Der Süden lockt und lässt erschaudern!

Italienische Filmkultur zwischen Programm- und Postkino

 

Von Daniel Winkler

 

Das italienische Kino hat in den letzten Jahren dank einer einerseits regional sehr vielfältigen Filmkultur, andererseits aber auch aufgrund einer zunehmenden transnationalen und transmedialen Aktivität italienischer Regisseure eine neue Strahlkraft erfahren. Paradigmatisch können dafür Filmschaffende wie Marco Tullio Giordana und Giuseppe M. Gaudino, Gianni Amelio und Paolo Sorrentino stehen, deren neues italienisches Kino über Programmkinos und Festivals, aber auch das Fernsehen in die europäischen Nachbarländer gelangt, mitunter aber auch über das Mittelmeer und bis nach Hollywood ausstrahlt.

 

Marco Tullio Giordana (*1950 in Mailand), spätestens seit «I cento passi» (2000) und «La meglio gioventù» (2003) als eine Art melodramatischer Chronist – u.a. der Geschichte von institutioneller Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen und von kriminell-mafiösen und terroristischen Bewegungen – eng mit der politischen Kultur Italiens verbunden, hat zuletzt mit «Lea» (2015) einen beeindruckend intimen Film vorgelegt, der auf einer verbürgten Figur aufbaut. Als Produktion mit dem Fernsehsender Rai 1 entstanden, steht hier mit Lea Garofalo eine couragierte Frau aus Kalabrien im Mittelpunkt, die sich ihrem Dorf und Ehemann entgegenstellt, die tief in die Machenschaften der ’Ndrangheta involviert sind. Auf klassische Gewaltszenen rund um rivalisierende mafiöse Clans verzichtet der Film zugunsten einer straffen Form, die nur am Ende durch einige dokumentarische Bilder aufgebrochen wird. Giordana zeigt so ein psychologisches Familiendrama rund um Lea und deren Tochter Denise, die eine neue Identität annehmen und von Ort zu Ort ziehen müssen, als sich die Mutter entschliesst, als Kronzeugin gegen die ’Ndrangheta auszusagen. Am Ende wird es die Tochter sein, die anstelle ihrer im Auftrag ihres Ehemannes ermordeten Mutter mit letzter Kraft einen Musterprozess durchsteht.

 

Giuseppe M. Gaudinos (*1957 in Pozzuoli) im selben Jahr herausgekommener «Per amor vostro» macht eine ganz andere Linie des aktuellen italienischen Kinos stark. Der Regisseur, der bisher vor allem als Ausstatter für andere Regisseure bzw. als Autor von Dokumentarfilmen und kürzeren Produktionen hervorgetreten war, legt mit dem genannten Film erst seinen zweiten Langfilm vor. Während der in Pozzuoli bei Neapel angesiedelte «Giro di lune tra terra e mare» (1997) relativ wenig Beachtung gefunden hat, wird die italienisch-französische Koproduktion «Per amor vostro» 2015 an den Internationalen Filmfestspielen von Venedig für die beste Darstellerin, Valeria Golino, ausgezeichnet. Die neapolitanische Schauspielerin verkörpert in seinem Film Anna Ruotolo, die mit drei Kindern und einem brutalen Ehemann, der immer mehr in die Kriminalität abdriftet, ein gewöhnliches Familienleben führt. Doch spätestens als Anna aushilfsweise bei einer TV-Produktion zu arbeiten beginnt und sich in den Hauptdarsteller einer Soap verliebt, vermischen sich zunehmend Alltag und Kunstwelt. Gaudino entfaltet so ein ästhetisch schillerndes Universum rund um die mitunter naiv, mitunter aber auch komödiantisch wirkende Protagonistin, in dem sich schwarz-weisse und farbige Bilder abwechseln und die sinnlich-barocken Bilderwelten Neapels beschworen werden, die Teil von Annas Alltag werden.

