Kreativität aus Widersprüchen: Pier Paolo Pasolini

 

von Walter Gasperi

 

Kommunist und Katholik, Provokateur und engagierter Chronist des italienischen Subproletariats: So widersprüchlich Pier Paolo Pasolini als Mensch war, so kontrovers war auch sein Werk. Das Kinok erinnert mit einer Filmreihe an den grossen italienischen Intellektuellen und Künstler, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte.

 

Dreizehn lange und einige mittellange Spielfilme, dazu mehrere Dokumentar- und Essayfilme drehte der 1922 als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Volksschullehrerin in Bologna geborene Pier Paolo Pasolini zwischen 1961 und 1975. Vor allem als Filmregisseur ist er bekannt, doch sein kreatives Schaffen war ungleich vielfältiger: Gedichte schrieb er ebenso wie Romane und Erzählungen, politische Schriften und Drehbücher für andere Regisseure. Aufgewachsen im Friaul, veröffentlichte er 1942 einen ersten Lyrikband – in friaulischer Sprache, wodurch er Position gegen den Faschismus bezog. Gleichzeitig liess der damals Zwanzigjährige darin erstmals öffentlich seine Neigung zur Homosexualität anklingen.

 

Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Lehrer, trat 1947 in die Kommunistische Partei ein, aus der er zwei Jahre später nach einer fälschlichen Anklage wegen Verführung Minderjähriger ausgeschlossen wurde. Er verlor sein Lehramt und übersiedelte mit seiner Mutter nach Rom, wo er in den 1950er-Jahren zwei Romane und einen Gedichtband verfasste, in deren Mittelpunkt das Leben des römischen Subproletariats steht.

 

Zum Film kam Pasolini als Drehbuchautor für so unterschiedliche Regisseure wie Federico Fellini, Mauro Bolognini und Luis Trenker. Das filmische Handwerk erlernte er autodidaktisch: Seine filmsprachlichen Ideen formulierte er in der theoretischen Schrift Kino der Poesie, in der er ein einfaches, populäres und radikal subjektives Kino forderte. Erst im Alter von 39 Jahren drehte er mit «Accattone» (1961) seinen ersten eigenen Film. Nach der grossen Aufbruchsphase mit dem Neorealismus erreichte der italienische Film in den 1960er-Jahren den Höhepunkt seiner künstlerischen Strahlkraft. Zu den renommierten Meistern wie Rossellini, Visconti, Antonioni und Fellini gesellten sich mit Francesco Rosi, Ermanno Olmi, den Taviani-Brüdern, Bernardo Bertolucci und Pasolini zahlreiche Newcomer und leiteten eine weitere Erneuerungswelle ein. Dem quasidokumentarischen Blick auf das Leben einfacher Leute im Nachkriegskino stand in Pasolinis Filmen – wie in seinen literarischen Werken – die Fokussierung auf das Subproletariat gegenüber. In diese Unterschicht setzte er seine Hoffnung auf eine gesellschaftliche Veränderung.

 

Dabei geht Pasolinis Kino im Kämpferischen über den Neorealismus hinaus. Es lebt von den Widersprüchen, die seine eigene Person kennzeichneten. Unvereinbar scheinen die Pole Marxismus und Katholizismus, doch immer wieder entwickeln seine Filme gerade aus der Verbindung dieser Gegensätze ihre Kraft. So sorgen in «Accattone» der Dreh an Originalschauplätzen sowie der Einsatz von Laienschauspieler:innen und römischem Vorstadtdialekt für Realismus, gleichzeitig wird diese Leidensgeschichte eines kleinen Tagediebs und Zuhälters durch die expressive Bildsprache und sakrale Musik von Johann Sebastian Bach zur Passionsgeschichte überhöht. Auch in «Mamma Roma» (1962), der mit der grossen Anna Magnani in der Titelrolle von der Liebe einer Prostituierten zu ihrem Sohn erzählt, stilisierte er seinen Protagonisten im Finale zur Christusfigur.

 

Neben Marxismus und Katholizismus wurden die antiken und biblischen Mythen eine zentrale Inspirationsquelle für Pasolinis Schaffen. Nie bleibt er dabei aber im Historischen stecken, sondern überführt die Themen in die Gegenwart. So betonte er in seiner Bibelverfilmung «Il vangelo secondo Matteo» (1964) das sozialrevolutionäre Moment der christlichen Botschaft dadurch, dass er die Passionsgeschichte Jesu nicht in Palästina, sondern in Süditalien drehte, das als Dritte Welt innerhalb der Ersten Welt galt, und so die Armut und Rückständigkeit des Mezzogiorno aufzeigte.

 

Fast zwangsläufig musste dieser Umgang mit der Bibel Kontroversen hervorrufen. Allein schon, dass der erklärte Marxist und ketzerische Katholik es wagte, die Geschichte Christi zu verfilmen, war ein Skandal. Bereits vor der Premiere an der Biennale in Venedig kam es zu Protesten durch italienische Faschisten, die «eine Beschmutzung einer Quelle des christlichen Abendlandes» befürchteten. Marxistische Kritiker:innen warfen ihm hingegen Konformismus und einen zu schwachen Bruch mit der Bibelexegese vor. Doch so zwiespältig Pasolinis Film auch sein mag, er gilt doch immer noch als «der beste aller misslungenen Jesusfilme».

