Meere und Grenzen

 

von Anke Leweke

 

Es sind grosse Fragen, universelle Themen, die hier durch eigenwillige visuelle Zugriffe persönlich werden – und umgekehrt. Bei den diesjährigen Orient Express Filmtagen reist man auf der Kinoleinwand nach Griechenland, in die Türkei, in kurdische Gebiete, in die Ostukraine. Die Regisseur:innen verfolgen Flucht- und Migrationsbewegungen, befragen Begriffe wie Heimat, Heimweh, Zugehörigkeit. Ihre Geschichten mögen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, doch sind die Protagonist:innen dieser sieben Filme Seelenverwandte im Geiste. Sie alle blicken zurück und nach vorne, stellen sich Herkunft und Tradition, um in der Gegenwart und im eigenen Leben anzukommen. Für die Biografien, Träume und Wege dieser Suchenden finden die Regisseur:innen ihnen angemessene Formen: Dorfchroniken, Sozialdramen mit Thrillerelementen, Emanzipationsgeschichten, dokumentarische und essayistische Blicke.

 

Manchmal ist es das Wasser, das diese Filme verbindet. Ein Leitmotiv: das Meer. Es trennt Kontinente, zerreisst Familien, Beziehungen und junge Lieben. Es kann aber auch Sehnsuchtsort sein. Der Bosporus, jene Europa und Asien, Orient und Okzident verbindende Meerenge, ist wiederum Ausgangs- und Endpunkt von historischen und von persönlichen Reisen. In der Gegenwart sind die Spuren der Vergangenheit sichtbar, wird der Nachhall der Geschichte registriert.

 

Die Bewegung des Filmessays «Ah Gözel Istanbul ­– Invisible to the Eye» entlang der Skyline Istanbuls mit ihren Hochhäusern und Sehenswürdigkeiten mag horizontal verlaufen, doch legt Zeynep Dadak die historischen Tiefenschichten der multikulturellen Stadt frei. Bei ihren Erkundungen orientiert sich die Regisseurin an den Tagebüchern und Notizen des armenischen Gelehrten Eremya Çelebi Kömürciyan aus dem 17. Jahrhundert. Aus dem Off erklingen dessen Beschreibungen aus fernen Zeiten, die sich über die gegenwärtigen Bilder legen. Die Kamera entdeckt die Überreste einer Kirche, begibt sich in dunkle Kerker, erkundet Moscheen und Plätze, die Quartiere der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die sich hier einst niedergelassen haben und heute niederlassen wollen.

 

Immer wieder setzt man sich während der Orient Express Filmtage im übertragenen Sinne in einen Zug, der nicht nur Orte, sondern auch Zeitebenen verbindet, die Brücke zwischen Geschichte und Geschichten befährt. Von der grossen Stadthistorie zur individuellen Biografie, von historischen Schriftdokumenten zu privaten Familienfilmen: «Patrida» bedeutet Heimat auf Griechisch, «Patrida» heisst der Film von Ayça Damgacı, in dem sie gemeinsam mit ihrem 88-jährigen, in Istanbul lebendem Vater Ismet eine Reise in dessen bewegte Vergangenheit unternimmt. Vom Bosporus geht es zu Ismets Geburtsort Xanthi, dem Zentrum des Tabakhandels im osmanischen Reich, und nach Zürich. Dort verbrachte der Vater Jugend und Kindheit. Als wiederum sein Vater Anfang der 1950er-Jahre schwer erkrankte, wurde die Familie gezwungen, die Schweiz zu verlassen. Noch heute fühlt sich Ismet dieser Heimat beraubt, fast trotzig spielt er den Sechseläutenmarsch auf der Blockflöte. Mit anderen Augen betrachtet Ayça Damgacı nun die während der Schweiz-Urlaube entstandenen Super-8-Filme. Für sie waren es Ferien, für den Vater war es eine Rückkehr.