 

Gianni Amelio (*1945 in Magisano), seit den 1970er-Jahren einer der international bekanntesten, aktivsten, politischsten und vielfältigsten italienischen Regisseure, hat seine Laufbahn u.a. mit einigen Dokumentarfilmen für das staatliche Fernsehen Rai begonnen. Seinen Durchbruch erzielte er mit der mit Gian Maria Volonté prominent besetzten Leonardo-Sciascia-Verfilmung «Porte aperte» (1990) sowie den mit Enrico Lo Verso gedrehten, zwischen Mailand und Kalabrien, Sizilien und Albanien angesiedelten melodramatischen Roadmovies «Il ladro di bambini» (1992) und «Lamerica» (1994), beides Koproduktionen mit Frankreich und der Schweiz. Nach einigen weiteren in Europa, aber auch in China («La stella che non c’è», 2006) verorteten Spiel- und Dokumentarfilmen, die sich mit Fragen der Globalisierung, Migration und Homosexualität auseinandersetzen, hat er sich zuletzt intimeren Erzählungen rund um alternde Männerfiguren zugewandt. Dazu zählen vor allem die Komödie «L’intrepido» (2013), in der Antonio Albanese einen unverzagt optimistischen und altruistischen Anti-Helden in Mailand gibt, sowie der dieses Jahr auf dem Programm stehende, in Neapel angesiedelte Film «La tenerezza» (2017) mit Giovanna Mezzogiorno und Micaela Ramazzotti, der ebenfalls eine einsame Männerfigur ins Zentrum rückt, den missmutigen, pensionierten Rechtsanwalt Lorenzo (Renato Carpentieri), der erst nach und nach ein neues, spätes Glück findet.

 

Paolo Sorrentino (*1970 in Neapel) steht demgegenüber paradigmatisch für eine neue Generation von Filmemachern, die wie Amelio weit über Italien ausstrahlt. Mit ihm assoziiert man seinen Oscar-Erfolg, die italienisch-französische Koproduktion «La grande bellezza» (2013) mit Toni Servillo, die den Filmort Rom nostalgisch wie satirisch zelebriert. Sorrentino, der der neapolitanischen Film- und Literaturszene entstammt, ist aber darüber hinaus Symbol für eine Erneuerung und Öffnung des italienischen Kinos aus der Kraft des Regionalen. Dafür steht schon die mit Sean Penn besetzte und auf Englisch gedrehte italienisch-französisch-irische Koproduktion «This Must Be the Place» (2011), die den vor rund 20 Jahren aus der Spur geratenen Rockstar Cheyenne ins Zentrum rückt, der sich per Schiff in die USA begibt, als er erfährt, dass sein Vater im Sterben liegt. Sorrentinos «Youth» (2015) reiht sich in diese Linie ein, auch wenn der Film mit einem 12-Millionen-Dollar-Budget, vier Koproduktionsländern (Italien, Frankreich, die Schweiz und Grossbritannien) und den Filmstars Michael Caine, Harvey Keitel, Rachel Weisz und Jane Fonda aufwartet. Ebenfalls auf Englisch gedreht, ist der Film in den Schweizer Alpen angesiedelt, wo er in den legendären, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Hotels Waldhaus in Flims und Schatzalp in Davos zwei alte Männer um die 80 aufeinandertreffen lässt: den melancholischen britischen Ex-Komponisten und -Dirigenten Fred Ballinger (Caine) und den amerikanischen Filmregisseur Mick Boyle (Keitel), der seine Karriere und Jugendambitionen nicht rechtzeitig zu beenden weiss. Auch wenn Setting und Besetzung unterschiedlich weit über Italien hinausführen, so ist beiden Filmen gemein, dass sie auf Basis einer realistischen Handlung rund um alternde und einsame Figuren mal in barock-sinnliche, mal in abgründig-nekrophile, surreal-groteske Szenen führen, die – siehe Gaudinos «Per amor vostro» – längst ein Markenzeichen der neapolitanischen Filmszene sind.

 

