Produktive Verstörung: Die verzerrten Welten des Yorgos Lanthimos

 

von Jens Balkenborg

 

Es wäre zu viel des Guten, Yorgos Lanthimos einen kinematografischen Dr. Frankenstein zu nennen. Aber es steckt etwas herrlich Selbstreferenzielles und Treffendes darin, wenn der von Willem Dafoe gespielte Dr. Godwin Baxter in «Poor Things», ein gesichtsvernarbter Anatomieprofessor mit Hang zu verstörenden Körperexperimenten, proklamiert: «Empirie anstatt Emotionen!»

 

Besonders die früheren Filme des 1973 in Athen geborenen griechischen Regisseurs wirken wie kühl und klug kalkulierte soziologische Versuchsanordnungen, in denen Emotionen unter der Oberfläche der monoton gesprochenen, von ausdruckslosen Figuren scheinbar abgespulten Dialoge brodeln. Treten die Gefühle hervor, dann häufig mit brachialer Gewalt. Doch: Das Kino des Griechen hat etwas produktiv Monströses, es kratzt mit formalem Stilwillen, einer guten Portion sterilem Wahnsinn und im Modus zwischen absurdem Theater und Tragödie an eingeschliffenen gesellschaftlichen Konventionen. 

 

Sein Regiedebüt gab Lanthimos mit der ausserhalb Griechenlands kaum beachteten seichten Komödie «My Best Friend» (2001), die er gemeinsam mit Lakis Lazopoulos realisiert hat. Was für sein Debüt weniger galt, bricht sich seit seinem am Toronto Film Festival uraufgeführten Solo-Regiedebüt «Kinetta» Bahn: Lanthimos distanziert sich von Erzählkonventionen und dem leicht verdaulichen Content vieler popkultureller Erzeugnisse unseres spätkapitalistischen Daseins. Wirklichkeitsflucht – die er selbst mit seinen sperrigen Filmen nicht bieten möchte – ist ein Thema, das sich bereits hier inhaltlich niederschlägt, denn in «Kinetta» erzählt er von einer Putzfrau, dem Angestellten eines Fotoladens und einem Polizisten, die, um der Monotonie und Tristesse in einem leer gefegten Touristenstädtchen zu entfliehen, halbgare Filmideen für Mord- und Misshandlungsszenen inszenieren und in die Rollen von Tätern und Opfern schlüpfen.

 

Glaubt man Vrasidas Karalis, der heute als Professor für Neugriechisch an der University of Sydney lehrt, so markierte «Kinetta» den Beginn eines neuen Stils im griechischen Film, der 2009 mit dem Nachfolger «Dogtooth» dem damals von der Finanzkrise besonders gebeutelten Land filmisch zu einer temporären Renaissance verhalf. Das verstörende Kammerspiel erzählt davon, wie Eltern ihre Kinder mit falschem Weltwissen im Mikrokosmos eines grosszügigen Hauses hermetisch von der Aussenwelt abgeriegelt nach protofaschistischen Grundsätzen erziehen, bis eine der Töchter ausbricht. In Cannes wurde der Film mit dem Prix Un Certain Regard auszeichnet, ausserdem war er für den Oscar als bester nicht englischsprachiger Film nominiert.

 

Spätestens mit «Dogtooth» bekam das Kind einen Namen, natürlich auch der Mythenbildung wegen: Der junge, progressive griechische Film wurde als «Neue griechische Welle», im englischen Sprachraum als «Greek Weird Wave», weltweit gefeiert. Speerspitze dieser Welle waren Lanthimos und seine Kollegin Athina Rachel Tsangari («Attenberg»), die sich bei ihren Filmen vor und hinter der Kamera unterstützten. 

 

Lanthimos inszenierte in seinem Frühwerk, auch mangels Filmförderung in Griechenland, mit einer formalen Strenge und einer Konsequenz, die an einen Michael Haneke denken liess, allerdings mit einem Hang zum absurden Humor; er erzählte in statischen Einstellungen aus teils unkonventionellen Perspektiven und in dezentralen Bildkompositionen, die gern auch mal Körperteile abschneiden, von Fluchtversuchen: in eine andere Wirklichkeit, ein anderes System. Letzteres gilt auch für seinen Film «Alpeis» (2011). Der handelt von einem Kollektiv von vier Menschen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, in die Rolle von Verstorbenen zu schlüpfen, um Angehörigen den Abschied zu erleichtern.

