Luchino Visconti: Gnadenlos schön

 

von Philipp Brunner

 

Mit «Ossessione» und «La terra trema» hat Luchino Visconti Hauptwerke des Neorealismus geschaffen, mit «Il gattopardo», «Senso» und «Ludwig» aber wohl auch die prachtvollsten, detailgenausten Historienfilme. In drei Jahrzehnten ist so ein Werk entstanden, in dem visuelle Opulenz und messerscharfe Zivilisationskritik miteinander verschmelzen. Luchino Visconti wird 1906 in eines der ältesten Mailänder Adelsgeschlechter hineingeboren. Standesgemäss besucht er eine Kavallerieschule, die er im Rang eines Hauptfeldwebels abschliesst. Er züchtet Vollblüter, richtet Reitturniere aus, ist unzufrieden. Mit 29 Jahren verlässt er das faschistische Italien, reist umher und landet in Paris. Dort bewegt er sich im Umfeld der Avantgarde und des «Front populaire», zu dem Kommunisten, Sozialisten und linke Bürgerliche gehören. Auch Filmemacher wie Jean Renoir, René Clair und Julien Duvivier zählen dazu. Gesellschaftskritisch beobachten sie den Alltag kleiner Leute. Ihre poetischen Bildgestaltungen tragen der Bewegung ihren Namen ein: «Poetischer Realismus». Bei Renoirs «Partie de campagne» (1936) wird Visconti als Regieassistent und Kostümbildner engagiert, eine Arbeit, die zum prägenden Erlebnis wird. Über Renoir wird er später sagen: «Er übte enormen Einfluss auf mich aus, sowohl was meine politischen als auch was die ästhetischen Einsichten betraf.»

 

Zurück in Italien dreht er mitten im Zweiten Weltkrieg seinen ersten eigenen Film: «Ossessione» (1943) wird zur hocherotischen Dreiecksgeschichte, die sich am Rand der Gesellschaft zuträgt und von Hörigkeit, Armut und Gewaltbereitschaft geprägt ist. 1948 legt er mit «La terra trema» nach: Die mit Laiendarstellern besetzte Milieustudie schildert den kargen Alltag in einem sizilianischen Fischerdorf und den vergeblichen Versuch Einzelner, sich aus einem System wirtschaftlicher Ausbeutung herauszukämpfen. Bis heute gelten «Ossessione» und «La terra trema» als Hauptwerke des italienischen Neorealismus, jener an dokumentarischer Präzision und sozialem Engagement interessierten Stilrichtung. Für sich selbst lehnt Visconti die Bezeichnung «neorealistisch» ab. Ein Dokumentarist ist er nicht, und die auf praktische Umsetzbarkeit ausgerichtete Sozialkritik seiner Kollegen greift seiner Ansicht nach zu kurz.

 

In «Senso» (1954) bringt er zum ersten Mal einen historischen Stoff auf die Leinwand, erzählt von der venezianischen Gräfin, die sich in einen jungen Offizier der österreichischen Besatzungsarmee verliebt. Am Ende verliert sie alles: das politische Gewissen, den sozialen Rang, den Verstand. «Senso» markiert den Anfang einer Reihe von Filmen, die heute wohl am stärksten mit dem Namen Visconti assoziiert werden. Zu ihnen gehören «Il gattopardo» (1963) über den Niedergang der Aristokratie im Italien der Befreiungskriege; «La caduta degli dei» (1969), das Sittengemälde über Unmoral und Dekadenz im Dritten Reich; «Morte a Venezia» (1971), die schwelgerisch-morbide Verfilmung von Thomas Manns «Tod in Venedig»; «Ludwig» (1973), das verschattete Porträt des Bayernkönigs.

 

In epischer Breite und zugleich überrealistischer Exaktheit spielen diese Filme in Interieurs von berauschender Opulenz und äusserstem Luxus. Visconti ist berüchtigt für seine Akribie: Noch die unbedeutendsten Ausstattungsobjekte sollen echt sein. Was er an Kunstgegenständen nicht selbst bereitstellt, entlehnt er schon mal bei der bayerischen Königsfamilie. Er scheut keinen Aufwand: Für den im Spätherbst gedrehten «Ludwig» lässt er echte Veilchensträusse heranschaffen. Sie dekorieren das Geschirr von Pferden, die – für die Dauer von einer Sekunde – eine Kutsche durchs Bild ziehen.