Sorrentinos filmische Kreativität und Erfolg machen deutlich, dass es auf Produktions- wie Rezeptionsseite zunehmend schwer ist, von einem italienischen Kino im Sinn eines klar abgrenzbaren Nationalkinos zu sprechen. Dies hat natürlich auch damit zu tun, dass die Filmbranche in Italien mit schwierigeren strukturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen zu kämpfen hat, nicht zuletzt in Bezug auf den Vertrieb des Autorenkinos, als das etwa in grösseren Sprachgemeinschaften und filmpolitisch besser aufgestellten Ländern wie Frankreich der Fall ist. Italienische Regisseure, die die Möglichkeit haben, setzen so oftmals auf Frankreich oder die USA als kinematografische Aktionsfelder oder aber gleich in Form von Fernsehserien auf das global verzahnte Privatfernsehen – Schlagwort Postkino – als ökonomisch nachhaltigeren Kooperationspartner. Sorrentino hat diesen Weg jüngst mit seiner TV-Serie «The Young Pope» (2016 bis heute) rund um den ersten italo-amerikanischen, d.h. vor allem jungen, attraktiven und legeren Papst Pius XIII. (Jude Law) eingeschlagen. Diese hollywoodianische Figur scheint in den zehn Folgen der ersten Staffel von Papstsekretär Georg Gänswein inspiriert zu sein, der immer wieder als George Clooney des Vatikans betitelt worden ist. Sorrentino ist aber mit dieser u.a. von Sky Atlantic, HBO und Canal+ produzierten und europäisch-amerikanisch besetzten Serie bei Weitem nicht der einzige fernsehaffine italienische Kinoregisseur. Matteo Garrones (*1968 in Rom) Erfolgsfilm «Gomorra» (2008) rund um den neapolitanischen Savastano-Clan hat bereits kurz zuvor an der Schnittstelle von Thriller und Mafiafilm «Gomorra – La serie» (2014 bis heute) inspiriert, allerdings im klassischen TV-Stil rund um ein grösseres Team von Drehbuchautorinnen und ‑autoren und Filmschaffenden, dem u.a. die bekannte Dokumentar- und Spielfilmregisseurin Francesca Comencini angehört. Die dritte Staffel ist bereits für November 2017 auf Sky Atlantic angekündigt.

 

Das Mafiagenre ist und bleibt wohl das international populärste und am besten vermarktbare Format aus Italien. Das macht nicht nur die genannte, ästhetisch durchaus innovative Serie deutlich, sondern auch die zehn Staffeln von «La piovra» (1984–2001), auf Deutsch «Allein gegen die Mafia», mit Michele Placido, des weiteren die Serie «Romanzo criminale» (2008–2010) – diesmal von Placido und seinem gleichnamigen Film von 2005 mitverantwortet – und aktuell Stefano Sollimas Kinofilm «Suburra» (2015), der römische Affären zwischen Politik, Vatikan und Mafia, Bauindustrie und Prostitutionsmilieu ausgehend vom maritimen Vorort Ostia entfaltet, wie schon bei «Romanzo criminale» auf Basis eines Romans von Giancarlo De Cataldo. Auch dieser Film ist inzwischen unter Mitwirkung von Placido serienreif: Die gleichnamige, an Gewalt, Korruption und Prostitution reiche Serie wurde vor wenigen Wochen als Koproduktion von Cattleya, Rai und Netflix bei den Filmfestspielen von Venedig präsentiert.

 

Bei soviel Drastik gerät zumindest in der medialen Öffentlichkeit manchmal das reiche Autorenfilmschaffen Italiens mit seiner Vielfalt an Themen, Schauplätzen und Genres ins Hintertreffen. Die jährliche Kinok-Reihe Cinema Italiano bietet auch im November 2017 ausreichend Gelegenheit, dem im Kino entgegenzuwirken.

 

Daniel Winkler, Ass.-Prof. am Institut für Romanistik der Universität Wien, ist Ko-Herausgeber von «Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart» (Stauffenburg), Autor von «Marseille! Eine Metropole im filmischen Blick» (Schüren, 22013) sowie Mitherausgeber zweier Bände zum italienischen Kino: «Nuovo Cinema Italia. Der italienische Film meldet sich zurück» (Böhlau, 2010) und «The Cinemas of Italian Migration. European and Transatlantic Narratives» (Cambridge Scholars Publishing, 2013).

 

Wie bereits in den letzten Jahren steht im November das Filmschaffen unseres südlichen Nachbarlandes im Zentrum unseres Interesses. Seit einigen Jahren strahlt das italienische Kino dank seiner internationalen Erfolge weit über Italien hinaus. Namen wie Paolo Sorrentino, Gianni Amelio, Matteo Garrone und Marco Tullio Giordana stehen für die gelungene Erneuerung des italienischen Kinos, die sich in einer Vielzahl von Preisen, Einladungen an die grossen Festivals und begeisterten Kritiken niederschlägt. Die fünf Filme des diesjährigen Programms zeugen von der Bandbreite und der Vitalität des italienischen Kinos.