
Füreinander geschaffen
von Gerhard Midding
Es beginnt mit einem Kuss, der ziemlich übergriffig ist, aber als Ablenkungsmanöver in die Filmgeschichte eingehen wird. Um die Polizei zu täuschen, küsst der mordverdächtige Richard Hannay kurzerhand eine Fremde im Zug. Mit dieser Zufallsbegegnung verwandelt sich Alfred Hitchcocks Spionagethriller «The 39 Steps» jäh in eine Screwball Comedy. Denn Hannays Gegenspielerin ist smart, geistesgegenwärtig und gewinnt bald die erotische Oberhand. Die Waffe, mit der er sie in Schach hält, ist ohnehin nur eine Pfeife.
1935 entführt Hitch sein Publikum in eine Welt der Duplizität und Täuschung, wo sich echte und falsche Polizisten nicht unterscheiden lassen. Aber aus vorgespielten Gefühlen werden bald echte; die zwei unschuldig Verfolgten sind nicht nur mit Handschellen aneinandergekettet. Der jüngste Film in unserer Auswahl könnte auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein. «Drive-Away Dolls» handelt von einem queer-psychedelischen Roadtrip nach Florida. Siehe da, auch im tiefen Süden, gleich hinter dem Bible Belt, floriert eine lesbische Subkultur – die Orgie im Rotationsprinzip zu den Klängen von Blue Bayou ist jedenfalls ein köstlicher Kulturschock. Aber auch in dieser Krimikomödie entsteht dank agiler Improvisation aus einer Zwangsgemeinschaft eine freiwillige Nähe. Die Liebe wird nach vielen Turbulenzen zum Kollateralgewinn. Es gibt sogar einen MacGuffin, der Hitchcock gefallen hätte (ein mysteriöser Koffer, der überbracht werden soll), aber was 2024 aus dessen diskreten Phallussymbolen wird, muss man sehen, um es zu glauben.
Das Duett ist ein Grundimpuls des filmischen Erzählens. Es kennt Hunderte von Spielarten, aber auch wiederkehrende Muster. Ihnen allen ist gemeinsam, dass aus diesen Paarungen eine unverhoffte Dynamik entsteht. Die Kollision gegensätzlicher Lebensprinzipien kann heilsame Lernprozesse anstossen. So ist es beispielsweise in der gar nicht so platonischen Liebesgeschichte, die Hal Ashby in «Harold and Maude» erzählt. Ein 20-Jähriger mit schwieriger Mutterbeziehung, der sich in morbide Fantasien flüchtet, trifft auf eine impulsive, lebenslustige KZ-Überlebende, die bald ihren 80. Geburtstag feiert. In diesem aufgeweckten Plädoyer für Exzentrik und Unverzagtheit lernten gleich mehrere Generationen von Kinogänger:innen, wie man richtig flirtet. Auch in «Intouchables», einer der erfolgreichsten Kulturschock-Komödien überhaupt, findet ein Transfer von Vitalität statt. Ein charmanter, gewitzter Kleinkrimineller aus der Banlieue bringt frischen Wind in das Pariser Stadtpalais eines steinreichen, querschnittsgelähmten Aristokraten. Die Klassen versöhnen sich im Zeichen ansteckender Lebensfreude und der Bewältigung sozialer und physischer Handicaps.
Bei der ersten Begegnung von Don Camillo und Peppone hingegen ist es Feindschaft auf den ersten Blick. Die verbindet. Auch in Julien Duviviers Fortsetzung bleiben sie energische Kontrahenten; beim Wiedersehen reichen sie sich die Hände mit herzlichem Zögern. Man muss auch seine Gegner ehren, findet der Bürgermeister, der insgeheim schon ungeduldig auf den rauflustigen Priester gewartet hat. Wiederum ziehen sie zum Wohl der kleinstädtischen Gemeinschaft an einem Strang. Die Streithähne brachten 1953 ein Schmunzeln in den Kalten Krieg, die Hoffnung auf eine duldsame Koexistenz. Das grosse Mysterium der italienischen Nachkriegspolitik – der Umstand, dass Katholizismus und Kommunismus gleichermassen bestimmende staatsbürgerliche Leidenschaften sind – bleibt auch diesmal ungelöst. (Drei weitere Sequels trugen nicht wesentlich zur Klärung bei.) Es müssen freilich nicht immer nur die unvereinbaren Gegensätze sein, die sich anziehen.
Zwischen Jake und Elwood Blues, die sich in John Landis’ unverwüstlicher Komödie «The Blues Brothers» zusammentun, um ein Waisenhaus zu retten («Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs.»), herrscht brüderliche Eintracht. Die hinreissend verpeilten Tagediebe aus «Mandibules» von Quentin Dupieux sind auf ihre Weise aus dem gleichen Holz geschnitzt. Keiner der beiden kann Anspruch darauf erheben, das hellste Licht auf der Torte zu sein. Ihre durchgeknallte Idee, eine riesige Fliege zu dressieren, erweist sich jedoch als gar nicht so dumm. Die Heldinnen von François Ozons «Mon crime» sind ebenso unzertrennlich. Die nicht übermässig talentierte Schauspielerin Madeleine und ihre Freundin Pauline, eine ebenso erfolglose Anwältin, können schon seit Monaten ihre Miete nicht mehr zahlen. Als ein lüsterner Theaterimpresario ermordet wird, sieht Pauline ihre gemeinsame Chance gekommen: Madeleine soll ein falsches Geständnis ablegen – und die Freundin wird wortgewandt einen Freispruch erwirken. Ihr flammend feministisches Plädoyer jagt dem Staatsanwalt Kastrationsängste ein und überzeugt die Geschworenen. In Windeseile erfüllen sich nun die Träume von Filmruhm und Luxus, während die Anwältin sich vor Mandant:innen nicht retten kann. Aber das Schicksal wechselt in der munteren Farce um weibliche Selbstermächtigung mehr als einmal die Seite.