 

Der im Iran geborene Kurde Bahman Ghobadi ist ein filmischer Grenzgänger, mit seiner Kamera immer auf Reisen. Er drehte im Iran, wo er sich mit den Argusaugen der Zensur konfrontiert sah, im Irak oder wie jetzt in der Türkei, seiner neuen Wahlheimat. Seine Heldinnen und Helden sind stets auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich niederlassen können, nach ihrem ureigenen Platz im Leben. Der Komponist Boran meint, ihn gefunden zu haben. Noch nie hat seine Frau das Meer gesehen. Umso glücklicher ist er, sich endlich eine Wohnung mit Ausblick auf die Küste leisten zu können. Doch bei einem Unfall kommen die Frau und der gemeinsame Sohn ums Leben. Ghobadis neuer Film «The Four Walls» erzählt von einer ungewöhnlichen Trauerarbeit mit politischen Dimensionen. Boran erwacht aus seiner Agonie, als vor seinem Haus ein Neubau errichtet wird, der den Blick aufs Meer verstellt. Im Gedenken an die Verstorbenen nimmt er den Kampf gegen eine kafkaeske Bürokratie und eine korrupte Bauwirtschaft auf. Er verlangt den Abriss des luxuriösen Appartementgebäudes, das auch Sinnbild einer brutalen Gentrifizierung ist.

 

Gleich mehrere Filme beschäftigen sich mit dem Leben und Überleben von Kurd:innen, tauchen in einen Alltag ein, der sich im permanenten Ausnahmezustand befindet, der immer auch politisch ist. Um eine eigenwillige Form der Trauerarbeit geht es auch in Mehmet Ali Konars «The Dance of Ali und Zîn» (Govenda Ali û Dayka Zîn). Ali, ein junger, aus einem abgelegenen Dorf stammender Kurde, wird in Istanbul von der Polizei erschossen. Zwei Wochen nach der Beerdigung des Sohnes beschliesst seine Mutter, eine Hochzeit für ihn auszurichten. In manchen Momenten entwickelt der Film dokumentarische Qualitäten, begibt sich in einen dörflichen Rhythmus fern der globalisierten Welt. Und er wirft Fragen auf: Gibt es hier eine Perspektive für die Jugend? Weshalb ist Ali nach Istanbul gegangen? Warum ist der Anblick von Isas kleinem Sohn mit den Schulbüchern in der Hand so berührend?

 

Zukunftsvisionen einerseits und Bildungsschranken andererseits – in diesem Spannungsfeld bewegt sich der Orient-Express mit den Filmen zwischen ländlicher Abgeschiedenheit und Metropolen, wo – das zeigt «The Exam» von Shawkat Amin Korki – die Aussicht auf Ausbildung und die damit einhergehende Loslösung von tradierten Strukturen nicht unbedingt besser sind. Korki verbindet Elemente des Politthrillers mit der Geschichte zweier Schwestern. Schauplatz von «The Exam» ist die irakisch-kurdische Grossstadt Suleimaniyya. Ein Studium könnte Rojin vor der Zwangsverheiratung bewahren. Doch dafür muss sie die Aufnahmeprüfung bestehen, und das kostet Geld. Rojin und Shilan, ihre ältere, unglücklich verheiratete Schwester, begehren gegen die patriarchalen Strukturen ihrer Umgebung auf und gegen eine Korruption, die auch das Bildungssystem erfasst hat. Ihr Kampf um Gleichberechtigung und Selbstbestimmung weist über den eigentlichen Schauplatz hinaus. «The Exam» beginnt und endet am Meer. Während seiner Flucht – das erfährt man beiläufig – ist das Boot von Rojins Freund gekentert. Auf leise nachhallende Weise steht so auch dieser Film im Zeichen einer Flucht.

