Ins Kino gehen. Endlich. Wieder. Oder warum es nicht nur für Kinogeher wichtig ist, dass die Kinos wieder öffnen.

 

von Rolf Bossart

 

1989, kurz bevor die Mauer aufging, sass ich nachts um zwei Uhr in einem Westberliner Kino. Meine Freunde, müde vom Trinken und Flirten, schliefen neben mir in den roten Plüschsesseln. Ich aber war hellwach und folgte dem Film über die Apartheid mit einem unwiderstehlichen Soundtrack von Abdullah Ibrahim. Vielleicht handelte der Film nicht von der Apartheid, sondern von ganz gewöhnlichen Dingen. Aber das spielt keine Rolle. In meiner Erinnerung ist dieses Kino, diese Musik und der Fussmarsch quer durch Berlin zurück zum Hotel mein persönliches Mauerfallerlebnis.

 

Nicht grundlos ist die Literatur reich an ähnlich symbolisch aufgeladenen Kinoerlebnissen. Zum Beispiel in Walker Percys Roman «Der Kinogeher». Das Kino ist auch im Film Schauplatz zahlreicher Schlüsselszenen. Denken wir nur an das grossartige Finale in Tarantinos «Inglourious Basterds». All dies weist darauf hin, dass das Kino als Ort eine spezielle und eigenständige Bedeutung hat. Eine Bedeutung, die von Fans schon lange beschworen wird, wenn wieder irgendwo ein altes Kino seine Türen schliessen muss, die aber einer breiteren Bevölkerung nie stärker zu Bewusstsein gekommen ist als in den letzten Monaten der zwangsverordneten Schliessung aller Kinos.

 

Was hat es denn auf sich mit dem Reiz des Lichtspieltheaters? Wäre das Kino nur jener anachronistische Ort, an dem umständlicherweise irgendetwas gezeigt wird, das man zu Hause billiger, einfacher und häufiger sehen kann, es hätte längst ausgedient. Und wäre das Kino ein Ort, den man nur aufsucht wegen der technischen Raffinessen, die man noch nicht zu Hause geniessen kann, gäbe es keine Programmkinos, fänden nur 3-D-Filme ein Kinopublikum, würden keine gewöhnlichen Filme mehr fürs Kino produziert.

 

Was das Kino bietet, muss offensichtlich mehr sein als der Film, den man sich ansehen will. Denn wenn es auch so ist, dass ein Kino, das nur schlechte Filme zeigt, bald kein Kino mehr ist, so ist es doch nicht so, dass jeder schlechte Film dem Kinoerlebnis schadet. So wie auch die schlechte Predigt den Kirchenraum nicht verunstaltet oder die schlechte Inszenierung das Knistern im Theaterraum vor Beginn der Aufführung nicht entwertet. Vielmehr hat man im Kino immer Glück. (Am Vordach des Kinos im Roman «Der Kinogeher» steht die Inschrift: «Wo das Glück so wenig kostet.») Ist das Kino voll, so ist man Teil einer bedeutsamen, denkwürdigen Veranstaltung. Man hat den Film gesehen, den alle sehen wollten, man war an jenem Abend da, als das Kino aus allen Nähten platzte usw. Ist das Kino leer, hat man ebenfalls gewonnen. Man war da, während alle anderen etwas verpasst haben, man freut sich darüber, dass man so viel Platz hat, dass der Film fast nur für einen allein gespielt wird, dass man jederzeit, wenn es brutal wird oder man auf die Toilette muss, rausgehen kann. Auch die Qualität des Films kann dem Glück im Kino nichts anhaben. Ist der Film gut, ging die Hoffnung in Erfüllung, ist er schlecht, auch gut, denn nun hat man verschiedene Optionen: Man kann dem Film von Szene zu Szene eine neue Chance geben, um dann doch irgendwann verärgert den Saal zu verlassen. Man kann sich die ganze Zeit fragen, wie es ein so schlechter Film überhaupt ins Kino geschafft hat und welche Frechheit doch die euphorische Ankündigung im Programmheft war. Man kann sich über die anderen Leute wundern, die anscheinend Gefallen finden am Gezeigten, um sich gleichzeitig besser und kritischer zu fühlen als diese. Und schliesslich kann man nachher an der Bar darüber sprechen oder versuchen, bei anderen etwas Substantielles aufzuschnappen.

