Prädikat: Besonders schädlich!
Die DEFA-Verbotsfilme

Eine Nouvelle Vague aus Babelsberg

von Ralf Schenk

 

 

Anfang der 1960er-Jahre war das Kino in die Krise gekommen. Denn das Fernsehen verlockte das Publikum, es sich zu Hause bequem vor dem Bildschirm einzurichten. Die Folge war ein millionenfacher Zuschauerverlust, dem man etwas entgegensetzen musste. Neue Inhalte, neue Formen wurden dringend gesucht. In dieser Situation träumten Produzenten und Regisseure oft von noch grösseren Leinwänden, noch bunteren Bildern, noch mehr Spannung, Spass und Action und sahen darin das ultimative Allheilmittel – ohne zu erkennen, dass es sich dabei oft nur um eine verlängerte, aufgeblasene Variante von «Papas Kintopp» handelte. Andere aber gingen andere Wege: mehr Wahrhaftigkeit, mehr Alltag in frische, freche und ästhetisch wagemutige Geschichten verpackt – raus aus den Ateliers, rein ins Leben! In Frankreich etablierte sich das Cinéma vérité: Truffaut, Godard, Chabrol. In England war das Free Cinema in aller Munde: mit Tony Richardson, Karel Reisz, Lindsay Anderson. Polen schickte die jungen Wilden Roman Polanski und Jerzy Skolimowski ins Rennen, flankiert von Andrzej Wajda. Brasilien überzeugte mit seinem Cinema Nuovo, die Russen übten sich im Tauwetterfilm. Binnen weniger Jahre zeigte sich das Kino radikal modernisiert: ein Quantensprung!

 

Eine «Neue Welle» aber blieb völlig unbekannt und unentdeckt: das junge Kino der DDR, eine Erneuerungsbewegung, die aus politischen Motiven im Keim gestoppt wurde. Denn im Dezember 1965 tagte ein Parteikongress, das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED, auf dem die aktuelle DDR-Kunst in die Schusslinie geriet. In Film, Theater, Fernsehen und Literatur, so konstatierte der Hauptredner Erich Honecker, gäbe es Entwicklungen, die dem Sozialismus schädlich wären, ihm sogar feindlich gegenüberstünden. Vor allem die Babelsberger Filmgesellschaft DEFA wurde an den Pranger gestellt. Zwei ihrer – bis dahin noch nicht öffentlich gezeigten – Filme liefen vor den Delegierten der Tagung, «Das Kaninchen bin ich» von Kurt Maetzig und «Denk bloss nicht, ich heule» von Frank Vogel. Beide riefen höchste Missbilligung hervor. Die Kunst, so der Duktus der Anklage, dürfe sich nicht zum Richter über die Gesellschaft aufspielen. Kunst müsse das Positive zeigen, dürfe nicht im «Schmutz» des «Abseitigen» herumwühlen. Staatschef Walter Ulbricht schrieb nur wenig später in der Ost-Berliner Tageszeitung «Neues Deutschland»: «Manche Künstler geniessen heute den Zweifel an allem wie Rauschgift. Glauben sie, mit krassem Naturalismus, faktografischer Aneinanderreihung negativer Verhaltensweisen, gemischt mit grobem Sexualismus, eine sozialistische Kunst schaffen zu können?»

 