 

Was für die Ausstattung zutrifft, gilt auch für die Kostüme. Piero Tosi schneidert ihm die elegantesten Anzüge und Uniformen, die atemberaubendsten Roben. An Erlesenheit und Kosten kaum zu überbieten, sind sie vor allem für die Schauspielerinnen nicht selten eine Tortur. Claudia Cardinale wird in «Il gattopardo» bis an die Grenze des Zumutbaren geschnürt. Und während der Dreharbeiten zu Ludwig versucht Romy Schneider in einer Pause erfolglos, sich ein Hühnerbein einzuverleiben – stehend, weil im hautengen Kostüm an ein Sitzen nicht zu denken ist.

 

Doch die Kleider und Bauten sind weit mehr als penibel recherchierte Requisiten: Sie bilden betörende Oberflächen, unter denen die Gewalt nistet, Figuren zugrunde gehen, Konflikte sich in entsetzlicher Raserei entladen. Immer wieder inszeniert Visconti geradezu rituelle Ankleideszenen. Doch nie dient das Kleid dazu, die Individualität einer Figur zu unterstreichen, sondern im Gegenteil dazu, sie bis zur Unkenntlichkeit zuzudecken. Der Akt des Einkleidens ist stets ein Akt des Kostümierens. Er ist die Voraussetzung dafür, zur Gesellschaft zu gehören, und zugleich der Grund dafür, warum das nie gelingen kann, weil es immer auf Kosten der Persönlichkeit geht. Mit beispielloser Rigorosität spielt Visconti dieses Prinzip in «Ludwig» durch. Wie der junge König für die Krönungszeremonie ausstaffiert wird, ist ein quälend langer Prozess, an dessen Ende der letzte Rest von Individualität erstickt ist. Der groteske Prunk, in dem dies alles stattfindet, bildet die sinnfällige Szenerie für eine überkommene, zutiefst menschenfeindliche Ordnung, deren Zusammenbruch unumgänglich ist.

 

Viscontis Historienfilme (und nicht nur sie) sind insofern melodramatisch, als sie von der Unmöglichkeit privaten Glücks erzählen, von unterdrücktem Begehren und selbstzerstörerischer Gewalt. Zugleich sind sie zivilisationskritische Analysen, die scheinbar realistischeren Werken wie «Bellissima» (1951), «Rocco e i suoi fratelli» (1960) und «Vaghe stelle dell’Orsa» (1965) in nichts nachstehen. Hier wie dort sind die Figuren ewige Hungerleider, angetrieben von emotionaler Bedürftigkeit oder materiellem Mangel. Sie sind kapitalistischen Mechanismen von Herrschaft und Ausbeutung ausgeliefert und schreiben sie zugleich fort. Sie sind Opfer und werden zu Tätern, die glücklos nach dem Tauschprinzip handeln, von dem nichts, am allerwenigsten die Liebe, ausgenommen ist. Wozu sind Menschen fähig, wenn sie in einem solchen System handeln? Und welche Folgen hat ihr Tun für den Einzelnen und die Gesellschaft? Viscontis Antwort bleibt zweischneidig: In seinen Filmen, so resümierte 1988 der legendäre deutsche Filmpublizist Peter Buchka, bleibe die Welt, wie sie ist. «Aber», so sagt Visconti bis zuletzt, «sie sollte anders sein.»

 

Philipp Brunner ist Filmpublizist und Dozent für Filmwissenschaft an der Universität Zürich.

 

In seinem opulenten Spätwerk wird Luchino Visconti zum «Chronisten der Gefühle in Umbruchszeiten», wie der Filmtheoretiker Karsten Witte einmal sagte. In seinen letzten Filmen, in denen das Abgleiten aristokratisch-bürgerlicher Kultur in Barbarei das grosse Thema ist, gehen Politik und Ästhetik eine enge Verbindung ein. Ästhetische Perfektion und Opulenz sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem Giganten des italienischen Films stets um die Analyse der sozialen Verhältnisse und um Gesellschaftskritik ging. Im Februar ist auch Viscontis monumentalstes, persönlichstes und masslosestes Werk zu sehen: «Ludwig» mit Romy Schneider und Helmut Berger.