Die filmischen Duette zielen stets darauf, die Verhältnisse aus den Angeln zu heben. Das gilt auch für die erzählerischen Konventionen. Die vertraute Konstellation des Auftragsmörder-Genres etwa – der erfahrene, besonnene Partner und der junge Heisssporn – schlägt in «In Bruges» tragikomische, abgründige Volten. Den Titel «Duo infernale» trägt diese Filmreihe nicht von ungefähr. Es geht um schwefelhafte Allianzen, die zum beiderseitigen Nutzen geschmiedet werden. Die Addition bedeutet einen Zuwachs an Enthemmung und krimineller Energie. In «The Fortune Cookie», Billy Wilders Satire auf die schöne Kunst des Versicherungsbetrugs, messen erstmals die ewigen Dioskuren der Hollywoodkomödie ihre Kräfte: Jack Lemmon und Walter Matthau. Hier treffen sie als verhuschter Idealist und als ausgefuchster Winkeladvokat aufeinander. Niemand forderte Matthaus lustvoll ausgestellte Schäbigkeit und Hinterlist so funkensprühend heraus wie die neurotische Leinwandpersona Lemmons. Dabei sind sie zwei Seiten der gleichen Medaille. Beide summen gedankenverloren dasselbe Lied (You’d Be So Nice To Come Home To) und ihre Dialoge verhaken sich ständig, wenn sie einander das Wort im Mund umdrehen.
Oft treten auch die Filme in einen Dialog miteinander. So lässt sich beispielsweise über drei Jahrzehnte hinweg ein Bogen schlagen zwischen «Bonnie and Clyde» und «Bound». Beides sind Gangsterfilme, in denen es bei der ersten Begegnung vielversprechend knistert und die Liebe zu einer Verschwörung gegen die Welt wird. Anfangs liest Clyde in Bonnie wie in einem Buch; er erahnt ihre Frustration und unerfüllten Träume von Ruhm und Anerkennung. Die Gangsterbraut Violet und die Diebin Corky im Neo-Noir «Bound» durchschauen einander augenblicklich; beide sind hartgesotten und habgierig. Bei ihnen geraten sogar Klempnerarbeiten zur prickelnden erotischen Anbahnung. «I can see again!», frohlockt Corky nach ihrer ersten Liebesnacht, und fortan gehen die zwei offenen Auges einem raffinierten Schicksal entgegen.
Die ausgeklügelte Farbdramaturgie dieses Noir um Verführung, Betrug und Vertrauen spielt mit dem Prinzip der Dualität, stellt Hell und Dunkel, Weiss und Blutrot gegeneinander. Überhaupt saugen etliche Filmemacher:innen visuellen Honig aus der Zweierkonstellation. In «Out of Sight» betont Steven Soderbergh die Ähnlichkeit der beiden Kontrahent:innen – er ist Bankräuber, sie US-Marshal – indem er die Profile seiner beiden Stars George Clooney und Jennifer Lopez gleichsam spiegelbildlich komponiert. Ihr gemeinsamer Striptease wirkt wie eine narzisstische Konjunktion: Coolness im Doppelpack.
Dani Levy wiederum hebt das Motiv der Rivalität in «Die Känguru-Chroniken» gleich zu Beginn auf eine Metaebene. Bereits während des Vorspanns streiten seine zwei Protagonisten um die Deutungshoheit ihrer gemeinsamen Geschichte. Die ist allerdings auch bizarr genug. Unversehens drängt sich ein neunmalkluges Känguru in das Leben eines verschubsten Kleinkünstlers, der nie vor dem Mittag aufsteht und auch danach wenig gebacken kriegt. Die Dynamik ist eben umso grösser, wenn einer der Leinwandpartner schlaff in den Tag hineinlebt! Nur gut, dass der Störenfried ihn wahre Anarchie lehrt, denn die zwei haben ein infernalisches Pensum zu bewältigen: Sie müssen ihre Nachbarschaft vor den Plänen eines Immobilienhais und Rechtspopulisten schützen. In ihrem Kiez herrschte bislang die berühmte «Kreuzberger Mischung», die brüsk von Gentrifizierung und Abbruch bedroht ist. Während des Kampfes für ihr munter diverses Gemeinwesen müssen sie sich waffenstarrender Neo-Nazis erwehren; auch darin sind sie Seelenverwandte der verantwortungsvollen Blues Brothers. Zwei Leute sind nun einmal das kleinste Kollektiv. Erweitern lässt es sich immer, im Leben wie im Kino.
Gerhard Midding ist freier Autor und Filmjournalist für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, Filmbulletin) sowie Radio (rbb Kulturradio) und Fernsehen (3sat).