Pirouetten der Selbstdarstellung

 

von Martin Girod

 

In einem seitlichen Travelling sehen wir einen kleinen Platz mit Abgang zur Métro. Es herrscht reges Treiben in alle Richtungen, Kinder spielen, Damen führen ihre Hündchen spazieren, ein Taxi durchquert das Bild. Aus der Métro kommt ein junger Mann, er geht zielstrebig über den Platz, bleibt vor einem anderen Mann stehen und gibt ihm eine Ohrfeige. Mit dieser «lebensechten» Szene aus dem Pariser Stadtleben beginnt «La Nuit américaine». Dann ertönt die Stimme des Regisseurs François Truffaut: «Coupez!». In der nächsten Einstellung sehen wir die gleiche Szenerie leicht von oben. Diesmal kommen Schweinwerfer ins Bild und jener Kamerakran auf Rädern, mit dem das Travelling der ersten Einstellung gedreht wurde. Wir sehen den Aufnahmeleiter, das Scriptgirl, den Produzenten und den Regisseur von «Je vous présente Paméla», der da, als Film in Truffauts Film, gedreht wird.

 

Das Genre «Film im Film» bedient in erster Linie die Neugier von uns Zuschauerinnen und Zuschauern, einen Blick «hinter die Kulissen» zu werfen. Wie entstehen all die «glaubwürdigen» Filmbilder, die uns reales Leben vorspielen? Wie wird ein Film gemacht? Truffaut wechselt in «La Nuit américaine» dann gleich noch auf eine dritte Ebene: Ein Fernsehreporter versucht, die Hauptdarsteller und andere Drehbeteiligte von «Je vous présente Paméla» vor seine Kamera zu holen und sie über die Entstehung des Films berichten zu lassen. Amüsant, wie jede und jeder, vor allem die Schauspielerinnen und Schauspieler, den Film aus der jeweils eigenen Perspektive schildern, doch warnt uns Truffaut damit auch von Beginn weg, die Selbstdarstellung der Filmleute für eine wahrhaftige Schilderung der echten Filmarbeit zu halten.

 

Wie sehr Filme auf Illusion beruhen, macht Truffaut schon mit seinem Titel deutlich: Eine «nuit américaine» ist im französischen Filmjargon der Ausdruck für eine Nachtszene, die bei Tageslicht gedreht, jedoch durch eine reduzierte Blendenöffnung verdunkelt wird (die Amerikaner nennen das sachlicher «day for night»).

 

Für den Film gilt genau wie für andere Künste die berühmte Antwort Karl Valentins auf das schwärmerische «Kunst ist schön!»: «Macht aber viel Arbeit.» Jemandem beim Arbeiten zuzuschauen, bei sich wiederholenden Abläufen, das ist meist nach kurzer Zeit ermüdend. Schwer sichtbar zu machen ist der künstlerisch entscheidende Teil der Arbeit, die Kreativität, welche in die – an sich banalen – Arbeitsvorgänge einfliesst. Deswegen nimmt der wirklich schöpferische Prozess in Filmen über das Filmemachen meist einen kleinen Platz ein – genau wie in jenen über Maler, Schriftsteller oder Komponisten. Dafür ranken sich um das Kunstschaffen herum jede Menge von «human interest stories», für die das Künstlersein der Hauptfiguren nur den Hintergrund liefert.

 

Die gängigen Formen des Filmerzählens leiten sich weitgehend aus dem Naturalismus in der Literatur und auf der Bühne her. Die genaue Erfassung des «Milieus», in dem die Handlung spielt, ist in dieser Kunstauffassung ein wichtiges Element: Die äusserliche, detailgenaue Echtheit soll die innere Wahrheit des Geschilderten verbürgen. Für Filmautoren ist der Genrerahmen «Film im Film» in dieser Hinsicht naheliegend: Da sprechen sie von einer Welt, die sie mit allen Details und Eigenheiten bestens kennen.

 

Ob in «La Nuit américaine» oder in «Le Mépris» von Jean-Luc Godard: Die Story dreht sich primär um das Privatleben der Menschen, die als Darstellende, Drehbuchautoren oder Produzenten durch die Arbeit an einem Film zeitweilig zusammengeführt werden. Ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe, ihre Eitelkeit, ihre Verletzlichkeit mögen grösser oder auch nur vordergründiger sein, im Grunde sind es unsere eigenen Gefühle, denen wir vergrössert auf der Leinwand begegnen. Nur treiben es Showbusiness-Leute, wie die alternde Diva Norma Desmond in «Sunset Boulevard», gerne etwas bunter und schriller als die meisten von uns.