 

In seinen drei griechischen Filmen konfrontiert Lanthimos uns mit Welten, die der unseren so fern nicht sind, die aber einer eigenen Logik folgen. Indem er den psychologischen Zugang zu seinen Figuren verwehrt, erzeugt er eine effektive Distanz, die zur Reflexion einlädt. Einfache Antworten gibt er nie, er macht mit seinen Filmen vieldeutige Angebote. Kalt lassen sie dennoch nicht, sie sind zugleich lustig und verstörend und werfen universelle Fragen auf: Wer sind wir? Warum verhalten wir uns, wie wir uns verhalten, und welche Rolle spielen die Systeme, in denen wir uns bewegen? 

 

Ein kritischer Geist ist seinen verschrobenen Filmen fest eingeschrieben, und er hat sich seine Weirdness auch über Ländergrenzen und neue Produktionskontexte hin bewahrt. Dass er Griechenland verliess, begründete Lanthimos in Interviews damit, dass er seine Produktionen grösser denken und nicht mehr am Rande der Selbstausbeutung arbeiten wollte.

 

Verschroben ist auch «The Lobster» von 2015 geraten, Lanthimos’ erster englischsprachiger Film, prominent besetzt unter anderen mit Colin Farrell, Rachel Weisz und Olivia Colman. Wie lässt sich hintersinnig dem Pärchenkult und Paarungsverhalten im digitalen Zeitalter ein absurd-komischer Spiegel vorhalten? Antwort Lanthimos: Indem man von einer nicht näher definierten dystopischen Zukunft erzählt, in der Singles in einem Hotel 45 Tage Zeit bekommen, sich einen Partner oder eine Partnerin zu suchen, bevor sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt werden. Wer masturbiert, dessen Hände werden getoastet, buchstäblich.

 

In «The Killing of a Sacred Deer« (2017) verheiratete er die griechische Mythologie mit einem modernen Genrefilm. Lanthimos aktualisiert den antiken Mythos der Iphigenie des griechischen Dramatikers Euripides. Deren Vater Agamemnon wurde von Artemis bestraft, nachdem er im heiligen Hain einen Hirsch getötet hatte: Um seine Schuld zu sühnen, sollte er seine eigene Tochter opfern.

 

Lanthimos, der das in Cannes ausgezeichnete Drehbuch, wie jedes seit «Dogtooth», gemeinsam mit Efthimis Filippou geschrieben hat, erzählt hier von einem Herzchirurgen (erneut Farrell), dem Blut an den Händen klebt. Denn als er noch dem Alkohol zugeneigt war, ist der Vater eines Jungen (verstörend gut: Barry Keoghan) im OP unter seinen Händen gestorben. Der Junge fordert, nachdem er sich anfangs nett gezeigt hat, Sühne von dem Mediziner.

 

Spätestens mit «The Killing of a Sacred Deer» bekommt die neue Schaffensphase, die «The Lobster» einleitete, Kontur, denn die Austerität der vorherigen Filme wird ergänzt um einen formalen Expressionismus. Wie in Stanley Kubricks «The Shining» schwebt die Kamera durch die Krankenhausflure, auf der Tonspur verstärken dissonante Sounds das Unsicherheitsgefühl. Lanthimos dekonstruiert, wie schon in «Dogtooth» und «Alpeis», traditionelle Familienstrukturen, er blickt hinter die gutbürgerliche Fassade und erzählt, angereichert mit staubtrockenem Humor, eine düstere Parabel über Schuld und Sühne.

 

Auf seine Variante des übernatürlichen Horrorfilms, den viele als seinen bösesten Film rezipierten, liess er mit «The Favourite» eine Adelsgroteske folgen, die wiederum als sein «leichtester» wahrgenommen wurde. Leicht im Sinne von massenkompatibler, weniger hermetisch, was, dafür sprechen auch zehn Oscar­nominierungen – ausgezeichnet wurde schliesslich nur Olivia Colman als beste Hauptdarstellerin –, ­sicherlich stimmen mag. Die von manchen geäusserte Kritik, man hätte den Auteur nun künstlerisch an das britische Studiosystem oder an Hollywood verloren, geht allerdings am Ziel vorbei, denn auch seine «grösseren» Filme sind eigensinnig durch und durch. 