 

Pasolini provozierte oft mit seinen Werken. Immer wieder rief er mit seinen Schriften und Filmen die Gerichte auf den Plan, über dreissig Prozesse wurden gegen den kompromisslosen Intellektuellen geführt. 1955 wurde er für seinen Roman Ragazzi di vita wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt, 1959 für einen poetischen Nachruf auf Papst Pius XII. wegen Verletzung religiöser Gefühle und Beleidigung des Papstes. 1963 wurde sein Film «La ricotta» wegen Blasphemie verboten und er selbst in erster Instanz zu vier Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt, in zweiter Instanz aber freigesprochen. Auch am enigmatischen «Teorema» (1968), in dem Pasolini ein vernichtendes Bild des Bürgertums zeichnet, schieden sich die Geister. Während der Film in Venedig vom Katholischen Filmbüro eine Auszeichnung erhielt, wurde er auf Betreiben des Vatikans in Italien vorübergehend verboten. Die Forderung des Staatsanwalts nach sechs Monaten Haft für Pasolini und Vernichtung des Films wegen Obszönität mündete jedoch in einen Freispruch.

 

Mit «Medea» (1969) weitete Pasolini seinen geografischen Fokus und bediente sich des klassischen Mythos, um vom Spannungsfeld zwischen den reichen, hochentwickelten Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens zu erzählen. Wie schon in seinen frühen literarischen Arbeiten gehört auch hier seine Sympathie den ursprünglichen und archaischen Kulturen.

 

Die Hoffnung auf eine Veränderung der Gesellschaft wich zunehmend der Verzweiflung. Feierte dieser leidenschaftliche Kritiker des Kapitalismus und Materialismus in seiner «Trilogie des Lebens» (1971–1974), für die er die Märchen aus 1001 Nacht, Chaucers Canterbury Tales und Boccaccios Decamerone adaptierte, noch Lebensgenuss und Leidenschaft, so wurde sein letzter Film «Salò o le 120 giornate di Sodoma» zu einem der hoffnungs- und mitleidlosesten der Filmgeschichte. Vielleicht muss man «Salò» einmal gesehen haben, ein zweites Mal möchte man sich diesen Höllentrip vermutlich nicht antun. Pasolini transponierte dafür den 1785 entstandenen, aber erst 1904 veröffentlichten Roman Die 120 Tage von Sodom des Marquis de Sade in die Zeit kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs und lässt in der faschistischen Republik von Salò vier Herren ihre Macht gegenüber Untergebenen auf brutalste Art ausüben.

 

Noch vor der Uraufführung des Films wurde Pasolini in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975 in Ostia ermordet. «Salò» feierte erst nach seinem Tod Premiere und wurde sofort verboten. Inzwischen wurden diese Verbote weitgehend aufgehoben, in Deutschland ist jedoch die Bewerbung der DVD weiterhin nicht erlaubt. Polizeilich untersagt wurde im Februar 2007 nach Strafanzeigen von christlichen Gemeinden aus Deutschland und Österreich auch eine vom Zürcher Kino Xenix geplante Vorführung des Films in der St.-Jakobs-Kirche.

 

Bis heute sind die Umstände von Pasolinis Tod nicht geklärt. Rasch wurde im 17-jährigen Stricher Pino Pelosi ein Schuldiger gefunden, der die Tat gestand und zu neun Jahren Haft verurteilt wurde. 2005 widerrief er aber das Geständnis und erklärte: «Ich habe ihn nicht umgebracht, sie waren zu dritt, ich habe ihn verteidigt.» Spekuliert wird auch über Zusammenhänge der Ermordung Pasolinis mit seinem unvollendeten Roman Petrolio, weil er bei Recherchen dazu auf kriminelle Machenschaften der staatlichen Erdölgesellschaft ENI gestossen war. Die Hintergründe der Tat werden wohl nie geklärt werden, gewiss ist aber, dass viele beruhigt waren, dass dieser widersprüchliche Provokateur und geniale Künstler ein für alle Mal zum Schweigen gebracht wurde.

 

Walter Gasperi ist neben seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer im Bregenzerwald freier Filmjournalist und Kurator bei mehreren Vorarlberger Filmclubs. Zudem betreibt er die Webseite www.film-netz.com.

 

Der hundertste Geburtstag, den Pier Paolo Pasolini am 5. März gefeiert hätte, ist uns Anlass, sein bedeutendes Werk zu präsentieren. Seine Liebe galt den Randständigen, seine Themen waren das menschliche Schicksal, die Religion, die Sexualität, der Tod. Er war schonungslos mit sich und seinem Land, wurde wegen seines Werks angefeindet und musste unzähligen Angriffen und  Prozessen standhalten. Mit nur 53 Jahren im November 1975 unter ungeklärten Umständen ermordet, hat PPP ein so grossartiges wie verstörendes Werk hinterlassen, ein Werk von ungeheurem Reichtum und ungebrochener Relevanz – visionär, poetisch, polemisch, hellsichtig, existenziell.