Den Jura entfalten

 

von Emilien Gür und David Wegmüller

 

Weniger ikonisch als die Alpen und genau deshalb interessant fürs Kino: Das Jura-Gebirge zieht Filmschaffende magisch an, wenn sie nach einer urtümlichen Landschaft suchen. Das Kinok zeigt zehn Werke aus neun Jahrzehnten, in denen der sanfte Hügelzug als Protagonist auftritt – in den verschiedensten Rollen.

 

Von Baselland über die Neuenburger Täler bis weit nach Frankreich erstreckt sich der Jurabogen. Klusen, Tannenwälder, unterirdische Seen und sibirische Winter prägen diesen Landstrich. Mouthe und La Brévine sind die kältesten Orte Frankreichs respektive der Schweiz. Und quer durch das französisch-schweizerische Grenzgebiet schlängelt sich der Doubs, ein Fluss, der 453 Kilometer lang ist, dessen Quelle und Mündung aber nur 90 Kilometer auseinanderliegen. Hier hinterliess der Ski- und Klippenspringer Armand Girard, der aus Le Locle stammte, in «Plongeons» (1936) ein frühes Zeugnis an jurassischen Sommer- und Winterbildern auf 35 mm-Film. Es sind Aufnahmen eines Felsens, der steil in den Lac des Brenets abfällt. Der Mensch, in diesem Fall Girard, wird herausgefordert von der aufgefalteten Gesteinsformation. Überlebt er den Sprung aus über vierzig Metern ins Wasser, ist ihm der neue Weltrekord sicher. Aber er könnte auch scheitern.

 

Die Retrospektive zeigt verschiedene Rollen, die der Jura auf der Leinwand spielt: Westernkulisse, Tatort, Sehnsuchtsort. Doch was ist er für ein Charakter, wie wird er gecastet? Aus geologischer Sicht ist der Jura ein junger Schauspieler – er ist erst 200 Millionen Jahre alt. Geformt wurde er, weil sich ein Meer zurückzog und sich der salzige Untergrund von zwei Seiten her zusammenschob. Das französische Erziehungsdepartement liess 1946 einen kurzen Lehrfilm über seine Biografie herstellen, «Le Jura – Vignoble, plateaux, plis». Hier erfahren wir, dass die für den Jura typischen Falten – ähnlich wie beim Menschen – Ausdruck einer spezifischen Lebensgeschichte sind. Diese ist auch im Fall des Jura nicht ohne Brüche verlaufen. Davon zeugt etwa der Creux du Van, ein Krater von vier Kilometern Umfang und der vielleicht bekannteste Drehort der Region. Von einer gebrochenen Landschaft kann man beim Jura aber nicht sprechen. Viel eher verkörpert er eine offene, mitspielende Landschaft.

 

So geschmeidig der Hügelzug, so leidenschaftlich sind die Verbrechen, die sich darin abspielen. Mit Vergnügen empfängt der Jura Geschichten über die verschiedensten Formen von Kriminalität. Seine Landschaften haben das Potenzial für Stoffe im Stil von «Fargo» oder «Twin Peaks». Sie sind weitläufig, dünn besiedelt und schneesicher – mitunter ein pragmatisches Argument für die Wahl dieses Drehorts. Drei Filme im Programm inszenieren den Jura als Tatort. Zuerst «Pas douce» (2007) der Baslerin Jeanne Waltz mit einer Krankenschwester als Scharfschützin im Neuenburger Jura. Die Schauspielerin Isild Le Besco verkörpert eine innerlich zerrissene junge Frau, die sich erst durch physische Gewalt wieder spüren kann. Im Vergleich dazu ist «Les Granges brûlées» (1973, Regie: Jean Chapot) ein fast schon klassischer Krimi mit Simone Signoret, Alain Delon und den einfachen Zutaten: Leiche, schlaue Bäuerin, Kommissar. Neben der jurassischen Landschaft ist hier auch die Musik von Jean-Michel Jarre eine wichtige Protagonistin. «No Man’s Land» (1985, Regie: Alain Tanner) schliesslich ist eine klassische Schmugglergeschichte. Die grüne Grenze verläuft unübersichtlich durch den Jura und selbst die bemannten Zollposten stellen für Ortskundige kein allzu grosses Hindernis dar. Die Hauptrolle im Film spielt das Niemandsland zwischen Pontarlier (FR) und Sainte-Croix (CH), wo einst die französische Bourbaki-Armee in die Schweiz einbrach. Vier junge Menschen versuchen mit krummen Touren ihre Gehälter aufzubessern. Triebfeder ist aber nicht die kriminelle Energie, sondern die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Jean, Mali, Paul und Madeleine träumen von Kanada und von Paris – doch würden sie das moderne Leben dem jurassischen Alltag wirklich vorziehen? Jean kommen Zweifel: «Ich liebe die Ruhe der Tannen, den Schnee, das Grüne, die Tiere. Ich habe keine Angst vor dem Land und den Tieren. Ich habe mehr Angst vor den Menschen.» Obwohl die nebelverhangenen Wiesen mystisch anmuten, geht es Tanner weniger um Naturromantik als um Gesellschaftskritik. Und so erscheint im Zeitalter der globalen Ökonomisierung das bisschen Schmuggel im Jura fast schon sympathisch.

