritu de la colmena». Sie war es auch, die im September 2023 am Filmfestival San Sebastián die Laudatio hielt, als Víctor Erice den Preis für sein Lebenswerk erhielt. Ort des Geschehens war das prunkvolle Teatro Victoria Eugenia – da, wo sie ein halbes Jahrhundert zuvor als Sechsjährige mit ihm und ihrer Filmschwester Isabel Tellería gestanden hatte. Ana Torrent erinnerte sich: «Journalisten fragten Víctor damals, wie er und sein Team es geschafft hätten, ein so kleines Mädchen zu führen. Und er antwortete: Nicht ich habe sie geführt, sondern sie hat uns geführt.» Nach tosendem Applaus wandte sich Ana Torrent an Víctor Erice: «Heute möchte ich dir für deine Loyalität und vor allem für deinen luziden Blick danken. Er hat den meinen geführt und mir eine Interpretation der Welt geschenkt, die mich mein ganzes Leben lang begleitet und mich auch heute noch erleuchtet.»

 

Geri Krebs, Filmjournalist mit Schwerpunkt lateinamerikanisches und spanisches Kino, schreibt für verschiedene Schweizer Medien. 2003 hatte er am San Sebastián Film Festival, wo «El espíritu de la colmena» in einer restaurierten Fassung gezeigt wurde, ein cinematografisches Erweckungserlebnis, das bis heute nachhallt.

 

Er ist eine Legende des spanischen Kinos. Kaum ein anderer Filmemacher hat mit einem so schmalen Œuvre einen vergleichbaren Einfluss auf Cineast:innen in aller Welt ausgeübt wie Víctor Erice. Nur vier abendfüllende Filme hat er geschaffen; jeder einzelne wurde als Kostbarkeit gefeiert. Schon sein Erstling galt der Kritik auf Anhieb als Geniestreich und wurde weltweit als Meilenstein des Kinos gewürdigt. Mit einer kleinen, aber umfassenden Retrospektive laden wir ein, das Werk dieses singulären Cineasten neu zu entdecken.