Das Kino geht an die frische Luft

 

von Geri Krebs

 

Eigentlich mag ich Open-Air-Kinos nicht besonders. Eigentlich. Aber keine Angst, das hier wird kein Open-Air-Verriss, sondern im Gegenteil ein Lobgesang auf das lauschigste Freiluftkino der Ostschweiz. Denn in diesem Sommer, der wie der Frühling in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist alles anders. Doch zuerst eine Rückblende ins Jahr 2006. Damals war ein Hitzesommer, zwar nicht so extrem wie 2003 oder 2018, aber mir reichte es, als bereits im Juni die Temperaturen Tag für Tag über 30 Grad stiegen. In jenen Tagen und Wochen ging auch die «Sommermärchen»-Fussball-WM mit ihren unvermeidlichen Lärmimmissionen über die Bühne. In einer Zeitungskolumne pries ich angenehme Ruhe, Leere und vor allem Schutz vor Hitze in wohltuend kühlen Kinosälen. Passend zur Lobpreisung cinephiler Indoor-Genüsse folgte in besagtem Text die volle Breitseite gegen Open-Air-Kinos. Diese lockten damals in der ganzen Schweiz noch ein Viertel mehr Zuschauerinnen und Zuschauer an als in den vergangenen Jahren (über 400’000 schweizweit, gegenüber 340’000 im Jahr 2019), doch ich schimpfte munter drauflos: die Mückenschwärme, die störenden Umgebungsgeräusche, das lauwarme Bier, die unbequemen Plastikstühle, die unzivilisierten Sitznachbarn, von denen einige sogar rauchten etc.

 

Das ist alles längst vergessen. Und dieses Jahr ist ohnehin anders. Die Saison der Open-Air-Kinos beginnt ungewöhnlich früh. Während der Entstehungszeit dieses Textes (Mitte Juni) gibt es bereits Freilichtvorführungen von Filmen. Etwa an so exotischen Orten wie Dietlikon, Freienstein, Jona, Thun oder Rapperswil BE. Doch bereits viel früher, am 3. April, zu einer Zeit, da man noch befürchten musste, der Lockdown würde möglicherweise ewig dauern, erwärmte ein Artikel in Der Spiegel das Herz des Kinoverliebten. Der kurze Text beschreibt eine Erfindung, die man bereits verschwunden glaubte wie Tonbandgeräte, Telefonkabinen und Tupperware-Partys: das Autokino, auch Drive-In-Cinema genannt. Diese Institution, die ihre grosse Zeit in den USA der 1950er- und 1960er-Jahre erlebte, hatte sich in einem Vorort der Ruhrgebietsmetropole Essen über all die Jahre tapfer gehalten und bot dort bis zu 1000 Fahrzeugen Platz. Mit einer um drei Viertel reduzierten Platzzahl funktionierte sie auch in jenen Wochen der gespenstisch leeren öffentlichen Räume, konnte sie doch die behördlichen Vorgaben zum Social Distancing erfüllen: In jedem Wagen durften nur zwei Personen sitzen, die Tickets wurden ausschliesslich online verkauft, diese wurden durch die geschlossenen Autofenster eingescannt, die während der Vorführung nicht geöffnet werden durften.

 

Heute, in der «neuen Normalität», sind diese strengen Regelungen gelockert, ja weitgehend hinfällig geworden. Dennoch erfreut sich das Autokino in diesen Wochen und Monaten auch hierzulande eines veritablen Revivals. Von den oben erwähnten Open-Air-Kinos funktionieren drei als Drive-In, in den nächsten Wochen werden zahlreiche neu hinzukommen – nicht weniger als 20 sind geplant. Dem Vernehmen nach hatten selbst die Verantwortlichen des Filmfestivals Locarno sich eine Zeitlang überlegt, auf der Piazza Grande in den ersten elf Augusttagen ein Autokino einzurichten – bevor sie am 29. April, gestützt auf den Bundesratsentscheid über Grossveranstaltungen, den Verzicht bekannt gaben. Das schönste Open-Air-Kino der Welt findet also erstmals in seiner über 70-jährigen Geschichte nicht statt. Keine Fledermäuse, die – in früheren Jahren häufig, in den letzten Jahren nur noch selten – während einer Schiesserei ungerührt vor der Riesenleinwand vorbeifliegen, kein Wetterleuchten samt fernem Donnergrollen, das in einem mitternächtlichen Thriller das herannahende Unheil akzentuiert und auch kein subtropischer Starkregen, der just in dem Moment einsetzt, da die Verliebten in den Pool steigen. Freiluftvorführungen sind übrigens so alt wie das Kino selbst, das 1895 als Jahrmarktattraktion begann. Bereits 1900 wurden in Athen in den heissen Sommermonaten die bewegten Bilder des Kinematografen ausserhalb der Jahrmarktsbuden in Hinterhöfen gezeigt. Und 1916 entstand in der australischen Stadt Broome das erste Open Air Cinema Theatre, ein Fall fürs Guinness-Buch, denn es existiert noch heute.  