 

Das alles geht zu Hause nicht. Ganz egal, ob der Film gut oder schlecht ist, man hat an nichts teilgenommen. Denn es ist leider wahr, was im alten TV-Werbespot versprochen wurde: Bei ARD, ZDF und Netflix sitzt man immer in der ersten Reihe. Das heisst, da bin nur ich und dann direkt – ganz ohne Vermittlung durch die Programmgestaltung, die Kinokasse, die Platzsuche, den Projektor, die Vorfilme – der nackte Film. Auch wenn Familie oder Freunde da sind, ändert das an der Sache nur wenig.

 

Obgleich die eigenen vier Wände auch ihre Vorzüge haben, bringen sie nicht das hervor, was wir Kultur nennen und was wir brauchen wie der Fischer das Meer. Das traute Heim ist auf Dauer ein Feind der Kultur, und daran sind nicht nur der Home-Trainer und die Trainerhose schuld, sondern es fehlt an vielem anderen. Ganz entscheidend fehlt zum Beispiel das Weggehen oder das Hingehen, und damit eingeschlossen das Nichtwissen, ob man hingehen soll, und das Dann-doch-Hingehen. Das Nachhausegehen fehlt, wo man der frohen Stimmung Raum geben, die Enttäuschung loslassen kann, miteingeschlossen das Nichtwissen, ob man überhaupt schon nach Hause gehen soll. Es fehlt das Konsultieren des Programms, die Freude auf eine Neuheit, der Ärger, dass gerade heute, wo man Zeit hätte, nichts Gutes gezeigt wird, der Entschluss, sich dann doch etwas Zweifelhaftes anzuschauen, weil man eben heute ins Kino gehen will und nicht morgen.

 

Und schliesslich fehlt zu Hause immer der Blick der Anderen, die Anwesenheit der Fremden. Erst die Anderen, die zufällig auch noch Anwesenden, diejenigen, die mich zwar nerven oder anstecken könnten, die aber auch die sein könnten, die mir immer gefehlt haben zu meinem Glück, holen mich heraus aus der Enge meines Daseins, geben mir das Bewusstsein, über Ego und Sippschaft hinaus zu etwas Grösserem zu gehören: zur menschlichen Gattung. Dort wo wir, die Fremden, gemeinsam, im selben öffentlichen – das heisst für alle fremden – Raum dasselbe Interesse teilen, derselben fremden Intention folgen, geschieht die Verwandlung von Menschen für sich zu Menschen an sich.

 

Und das Wunder an der Sache ist, dass dies alles geschieht, auch wenn ich gar nicht selber da bin, wenn ich verhindert bin oder keine Lust habe. Und es geschieht nicht nur, sondern es geschieht auch für mich. Zu Hause zu sitzen und zu wissen, dass gerade jetzt im Kinok «Zabriskie Point» gezeigt wird, im Theater Hamlet zaudert, im Palace Jeffrey Lewis spielt und Stahlberger in der Kellerbühne Premiere hat, ist entschieden besser, erhebender, bedeutender, als wenn das alles nicht geschieht.

 

Und daher der Vorschlag für den nächsten Lockdown: Ein Minimum muss möglich sein. Selbst wenn in jedem Kino der Schweiz pro Vorstellung nur ein Besucher sitzen dürfte (ein Platz, den man verlosen könnte), dann gäbe das zusammen mit der Person an der Kasse und der Operateurin drei Menschen. Und drei Fremde zusammen bilden bekanntlich jene magische Grösse, die es braucht, damit an einem Ort die Menschheit als Ganzes repräsentiert ist.

 

Rolf Bossart ist Theologe und Publizist und verbringt diesen Sommer zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ohne das Filmfestival Locarno.

 

Zwölf Wochen mussten wir darben und haben versucht, Ihnen mit unserem «Pantoffel-Kinok» das Warten ein wenig zu versüssen. Das echte Kinoerlebnis konnte dies natürlich nicht ersetzen. So freuen wir uns, dass sich nun auch für das Kinok der Lockdown lockert. Wir verbannen die Pantoffeln wieder unter die Couch und tasten uns heran an die «neue Normalität». Vorsichtigen Schrittes, denn natürlich ist Achtsamkeit nach wie vor geboten. Wir möchten Ihnen die Rückkehr in den Kinosaal so sicher und entspannt wie möglich gestalten. Wir fühlen uns gerüstet und hoffen, auch Sie sind wieder bereit, sich auf das Abenteuer Kino einzulassen.