Die Folgen dieses politischen Generalangriffs waren gravierend. In den Monaten nach dem 11. Plenum kamen zwölf DEFA-Spielfilme und mehrere Dokumentarfilme auf den Index. Was verboten wurde, war – alles in allem – der fragende, zweifelnde, kritische Panoramablick auf die eigene Gesellschaft: die Wirtschafts- und Bildungspolitik, das Justizwesen, die Jugendpolitik, das Zusammenspiel der Generationen. Tatsächlich hatten sich die Filme mit gravierenden, zuvor eher beschwiegenen Problemen der Gesellschaft befasst. «Das Kaninchen bin ich» porträtiert einen erbarmungslos karrieristischen Richter, der sein Fähnchen noch in jeden politischen Wind hängt: ein Film, der mehr Demokratie anmahnte und den staatstragenden Opportunismus verurteilte. «Denk bloss nicht, ich heule» reflektiert darüber, wie sehr sich ein Jugendlicher unter Druck gesetzt fühlen musste, der nicht nach der Pfeife der Partei tanzte. Und «Karla» (Regie: Herrmann Zschoche), der vielleicht schönste Film des DEFA-Jahrgangs 1965/66, zeichnet das Bild einer jungen Lehrerin, die mit ihren Idealen von Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit die Verhältnisse an ihrer Schule ins Wanken bringt. Eine bis heute gültige Parabel über Zivilcourage, Mut und Vertrauen.

 

Die Filmverbote erfolgten zwischen Dezember 1965 und Herbst 1966. Betroffen waren sowohl fertige Filme als auch Rohschnitte und eine Reihe von Stoffen, die kurz vor Drehbeginn standen. Selbst Filme, die schon kurz in den Kinos angelaufen waren, verschwanden, so wie «Spur der Steine» (Regie: Frank Beyer), das Zeitbild einer industriellen Grossbaustelle, das konsequent die innere Zerrissenheit der DDR-Staatspartei reflektiert und sich eindeutig auf die Seite der politischen Reformer, der Utopie eines «demokratischen Sozialismus» gestellt hatte. Der letzte Film, der im Herbst 1966 gestoppt wurde, war schliesslich «Jahrgang 45» (Regie: Jürgen Böttcher), die Studie einer gescheiterten Ehe, die in Stil und Habitus einem improvisierten Jazzstück nachempfunden war. Modernes, zeitlos schönes Kino.

 

Heute ist schwer zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass in einem Staat, in dem die Filmproduktion von «oben» gelenkt und finanziert wurde, erst Filme zugelassen und gedreht und anschliessend verboten werden konnten. Kurz gesagt: Alles hatte mit «grosser» Politik zu tun. Im Zuge einer zaghaften Entstalinisierung, die von der Sowjetunion ausgegangen war und auch die DDR erreicht hatte, war in den frühen 1960er-Jahren eine junge Funktionärselite in Machtpositionen gerückt, der die Luft im Lande zu stickig geworden war und die für frischen Wind sorgen wollte: ökonomisch, politisch, sozial, kulturell. In diesem Prozess, der immer wieder von Rückschlägen begleitet war, wurde die Kunst zur Triebkraft, Zeugin und kritischen Wegbegleiterin. So viele erregende Bücher, Theaterstücke, Gedichte und Filme wie in den frühen 1960er-Jahren hatte es im ganzen Jahrzehnt zuvor nicht gegeben. – Freilich streckten die Hardliner nicht ihre Waffen. Die SED zerfiel immer deutlicher in zwei Lager: das der liberalen Reformer und das der «Traditionalisten», die jeden Versuch der gesellschaftlichen Modernisierung als «Revisionismus» denunzierten. Als 1965 in Moskau die Hardliner wieder die Oberhand gewannen und Leonid Breschnew zum neuen Parteichef der KPdSU bestimmten, hatte dies auch gravierende Auswirkungen auf die Politik und Kulturpolitik der SED.

 

Die «Neue Welle» des DDR-Kinos fällt genau in jene Bruchstelle. Viele dieser Filme wurden in einer Zeit erdacht und entwickelt, in der die Reformer noch an einen «demokratischen Sozialismus» glaubten. Nach dem Ende der Dreharbeiten war dieser Traum ausgeträumt. Im Babelsberger DEFA-Studio für Spielfilme zeigte sich das nicht nur in der massiven Verbotswelle, sondern auch im Austausch des Führungspersonals. Entlassen wurden der DEFA-Direktor Jochen Mückenberger, der Chefdramaturg Klaus Wischnewski, der Parteisekretär Werner Kühn, der Filmminister Günther Witt. Entlassen wurden die Regisseure Frank Beyer und Günter Stahnke, der einen Film mit dem symbolischen Titel «Der Frühling braucht Zeit» gedreht hatte. Andere Autoren, Dramaturgen und Regisseure durften zwar weitermachen, aber nur unter verschärfter Beobachtung.

