1968 – Eine magische Jahreszahl?

Ein paar Anmerkungen zu einem hyperventilierenden Jubiläum

 

von Geri Krebs

 

1968 war ich elf Jahre alt. Ich war also zu jung, um Teil des nachträglich zur Zeitenwende verklärten historischen Aufbruchs zu sein. Aber doch schon alt genug, um etwas mitzubekommen. Etwa den Mord an Martin Luther King, der am 4. April in Memphis von einem rassistischen Wirrkopf erschossen wurde. Oder das Attentat auf Rudi Dutschke in West-Berlin genau eine Woche danach, als ein blutjunger Neonazi, der Malerlehrling Josef Bachmann, drei Schüsse auf den zum Anführer der Revolte stilisierten Soziologiestudenten und Studentenpolitiker abgab und ihn so schwer verletzte, dass er elf Jahre später an den Folgen des Attentats verstarb. Im Fall von Martin Luther King erinnere ich mich, wie eine Nachbarin meiner Mutter erzählte, sie habe aufgeschrien, als sie die Radionachricht vom Mord an dem Bürgerrechtsaktivisten vernahm. Die Frau war Jüdin. Und beim Dutschke-Attentat weiss ich noch, wie aufgeregt meine Eltern miteinander diskutierten und befanden, es könne doch nicht sein, dass so etwas im heutigen Deutschland passiere. Jedenfalls war meine spätkindliche Neugier geweckt und ich spürte, dass da draussen viel los war und man schon ein wenig zur Welt der Erwachsenen gehörte, wenn man das Weltgeschehen realisierte.

 

Der Pariser Mai, der Mord an Robert Kennedy im Juni, der Zürcher Globus-Krawall, über den der Lehrer sich in der Schule furchtbar aufregte («Diese langhaarigen Affen!»), die Invasion der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im August (worüber sich der Lehrer noch mehr aufregte), die Olympischen Spiele in Mexiko im Oktober mit dem Massaker von Tlatelolco mit 300 erschossenen Studenten, die Wahl von Richard Nixon zum neuen Präsidenten der USA im November, von dem es hiess, er sei ein Netter, viel netter als Johnson, und er würde den Vietnam-Krieg beenden: Das war mein 1968. Mehr als diese historischen Eckpunkte war es aber von Heintje – dem populären Kinderstar, der 1968 zum Inbegriff wohlanständiger «Anti-68er» wurde – und dem Erstaunen darüber geprägt, dass plötzlich einige Führer in der Pfadi – in der man damals als Bürgerkind ja war – sich plötzlich die Haare lang wachsen liessen.

 

Dass wirklich etwas im Tun war, das realisierten nicht nur Reaktionäre wie mein Lehrer, sondern auch eine aufgeklärte liberale Öffentlichkeit: So las man etwa im «Spiegel»: «Der Rektor der Freien Universität Hans-Joachim Lieber erkannte eine ‹ziemlich weltweite Protestbewegung gegen die konformistische Gesellschaft, gegen die Autoritäten, gegen die Mächtigen›. Studenten-Demonstrationen waren der Anfang vom Ende des Regimes in Süd-Korea. Studenten spielten eine führende Rolle beim Sturz der Regierungen in Bolivien, in Südvietnam und im Sudan. Niedergeknüppelt wurden Studenten-Demonstrationen in Prag (Protestgrund: miserable Zustände in den Studentenheimen) als auch in Tokio (Protestgrund: Japans Aussenpolitik); in Prag gab es über hundert, in Tokio über 700 Verletzte. 3000 Studenten protestierten in Paris gegen den Numerus clausus und gegen das Regime de Gaulles.» Das Zitat stammt aus einer Titelgeschichte vom 11. Dezember 1967, nicht 1968. Der Titel: «Revolutionär Dutschke».