 

Wer ins jurassische Plateau hineinfährt, kann sich glücklich schätzen, eine Autopanne zu haben. Ein Pariser Architekt erlebt dies im Film «Passe montagne» (1978), wo er vom Jura wundersam empfangen, vielleicht sogar gerettet wird. Regie führte der französische Schauspieler Jean-François Stévenin, der in der Gegend lebte und in dessen Augen der Jura eine Westernkulisse war. Ein stimmiges Bild, wenn man bedenkt, wie oft Pferde, einsame Helden oder mächtige Frauen dieses filmische Terrain bevölkern. Insbesondere die Freiberge zeigen Merkmale einer Prärie: kaum Erhebungen und viel Weideland, sogar Büffel grasen hier. Wer in diese Landschaft blickt, verspürt «Erleichterung» – vom harten Leben oder von einem wilden Herzen, wie Rose-Hélène im ersten Langfilm «L’Allégement» (1983) von Marcel Schüpbach. Der Schweizer Regisseur hatte sich nach der Lektüre des gleichnamigen Romans entschlossen, den Stoff des jurassischen Autors Jean-Pierre Monnier zu verfilmen. Im Zentrum steht das Begehren einer jungen Frau, das in hoch ästhetische und erotisierte Landschaftsbilder übersetzt wird. Unkontrollierbare Gefühle finden ihren Gegenpol in einer ruhigen, fast unberührten Natur. Schüpbachs Debütfilm, in dem auch Anne-Marie Blanc mitspielt, erhielt den Grossen Preis der Jugendjury am Filmfestival Locarno und eine Nominierung für die Césars, die französischen Filmpreise. Für die Hauptdarstellerin Anne Caudry, damals ein aufstrebender Filmstar in Frankreich, war es die letzte Kinorolle. Sie starb wenig später mit erst 36 Jahren.

 

«Nur in der Schweiz gibt es diese Mischung aus wilder Natur und Geschäftstreiben», schrieb Jean-Jacques Rousseau in sein Heft des einsamen Spaziergängers (Les Rêveries du promeneur solitaire). Auf dem Chasseron im Waadtländer Jura sinniert er über die guten Geschäfte, die selbst in ländlichen Regionen gemacht würden. Doch mit welchen Folgen für die Seele der Menschen? Der Aufstieg und Fall der Präzisionsindustrie (z.B. Uhren), aber auch derjenige der Schwerindustrie hat die Gesichtszüge des Jura im letzten Jahrhundert verändert und in seinem Wesen Melancholie hinterlassen. Greg Zglinskis Spielfilm «Tout un hiver sans feu» (Schweizer Filmpreis 2004) kombiniert die «klassischen» Winterszenerien des Vallée de la Brévine mit den urbanisierten Landschaften der Gegend, z.B. der Stadt La-Chaux-de-Fonds. Sein Drama erzählt die Geschichte eines Paares, das nach einem Hausbrand in materielle und psychische Schwierigkeiten gerät. Am Drehort Choindez, einer Schlucht bei Moutier, fühlt man sich an Rousseaus Vision erinnert. Die ehemalige Stahlgiesserei der Von Roll AG wird zum Schauplatz einer menschlichen Renaissance, während die Fabrik selbst als Relikt einer postindustriellen Landschaft zurückbleibt.

 

Wann bleibt eine Landschaft Kulisse, wann wird sie Teil einer Biografie? Eine Antwort gibt der vielleicht subversivste Film im Programm – «Un autre homme» (2009) von Lionel Baier. Er spielt im Vallée de Joux, wo sich der Journalist François mit der Lehrerin Christine ein (fast) bürgerliches Leben eingerichtet hat. Das Klischee vom Jura als Rückzugsort, in dem Städter:innen vom Genfersee zur Ruhe kommen, wird in dieser Komödie genüsslich seziert. Die Filmkritikerin Rosa Rouge treibt François in eine perverse Beziehung, das idealisierte Landleben verwandelt sich in ein anstrengendes Doppelleben. Alternative Lebensformen – polyamouröse, ökologisch motivierte oder wirtschaftlich bedingte – sie waren und sind in den Spielfilmen mit Drehort Jura eine Konstante. Die Folgen eines solchen Experiments sind für den kleinen Jim, der in der Umgebung von Sainte-Claude (FR) aufwächst, noch nicht absehbar. Seine Mutter (Lætitia Dosch) versucht bei Jims Erziehung ein Familienmodell, in dem zwei Männer gleichzeitig die Vaterrolle übernehmen. «Le Roman de Jim» (2024) der Brüder Larrieu wurde im Mai 2024 in Cannes gezeigt und ist im Kinok als Deutschschweizer Kinopremiere zu sehen. Fast 90 Jahre nach dem Klippenspringer Girard, der seinen gestählten Körper vom Sprungbrett warf, beschwört nun Jim sein Schicksal in umgekehrter Richtung. Auf einer Kletterpartie in den Hügeln des französischen Jura stellt er einen seiner Väter zur Rede. Es wird ein abgründiges Unterfangen für alle Beteiligten.

 

Emilien Gür und David Wegmüller sind Teil der Auswahlkommission der Solothurner Filmtage. Gemeinsam haben sie die grosse Retrospektive «Imaginaires du Jura» kuratiert, die dort dieses Jahr zu sehen war.

 

Das Grenzland des Jura hat seit jeher Filmschaffende in seinen Bann gezogen. Ein wenig vergessen, sich selbst überlassen und doch von eigenwilliger Schönheit, tickt die Gegend anders als der Rest der Schweiz. Die Solothurner Filmtage widmeten ihr 2025 eine Retrospektive, aus der wir eine Auswahl zeigen. So kontrastreich sich der Jura zwischen der Schweiz und Frankreich präsentiert, so gegensätzlich sind die acht Filme unseres Programms. Der Landstrich voller Geheimnisse ist Schauplatz für Kriminalfilme, Western und Liebesdramen. Immer ist die Landschaft die eigentliche Hauptdarstellerin und verweist selbst Stars in die zweite Reihe.