 

Die verbotenen Filme und all ihre Materialien wurden nicht vernichtet, sondern im Staatlichen Filmarchiv der DDR eingelagert. Das war 1989, im Umfeld des Mauerfalls, ein grosses Glück: Jetzt endlich waren auch sie «frei». Für die internationale Kritik, die mit der Babelsberger «Neuen Welle» erstmals während der Berlinale 1990 konfrontiert wurde – viele DDR-Verbotsfilme liefen dort im «internationalen forum des jungen films» –, tat sich gleichsam eine unbekannte Welt auf. So unterschiedlich die Arbeiten im Einzelnen auch sein mochten, sie kündeten von einer spannenden politischen Aufbruchsstimmung – und, in den besten Fällen, von ästhetischem Wagemut. Jürgen Böttchers spielerischer, wie getupfter «Jahrgang 45» erwies sich als Cinéma vérité pur, eine Art Hommage ans junge französische Kino, an Böttchers grosses Vorbild Chris Marker. «Spur der Steine» nutzte gleichsam das Western-Genre für ein Sittenbild aus der ostdeutschen Provinz: Die glorreichen Sieben in Bitterfeld. «Der Frühling braucht Zeit» entwarf mit expressiven Kameraeinstellungen ein kafkaeskes Entfremdungsdrama: der einzelne Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen.

 

«Wenn du gross bist, lieber Adam» (Regie: Egon Günther) und «Fräulein Schmetterling» (Regie: Kurt Barthel) orientierten sich sichtlich an der märchenhaften Poesie des tschechischen Kinos, aber auch an den Bilderwelten eines Cesare Zavattini und Vittorio De Sica («Miracolo a Milano»). Schon 1964 hatte Konrad Wolf mit seinem – nicht verbotenen, aber beargwöhnten – Film «Der geteilte Himmel» und den darin zelebrierten Wechselspielen von Traum und Realität deutlich werden lassen, wie sehr ihn die intellektuellen filmischen Puzzles eines Alain Resnais («L’année dernière à Marienbad») faszinierten.

 

Nach dem kulturpolitischen Kahlschlag von 1965/66 zog sich die DEFA oft in kleine private Geschichten zurück oder in historische Parabeln, die, mehr oder weniger deutlich, auch über die DDR reflektierten: über das Verhältnis von Kunst und Politik, Macht und Ohnmacht, über Anpassung und leise Subversion. Dabei gab es viele passable, auch starke Einzelstücke. Eine solche kritische Gesamtschau auf das System, wie es Mitte der 1960er-Jahre versucht wurde, kam allerdings nie mehr zustande.

 

Ralf Schenk, 1956 im Thüringer Wald geboren, schreibt seit 1974 Filmkritiken und filmhistorische Texte, seit 1988 Bücher zum Kino, ist im Vorstand der DEFA-Stiftung und seit 2012 künstlerischer Leiter der Digitalisierung der DEFA-Verbotsfilme.

 

Es war eine Zensuraktion, die in der deutschen Filmgeschichte beispiellos war: 1965/1966 wurde nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED fast die gesamte Jahresproduktion von DDR-Filmen verboten. Ähnlich wie drei Jahre später in der Tschechoslowakei wurde die Filmproduktion einer ganzen Generation von Regisseuren in den Giftschrank gesperrt; auch so renommierte Filmemacher wie Kurt Maetzig und Frank Beyer waren vom Verbot betroffen. Das Plenum war ein kulturpolitischer Kahlschlag, der vor allem die Filmproduktion mit aller Härte traf. Gesellschaftskritische Fragen galten fortan als Tabu, dem hatten sich die Künstler zu beugen.