 

Dass der «Mai 1968» nicht aus dem Nichts kam, wird so oft übersehen wie der Umstand, dass der Aufbruch seine Brennpunkte nicht nur in den USA, Westdeutschland, Frankreich, Italien und – ein wenig – in der Schweiz hatte, sondern dass er wirklich ein weltweiter war und schon um einiges früher begonnen hatte. So fanden die ersten grossen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg in West-Berlin bereits Anfang 1966 statt, in den USA hatten sie 1964 begonnen. Ohnehin war die Studentenbewegung in Westdeutschland schon seit Frühling 1967 in vollem Gange, als am 2. Juni 1967 auf einer Demonstration in West-Berlin gegen den Besuch des Schahs von Persien der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde – ein fatales Fanal, das wie ein Brandbeschleuniger wirkte. Verschärft wurde das alles durch die skandalöse und hasserfüllte Berichterstattung, ja Hetze, in einem Grossteil der Medien. Sie ging so weit, dass man etwa für den Tod Ohnesorgs anfänglich die protestierenden Studenten verantwortlich machte. Und als das nicht mehr haltbar war, verbreitete man die Lüge von der Notwehrsituation, in der sich der Todesschütze befunden haben soll. Erst Jahrzehnte später wurde bekannt, dass Karl-Heinz Kurras, der Polizist, der die tödlichen Schüsse auf den 26-jährigen Studenten abgab und der dafür von sämtlichen Gerichtsinstanzen von jeglicher Schuld freigesprochen wurde, ein von der Stasi eingeschleuster Agent war. Offenbar hatte er vom DDR-Regime den Auftrag erhalten, die West-Berliner Polizei zu destabilisieren. Man kann nun spekulieren, wie die aufgewiegelten Berliner Frontstadtleute («In einen Sack stecken, das Pack, und über die Mauer schmeissen») wohl reagiert hätten und wie die Geschichte weitergegangen wäre, hätte man das bereits 1967 gewusst.

 

Überhaupt gibt es so manche, wenig bekannte ironischen Wendungen in der Geschichte von 1968. So etwa die, dass es ausgerechnet ein konvertierter ehemaliger Linksradikaler war, der mit seinem Agieren im Paris des Mai 1968 die Revolte beschleunigte: André Malraux, de Gaulles Kulturminister. Er, der als Schriftsteller und Filmemacher (von ihm stammt «L’éspoir», einer der ikonografischen Filme für die spanische Republik während des Bürgerkriegs) früher ein überzeugter Kommunist gewesen war, verfügte nun, dass der Cinémathèque in Paris die Subventionen gestrichen und ihr Leiter, Henri Langlois, entlassen werden sollte. Ein Vorgehen, das zur zeitweisen Schliessung der renommierten Institution führte und so die Studenten erst recht auf die Strasse trieb. François Truffaut in «Baisers volés» und – viel später – Bernardo Bertolucci in «The Dreamers» haben diese Episode filmisch verarbeitet und daran erinnert, dass ja eigentlich das Kino am Anfang des Mai 1968 stand.

 

Und es gab Leute, die als Visionäre in ihren Filmen bereits vorwegnahmen, was wenig später auf den Strassen geschah. So etwa Jean-Luc Godard mit «La chinoise» aus dem Jahr 1967, einem zwischen Bewunderung und ironischer Distanz pendelndem Lehrstück. Godard, den man seit seinem Erstling «À bout de souffle» von 1959 und als Mitbegründer der Nouvelle Vague als einen der grössten Kino-Revolutionäre bezeichnen kann, war in jener Zeit fasziniert von dem, was man seit 1966 über Maos China vernahm. Die vom «Grossen Steuermann» in jenem Jahr entfesselte «Kulturrevolution» – ein innerparteilicher Machtkampf, für den Mao zwecks Ausschaltung von Rivalen die Jugend mobilisierte und der Millionen von Opfern forderte – wurde im Westen von nicht wenigen in wahnwitziger Verkennung der Realität als emanzipatorischer Aufbruch missverstanden.

 

So nicht nur von Godard, sondern etwa auch vom Zürcher Filmstudenten Jürg Hassler. Dieser schuf 1969 mit «Krawall» einen hervorragend gestalteten Agitationsfilm, in welchem er Filmmaterial vom Globus-Krawall mit dessen Vorgeschichte verband und das Ganze schliesslich mit schwärmerischen Aufnahmen der Kulturrevolution, die chinesischen Propagandafilmen entnommen waren, ausklingen liess. Wie weit die Faszination für den Massenmörder Mao ging, das hat selbst ein so gestandener Cineast wie Michelangelo Antonioni bewiesen. Der grosse Italiener reiste 1971 nach China und machte dort Aufnahmen für seinen Dokumentarfilm «Chung Kuo – Cina» (1972), ein befremdlich unkritisches Werk über das Alltagsleben in Maos Reich. Einen interessanten Rückblick aus heutiger Sicht auf diese Zeit der Mao-Verehrung mit einer einmaligen Innensicht leistet der 2017 entstandene Dokumentarfilm «No Intenso Agora» (Im intensiven Jetzt) des Brasilianers João Moreira Salles. 1966, zu Beginn der Kulturrevolution reiste dessen Mutter nach China und dokumentierte ihren Trip ins vermeintliche Herz der Revolution mit der Kamera. Diese Amateuraufnahmen verbindet der Regisseur mit Material über den Mai 1968 in Paris und seinen eigenen Überlegungen von heute.