 

Das zeigt auch «The Favourite». Lanthimos inszeniert den auf historischen Begebenheiten basierenden Film, der am englischen Königshof des beginnenden 18. Jahrhunderts spielt, als so giftige wie komische Farce. Der Film erzählt nach einem Drehbuch von Deborah Davis und Tony McNamara, wie zwei Cousinen (Rachel Weisz und Emma Stone), von denen die eine sich als einfache Zofe andienen muss, um die Gunst der kränklichen Königin (Olivia Colman) buhlen. Lanthimos entwirft ein boshaft-spassiges Bild von Dekadenz, infantilem Machtmissbrauch und Günstlingswirtschaft.

 

Der griechische Regisseur hat sich seine kinematografische Exzentrik und seinen Sinn für formal­ästhetische Eigenheit bis heute bewahrt. Und er hat verstanden, dass er grössere finanzielle Mittel bei gleichzeitiger künstlerischer Freiheit genau dafür nutzen kann: für die Erschaffung seiner diskursiven Gegenräume, die sich in «Poor Things» mehr denn je manifestieren. Zugleich scheint sich mit dem Film ein Kreis zu schliessen, denn nachdem «Dogtooth» davon erzählte, wie Eltern ihre Kinder in der Abschottung zu kleinen Soziopath:innen erziehen, zeigt sein feministischer Frankenstein, wie die Welt über ein zuvor abgeschottetes vermeintliches «Monster» hereinbricht und wie es reagiert.

 

Sein in Venedig mit dem Goldenen Löwen und mit vier Oscars ausgezeichnetes Stationendrama atmet den Wahnsinn mit jeder Faser und aktualisiert den Frankenstein-Mythos nach einem Drehbuch von Tony McNamara, das auf dem Roman Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCandless M.D., Scottish Public Health Officer von Alasdair Gray aus dem Jahr 1992 basiert, als surreal überhöhte, in einem retrofuturistischen Setting spielende Groteske.

 

Mit der als beste Hauptdarstellerin mit einem Oscar ausgezeichneten Emma Stone erzählt der Film von einer Frau, der ein Kinderhirn eingepflanzt wird und die auf einer Odyssee für Wirbel sorgt. In der von Stone gespielten Bella spiegelt sich unser Umgang mit Sprache, Machthierarchien, Rollenbildern und (sexuellen) Identitäten wider – Themen, die das Werk des Griechen seit jeher durchziehen.

 

Der Film als produktiv verzerrender Spiegel, ob mit soziologischer Austerität wie in den früheren Filmen oder mit der eigensinnig-opulenten Ästhetik der neueren Werke: Der griechische Regisseur will uns mit uns selbst konfrontieren, uns heraus- und überfordern, uns schmunzeln und schaudern lassen. Genau dazwischen liegt das Lanthimos-Gefühl.

 

Jens Balkenborg ist Mitglied im Verband der deutschen Filmkritik und schreibt für verschiedene Medien über Film und Musik, u.a. für Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Freitag, Groove, Jüdische Allgemeine, WOZ.

 

Mit seiner Vorliebe für visuelle Grenzüberschreitungen und soziale Tabubrüche weiss Yorgos Lanthimos zu begeistern wie zu verstören. Mit seinem Frühwerk war er Wegbereiter der «Neuen griechischen Welle», seit elf Jahren lebt er in London und arbeitet mit Stars wie Emma Stone, Olivia Colman, Colin Farrell und Rachel Weisz zusammen. Seine Filme gleichen faszinierenden Versuchslaboren, die mit absurdem Humor, jähen Gewaltausbrüchen und verspielter Bildsprache die grossen Themen der menschlichen Existenz wie Liebe, Familie, Sehnsucht, Schuld und Trauer aufgreifen. Wir laden ein, in die wundersamen Welten des Meisters der Seltsamkeiten einzutauchen.