 

In reduzierter Form zwar und unter nicht ganz tropischen Verhältnissen kann man nun in diesem Sommer der angezogenen Handbremsen Filmgenuss samt allfälligem Wetterleuchten auch im Open Air des Kinok erleben. Und sich bei Gelegenheit vielleicht daran erinnern, dass die Unentwegten, die das Kinok 1985 ins Leben riefen, seinerzeit mit Freilichtvorführungen an ausgefallensten Orten auf sich aufmerksam gemacht hatten: Projektionen im Schnee, in der Kehrichtverbrennungsanlage, im Volksbad, in der Frauenbadi, im Sittertobel. Zudem zogen sie in den 1980er-Jahren, noch vor dem grossen Open-Air-Boom, einen Sommer lang durch den ganzen Kanton, um auf den schönsten Dorfplätzen eine Leinwand aufzustellen und die Leute ins Lichtspiel unter freiem Himmel einzuladen. Später fanden die Vorstellungen an den fünf Stadtbahnhöfen, in den Gärten der Restaurants Bavaria und Gschwend, im Hof des Werkstalls und des Hadwigschulhauses, an der Aussenspielstätte des Theaters und in verschiedenen Gassen statt. Die Kinokis, wie sich die Betreiber früher nannten, waren seit ihren Anfängen nomadisch veranlagt und grosse Freiluftfans. Doch irgendwann war die Luft raus, die Suche nach neuen Aufführungsorten schwierig und der Aufwand zu gross.

 

Als 1999 die Anfrage der Galerie Hauser & Wirth kam, das Rondell der Lokremise mit einem Open Air zu bespielen, waren die Kinok-Verantwortlichen sofort begeistert. Die erste Leinwand war klein, selbst gefertigt und hing weit oben an den Holztoren, doch das Publikum war bezaubert von dem schönen Ort, die Besucherzahlen waren berauschend. Hauser & Wirth ist nach fünf Jahren weggezogen, das Kinok sechs Jahre später eingezogen. Seit nunmehr 21 Jahren bespielt es Sommer für Sommer den Innenhof, nur einmal unterbrochen durch einen Abstecher über die sieben Gleise in den Innenhof des Lagerhauses, als die Lokremise für die heutigen Nutzer umgebaut wurde. Mittlerweile ist die Leinwand um ein Mehrfaches grösser und der mobile 35-mm-Projektor durch einen digitalen ersetzt. Doch Sommer für Sommer denkt sich das Kinok-Team ein schönes Programm aus, stellt Leinwand und Projektor auf und hofft auf gutes Wetter und zahlreiche Gäste.

 

Bald ist es wieder so weit, und die Nächte werden verheissungsvoll und hoffentlich warm. So könnten in diesem Ausnahmesommer das gute alte Open-Air-Kino wie das Autokino ein Revival erleben und auch diejenigen vor die Leinwand locken, die sonst Projektionen im Saal bevorzugen. Und die dann erleben, wie schön es sein kann, nachts draussen zu sitzen, vor sich die Leinwand und über der Leinwand der Mond, der sich langsam über den Freudenberg schiebt. Und der Nachthimmel mit seinen dramatisch-dunklen Wolkenformationen als zweite Riesenleinwand über der ersten. Dazu gesellen sich die Geräusche scharf beobachteter Züge, um einen weiteren Filmtitel in den Text einzuschmuggeln, während eine auffrischende Brise daran erinnert, dass sich das Freiluftkino auf 670 voralpinen Höhenmetern befindet. Ein atemraubendes Spektakel, das man so nur einmal im Jahr während weniger Sommernächte geniessen kann. Wenn es nicht regnet, genau fünfzehn Mal. Was in den hiesigen Breitengraden leider nie vorkommt. Trotzdem: Es lebe das Kino im Rondell der Lokremise unter dem Sternenhimmel von St.Gallen. Ziehen Sie sich warm an und kommen Sie. Bitte. Alle.

 

Geri Krebs ist Filmjournalist und hat die Nachwehen von zwölf Wochen Kinoentzug noch nicht ganz überwunden. Er kennt Kinosäle und Open-Air-Kinos auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent, aber in einem Autokino war er noch nie.

 

Das Openair in der Lokremise findet vom 9. Juli bis 8. August jeweils am Donnerstag-, Freitag- und Samstagabend um 21.45 Uhr statt. Bei schönen Wetter werden die Filme im Innenhof der Lokremise gezeigt, bei Regen im Kinosaal. Bei unklaren Wetterverhältnissen gibt unsere Webseite Auskunft. Bitte reservieren Sie unter www.kinok.ch.

 

Für unser Openair haben wir in unserem Archiv gestöbert und die grossen Publikumslieblinge herausgepickt. So gibt es ein Wiedersehen mit Herzensfilmen wie Jim Jarmuschs «Paterson», Sally Potters «The Party» oder dem Oscargewinner «Parasite». Der wunderbare Harry Dean Stanton beglückt uns noch einmal in seiner letzten Rolle als kauziger «Lucky», Josef Hader mit seinem rabenschwarzen Regiedebüt «Wilde Maus» und Glenn Close als frustrierte Schriftstellergattin in der bitterbösen Komödie «The Wife». Elf Sternstunden für hoffentlich laue Sommernächte haben wir für den Juli zusammengestellt – vier weitere folgen im August.