 

Jene Epoche war aber nicht nur geprägt von Politik und grössenwahnsinnigen Träumen einer Revolution, sondern vielmehr auch von einem Lebensgefühl, das sich mit Hedonismus, Rausch und Verweigerung umschreiben lässt. «Rote Sonne», ein experimenteller Spielfilm des Deutschen Rudolf Thome mit der schönen Sixties-Ikone Uschi Obermaier in der Hauptrolle, und «Haschisch», eine wilde Collage des Westschweizers Michel Soutter, – 1968 respektive 1967 entstanden – sind zwei Beispiele dafür, wie man versuchte, in durchaus innovativer Weise Bilder zu finden für das, was in der Luft lag und viel mehr mit Sex, Drugs and Rock’n’Roll zu tun hatte als mit Mao, Che und Ho Chi Minh.

 

Vielleicht sollte man dieses «68er-Jubiläum» überhaupt mit mehr Gelassenheit angehen, etwa so, wie das einer ihrer wichtigsten, noch lebenden europäischen Exponenten, Daniel Cohn-Bendit, kürzlich in einem Interview formuliert hat: «Leute, das ist 50 Jahre her! Wenn man aus 1968 herauslesen will, wie politische Auseinandersetzungen heute zu führen sind, dann wird man nicht weit kommen.» Und was das Ding mit der Revolution von damals betrifft, darf man sich vielleicht an einen vor einem Vierteljahrhundert Verstorbenen erinnern: Charles Bukowski. Mit seinen damals 48 Jahren war er schon ein bisschen zu alt für die Jugendrevolte, aber dennoch aktiver Teilnehmer einer ästhetischen Revolution, die in den Sechzigern nicht nur die Dichtung betraf, sondern auch die Sitten. Als einer, der an der Front eines Kulturkampfes stand, in dem sich Hippies und Aussteiger gegen ein konservatives, christliches Nixon-Amerika erhoben, schrieb er 1969 in «Notes of a Dirty Old Man»: «Revolution, das klingt so romantisch. Ist es aber nicht. Denn Revolution heisst Blut und Dreck und Wahnsinn, heisst kleine Kinder, die gekillt werden, weil sie gerade im Weg stehen und nicht verstehen, was zum Teufel da gerade abgeht. Und heisst, deine Frau kriegt ein Bayonett in den Bauch und einen Schwanz in den Arsch, während du zuschauen darfst. Und heisst, Männer foltern andere Männer, die einst gemeinsam über Mickey-Mouse-Cartoons gelacht haben. Bevor du dich also in dieses Ding stürzt, überlege dir, wo der Geist ist und wo er ist, wenn alles vorbei ist.»

 

Wem das zu vulgär ist, der darf sich gerne bei einem Idol der Bildungsbürger bedienen: bei Goethe. Der wusste schon vor 200 Jahren: «Den Dummheiten seiner Epoche entgeht kein Mensch ganz.»

 

Geri Krebs ist Filmjournalist und schreibt über das Kino jenseits von Hollywood für mehrere Zeitungen, u.a. die NZZ, das St.Galler Tagblatt und die WOZ. In einer früheren Ära hat er versucht, die Ungnade seiner für den Mai 1968 zu späten Geburt mit umso grösseren Anstrengungen im heissen Zürcher Sommer von 1980 wettzumachen.

 

«Die Phantasie an die Macht» war eine der vielen Parolen, die vor 50 Jahren auf den Strassen zu lesen und zu hören waren. 1968 markierte weltweit einen radikalen Aufbruch, der sich in vielen Ländern unterschiedlich manifestierte. Im Mai 1968 entlud sich der Widerstand gegen das Establishment und gesellschaft-liche Denkverbote. Das Kino war nicht nur reagierend, sondern eine treibende künstlerische Kraft dieser Rebellion. In unserer Reihe zeigen wir eine Auswahl von Filmen, die rund um diesen historischen Wendepunkt entstanden sind und die Stimmung, das Lebensgefühl und den rebellischen Geist jener Zeit beispielhaft einfingen.