 

Szenen von Dreharbeiten sind in den Filmen dieses Programms auffallend selten. Gerne wird auch die Figur des Regisseurs ausgeklammert: In «The French Lieutenant’s Woman» hört man nur zu Beginn einmal die Stimme von Karel Reisz. Jean-Luc Godard versteckt sich hinter einer Hommage an den alten Fritz Lang (und spielt «bescheiden» dessen Assistenten). Billy Wilder verbeugt sich gleich doppelt: vor Cecil B. DeMille, der – wie Lang – sich selbst spielt, und vor Erich von Stroheim, der hinter der von ihm gespielten Rolle des Majordomus Max von Mayerling unschwer zu erkennen ist (zumal der einzige in «Sunset Boulevard» gezeigte Filmausschnitt aus Stroheims «Queen Kelly» stammt). Truffaut spielt zwar selbst den Regisseur des fiktiven Films «Je vous présente Paméla», doch macht er daraus eher eine Nebenrolle.

 

Ein expliziteres Werk über die Arbeit von Filmemachenden ist «Varda par Agnès», eine auf Kinofilmlänge kondensierte Masterclass mit der grossen französischen Dokumentar- und Spielfilmregisseurin. Selbst in Buster Keatons Komödie «The Cameraman» und seiner Hauptfigur des übereifrig-ungeschickten Kameramann-Lehrlings einer Wochenschau stecken – neben einer gehörigen Dosis Selbstironie – tiefere Wahrheiten über das eigene Metier und über Keatons Situation im Studiobetrieb von Metro-Goldwyn-Mayer.

 

Das bedeutet keineswegs, dass man in den anderen Titeln nicht ebenfalls aufschlussreiche Reflexionen über die Kunst des Filmemachens finden könnte. In Filmen über die Theaterwelt treten indirekte Selbstzeugnisse der Filmautoren oft deutlich zu Tage – die Verlagerung in die andere Kunstform genügt offenbar als Camouflage –, während im «Film im Film» die Filmemacher die selbstreflexiven Momente meist besser verstecken. Sie aufzuspüren und zu verstehen macht einen der Reize dieses Genres aus.

 

Am subtilsten gehen Karel Reisz und sein Drehbuchautor Harold Pinter in «The French Lieutenant‘s Woman» vor. Die einzige Film-im-Film-Drehszene läuft fast nebenbei unter den Vorspanntiteln ab, alle anderen Szenen der Gegenwartsebene spielen sich unter den Filmleuten am Rande des Drehs oder in ihrem Privatleben ab. Hauptstrang der Erzählung ist jedoch der Film im Film, eine durch Kostümierung und Maske deutlich abgehobene «unmögliche» Liebesgeschichte im viktorianischen England. Auf der Gegenwartsebene gehen die Darstellenden der beiden Hauptrollen ebenfalls eine Liebesbeziehung ein. Die Verdoppelung der Figuren und der Liebesgeschichte lassen uns Entwicklung und Konstanten in den Geschlechterbeziehungen von damals und heute erkennen. Sie laden zugleich ein zum Vergleich der vertraut alltäglichen, «natürlich» scheinenden Gegenwartsstory mit der (betont) «fiktiven» Ebene des Kostümdramas. Und damit fordern sie uns zum Nachdenken über das Wesen filmischer Darstellung auf: Hängt der Realitätsgehalt wirklich von der Unmittelbarkeit der Realitätsillusion ab – oder ist er in der distanzierenden Künstlichkeit möglicherweise ebenso gross?

 

Martin Girod war 1977 Mitbegründer und bis 1988 Leiter der Basler Kinos Camera und Atelier. Von 1988 bis 1993 war er Redaktor des Branchenblatts Ciné-Bulletin, von 1993 bis 2005 Co-Leiter des Filmpodiums der Stadt Zürich. Seit seiner Pensionierung ist er als freier Filmjournalist und Programmkurator tätig.

 

Mit «Film im Film» feiern wir das Kino und seine Magie. Filmemacherinnen und Filmemacher quer durch die Filmgeschichte reflektieren ihr Metier mit Leidenschaft, Humor und einer Prise Selbstkritik, fernab aller trockenen Theorie. Alles, was das Kino ausmacht, die grossen Stars und die grossen Gefühle, lassen wir Revue passieren mit Buster Keatons «The Cameraman», Billy Wilders «Sunset Boulevard», «La Nuit américaine» und «The French Lieutenant’s Woman». Mit Jean-Luc Godards «Le Mépris» erinnern wir zugleich an Michel Piccoli, mit «Varda par Agnès» an die wunderbare Agnès Varda.