
Lichte Ballons in dunklen Zeiten – Japan im Spiegel seiner Filmklassiker
von Regula König
Mit seinem rigiden Formbewusstsein und seiner einzigartigen Ästhetik bereichert das japanische Filmschaffen bis heute das Weltkino. Dies belegt eindrücklich die umfangreiche Retrospektive, die in Zusammenarbeit mit der Schweizerisch-Japanischen Gesellschaft und The Japan Foundation aus Anlass von 150 Jahren diplomatischer Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz als Japanisches Filmfestival durch sieben Schweizer Städte tourt. Mit raren Kopien japanischer Meister wie Akira Kurosawa, Yasujirô Ozu oder Kenji Mizoguchi bietet die Filmreihe die einmalige Gelegenheit, Filmklassiker aus den letzten 70 Jahren im Original zu sehen – und ist gleichzeitig ein faszinierender Spiegel japanischer Zeit- und Kulturgeschichte. Das Kinok präsentiert im Mai und Juni ausgesuchte Werke aus dem Festivalprogramm.
Japan hat in den letzten 150 Jahren verschiedene Phasen kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen dramatischen Ausmasses durchlaufen. Seit der Öffnung des Landes 1868 erlebte es eine rapide, alle Lebensbereiche umfassende erste Modernisierung und entwickelte sich binnen weniger Jahrzehnte von einem isolierten Feudalstaat zu einer industrialisierten, urbanisierten und «verwestlichten» Kolonialmacht. Der Zweite Weltkrieg liess traditionelle nationalistische Werte und andere Ideologien lebendig werden. Der Krieg endete abrupt mit der Niederlage und einer Deklaration des Kaisers, dass er kein Gott, sondern ein normales menschliches Wesen sei. Die amerikanische Besatzung förderte Demokratie, Individualität und Emanzipation. Es war eine Zeit geprägt von enormer Härte, Armut und Aufopferung, in der das Land wieder auf ein selbständiges, lebensfähiges Niveau gebracht werden sollte. Die Okkupation endete 1952. In den 60er-Jahren erlebte Japan ein phänomenales wirtschaftliches Wachstum und sieht sich seit den 80er-Jahren in der globalen Vernetzung mit politischen Skandalen, Finanz- und Bankenkrisen konfrontiert.
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der japanische Film, erlebte in den wilden 20er- und 30er-Jahren eine aufregende und äusserst innovative Zeit, die als erste Hochblüte in die japanische Filmgeschichte einging. Junge Regisseure absorbierten mit Begeisterung Filme aus dem Westen, liessen sich inspirieren und experimentierten mit neuen Techniken, um ihren persönlichen Stil zu finden. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs war fatal. 1939 erliess das Militärregime ein Gesetz, um die gesamte Filmindustrie unter Kontrolle zu bringen und sie für propagandistische Zwecke zu nutzen. Linke Tendenzfilme wurden ebenso verboten wie Filme, die westliche Ideale von Demokratie oder Individualismus vertraten. Historiendramen entkamen der Zensur etwas leichter, enthielten mitunter sogar sozialkritische Botschaften. Letztlich blieb den Regisseuren keine andere Wahl, als zu schweigen oder Filme mit patriotischen Untertönen zu realisieren. Nach der Kapitulation erholte sich die japanische Filmindustrie rasch. Allerdings mussten ihre Filme nun von der Zensurbehörde der alliierten Besatzungsmacht genehmigt werden. In den 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre erlebte der japanische Film seine zweite Hochblüte. Ausserdem zeichnete sich eine neue Generation von Filmemachern ab, die sich gegen das «Cinéma de Papa» auflehnten und unter dem Namen «Nuberu Bâgu» (Nouvelle Vague) unabhängige Produktionen realisierten. Die Filmreihe im Kinok wirft am Beispiel einiger Klassiker von Sadao Yamanaka, Akira Kurosawa, Yasujirô Ozu und Kenji Mizoguchi aus der turbulenten Vor- und Nachkriegsphase Schlaglichter auf das japanische Kino.
Sadao Yamanaka
Als Sadao Yamanaka 1937 «Ninjô kami fûsen» (Humanity and Paper Balloons) drehte, befand sich Japan in einer tiefen Depression. Das Militärregime hatte die Macht übernommen, und der Krieg mit China begann. Wie alle Filme von Yamanaka ist «Ninjô kami fûsen» ein «jidaigeki» (Historiendrama), unterscheidet sich aber von den damals gängigen Historienfilmen. Die Stoffe wurden vorwiegend der feudalistischen Edozeit (1603–1868) entnommen, mit willensstarken, kampferprobten Samurai als Helden, die ihre Gegner in flamboyanten Schwertduellen bezwingen. Auch Yamanaka drehte anfänglich leichte Unterhaltungsfilme wie die irrwitzige Komödie «Tange Sazen yowa: Hyakuman ryô no tsubo» (Tange Sazen and the Pot Worth a Million Ryo) (1935). «Ninjô kami fûsen» fehlt diese Leichtigkeit – er ist dunkel und pessimistisch. Der 1909 geborene Regisseur und Drehbuchautor porträtiert aus humanistischer Sichtweise äusserst realistisch das Leben von Händlern, Gangstern, Glückspielern und herrenlosen Samurai in den engen Gässchen eines armen Wohnviertels in der Edozeit. Yamanaka zeigt den Kollaps eines rigiden, hierarchischen Klassensystems und verzichtet dabei auf übliche Klischees des damaligen Historienfilms. Das letzte Bild des treibenden Papierballons, der in der Wasserrinne landet, deutet auf die fragile Existenz der Menschen hin, die – von rauen Winden gebeutelt – letztlich in der Gosse landen. Eine Allegorie auf das militaristische Vorkriegsjapan? Yamanaka wurde am Tag der Premiere seines Films eingezogen. Kurze Zeit später starb er an der Front in China. Er war 29 Jahre alt. «Ninjô» (Menschlichkeit) ist so fragil wie luftig-leichte Papierballons.