 

Ein weiteres visuelles Leitmotiv: von Krieg und Kämpfen versehrte Landschaften. Aus einer solchen ist Andriy Suleyman, Sohn eines kurdischen Vaters und einer ukrainischen Mutter, 2012 mit seiner Familie geflohen. Von Syrien zog man in die Heimat der Mutter nach Lyssytschansk in der Ostukraine. Dort wird die Familie von einem anderen Krieg eingeholt. In ihrem rein beobachtenden Dokumentarfilm «This Rain Will Never Stop» begleitet die ukrainische Regisseurin Alina Gorlova den mittlerweile 20-jährigen Andriy. Der junge Geflüchtete will die Hilfe, die ihm widerfuhr, weitergeben. Er arbeitet fürs Rote Kreuz, versorgt Menschen mit Hilfsgütern und Nahrung. Immer wieder tritt die Kamera einen Schritt zurück, gibt den Blick auf desolate Lebensbedingungen frei. Mit ihrem aufmerksamen Blick gelingen auch dieser Regisseurin Szenen, die Einzelschicksale in universelle Erzählungen überführen. Andriy bringt kleine Heizöfen in ein abgelegenes, verschneites Dorf und trifft auf einen alten Mann, der mit seinen Ziegen in einem baufälligen Haus lebt. Zärtlich stellt der Alte den Tieren eine Schüssel mit Milch hin. Wie mag es ihm heute ergehen? Wie seinen Nachbar:innen? An welche Bilder aus seiner Heimat fühlt sich Andriy erinnert?

 

Wohnen mit unwirtlicher Aussicht! Die Idee für ihren Film «Klondike», eine ukrainisch-türkische Koproduktion, kam Maryna Er Gorbach nach dem Abschuss einer malaysischen Boeing 777 am 17. Juni 2014. Sie habe aus einer lokalen Perspektive von den Ereignissen erzählen wollen, so die Regisseurin. Ihr Film spielt in einem ostukrainischen Dorf nahe der russischen Grenze. Hier leben die hochschwangere Irka und ihr Mann Tolik im gemeinsamen Haus. Eine Wand des Wohnzimmers wurde weggebombt, nun blickt das Paar auf eine Landschaft, die sich in einen Kriegsschauplatz verwandelt hat. Auch «Klondike» verwebt eine persönliche Familiengeschichte mit den Zeitläuften. Auch hier erlebt man Menschen, die sich ihrem Schicksal widersetzen. Auch hier stirbt die Hoffnung zuletzt. Und auch das verbindet die Protagonist:innen dieser Orient Express Filmtage: Sie glauben an Veränderung und bewahren sich mitunter einen eigentümlichen Sinn für Humor. «Wenn alles vorbei ist, lass uns ein grosses Fenster machen, da wo jetzt ein Loch ist.»

 

Anke Leweke ist freie Filmjournalistin für Print (Die Zeit, taz, Tagesspiegel) und Radio (Deutschlandfunk Kultur, radioeins vom rbb). Von 2001 bis 2019 war sie beratendes Mitglied im Auswahlgremium der Berlinale (Wettbewerb und Forum) und Delegierte für das iranische Kino. Seit 2015 berät sie das Internationale Filmfestival in Hongkong und ist auch für DOK Leipzig tätig.

 

Zum ersten Mal sind die «Orient Express Filmtage» im Kinok zu Gast und führen mit Thrill, Poesie und dokumentarischem Blick in die Türkei, in kurdische Gebiete, nach Griechenland und auch in die Ostukraine. Das Festival baut Brücken zwischen den Ländern, inspiriert zum kulturellen Austausch und regt in seiner dritten Ausgabe zur Reflexion über Freiheit, Heimat und Zugehörigkeit an. Die Filme nehmen versehrte Landschaften in den Blick, lassen uns in Familiengefüge eintauchen, die in Zeiten von Krieg und globaler Migration von Kraft und Wille nach Veränderung geprägt sind – und spenden so Hoffnung auf ein besseres Morgen.