Akira Kurosawa
Nach der Kapitulation Japans 1945 stellte die alliierte Besatzungsmacht neue Richtlinien auf. Sie drängte zu Aufklärungsfilmen über Demokratie, Gleichberechtigung der Frauen und Individualismus. Tabu waren unter anderem Patriotismus, feudalistisches Gedankengut, das Thema Atombombe oder Kritik an der Besatzung. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Nachkriegsfilme diese neuen Veränderungen reflektierten, so etwa «Yoidore tenshi» (Drunken Angel) von Akira Kurosawa (1948). Zu Beginn des Films sehen wir einen Sumpf, dessen Oberfläche die Lichter der Stadt reflektiert. Dieser Sumpf ist ein zentrales Element des Films, ein Symbol für das soziale und moralische Chaos im Nachkriegsjapan, Metapher einer kranken Gesellschaft. Überhaupt ist Krankheit ein Thema, das viele Nachkriegsfilme Kurosawas durchzieht. In «Drunken Angel» wird Sanada wie viele Helden bei Kurosawa mit Ungerechtigkeit und korrupten, sozialen Strukturen konfrontiert, gegen die er anrennt, selbst wenn sich dieser Kampf am Ende als sinnlos herausstellen sollte. Kurosawas Helden sind einsame Idealisten, moralisch integer und stur.
Yasujirô Ozu
Nach einer kreativen Experimentierphase während der Stummfilmzeit fand Yasujirô Ozu bereits vor dem Krieg seine eigene, unverkennbare Filmsprache: eine ungewöhnlich tief positionierte, starre Kamera, Ellipsen, feingliedrige Découpage, die wir auch bei Naruse, Shimizu und anderen Regisseuren des Shochiku-Studios finden. Ozus Stil ist asketisch, reduziert. Als Kenner und Liebhaber des Hollywoodfilms war er bestens mit den Regeln des konventionellen Hollywoodkinos vertraut. Doch diese Regeln waren dazu da, sie zu übertreten. In «Banshun» (Late Spring) (1949) spielte er anhand der Beziehung zwischen Vater und Tochter mit dieser Grammatik und der Wahrnehmung des Zuschauers und brach die konventionelle Erzähltechnik auf. Sein Film nimmt in Bezug auf Ehe und Familie eine liberale Haltung ein, was mit den sich ändernden Familienstrukturen jener Zeit zusammenhängt, möglicherweise auch mit dem Klima der Okkupationszeit (neues Ehegesetz). Das Thema einer traditionell arrangierten Heirat wäre von der amerikanischen Zensurbehörde, die sich manchmal geradezu paranoid verhielt, zweifelsohne abgelehnt worden. «Banshun» besteht zwar aus einer zentralen Handlung, die jedoch in den Hintergrund tritt, weil sich der Zuschauer in einem Labyrinth zahlreicher Episoden aus dem Alltag verliert. Ozu empfand die Welt als chaotisch, und es widerstrebte ihm, Bildfragmente in eine zusammenhängende Geschichte zu pressen, wodurch die Bedeutungsvielfalt verloren gegangen wäre.
Kenji Mizoguchi
Kenji Mizoguchi hat sich zeitlebens für aktuelle Themen wie das Leiden und die Emanzipation der Frauen interessiert. Er liebte aber auch tragische Schicksale aus Romanen der Feudalzeit. «Chikamatsu monogatari» (A Story from Chikamatsu) (1954) zelebriert eine solche Liebe und zeichnet sich durch Mizoguchis extrem lange Einstellungen aus, durch bravouröse Inszenierung der psychologischen Tiefe seiner Figuren und Rückgriffe auf traditionelle japanische Ästhetik. Für seine Historienfilme setzte Mizoguchi das System des «emakimono» (Erzählungen in Rollbildern) filmisch um. Den Effekt des «Entrollens» erzielte er durch einen Linksschwenk der Kamera und Bildkompositionen, die über den Rahmen hinauslaufen. Auch die Vogelperspektive, typisches Merkmal für jene Malerei, wandte Mizoguchi in manchen Historiendramen an. Der Blick von oben vermittelt dabei ein Gefühl von Vergänglichkeit menschlichen Daseins. Diese Perspektive verwendet Mizoguchi manchmal auch, indem er das Dach eines Hauses wie im «emakimono» abhebt, um das Geschehen im Inneren des Hauses zu filmen. Die Beschaffenheit japanischer Häuser ermöglicht es, sich mit der Kamera frei zwischen Innen- und Aussenraum zu bewegen und die Figuren bis in die Tiefe hinein zu inszenieren. Die Verantwortung für diese grandiose Umsetzung, die Verbindung von Realismus und traditioneller Ästhetik liegt jedoch nicht allein bei Mizoguchi. Massgeblich war sein Kameramann Kazuo Miyagawa daran beteiligt, der nicht nur mit Mizoguchi häufig zusammenarbeitete, sondern auch mit Kurosawa («Rashômon») und vielen anderen.
«If the American film is strongest in action, and if the European is strongest in character, then the Japanese film is richest in mood or atmosphere, in presenting people in their own context, characters in their own surroundings», schrieb der amerikanische Journalist, Autor und grosse Japan-Kenner Donald Richie. Sein Diktum mag zu pauschal sein, auf die in dieser Reihe präsentierten Filme trifft es aber zweifellos zu.
Regula König ist Dozentin für japanische Filmgeschichte an der Universität Zürich.