Als Lucy Diamanten in den Himmel streute
von Beat Grossrieder
1967 ist das Jahr des Summer of Love, die Hippie-Bewegung aus Kalifornien erweitert auch die europäische Kultur. Film, Kunst und Musik sind so psychedelisch und bunt, dass das grosse 68 daneben fast blass wirkt.
Der Gewissenskonflikt scheint unlösbar, als der junge Claude Bukowski eines Tages diesen Brief erhält, vor dem er sich bereits gefürchtet hat. Wir schreiben das Jahr 1965, die Vereinigten Staaten von Amerika führen gegen das kommunistische Nordvietnam seit zehn Jahren einen blutigen Krieg, der sich nochmals zehn Jahre hinziehen wird. Zu Tausenden werden junge Männer eingezogen; schliesslich zählt die US-Truppe eine halbe Million Mann, von denen die wenigsten freiwillig eingerückt sind.
Auch Bukowski muss sich entscheiden: Soll er, wie er es in seiner Kinderstube auf dem Land gelernt hat, folgsam sein und seine Patriotenpflicht erfüllen? Oder soll er auf seine WG-Genossen und seine Liebste hören, die ihm nahelegen, den Dienst zu verweigern? Als «Landei» ist Claude aus dem provinziellen Oklahoma nach New York gekommen, wo er in einer Kommune von «Blumenkindern» ein neues Zuhause findet und sich in ein Mädchen aus gutem Hause verliebt.
Dieser Plot stammt aus «Hair», einem der erfolgreichsten Musicals überhaupt. Seine Premiere hat das Stück im Oktober 1967 an einem kleinen Off-Theater in New York. Im Publikum sitzt der «Hippie-Millionär» Michael Butler, der das Potential des Stoffs erkennt, sich die Rechte am Stück sichert und es im April 1968 am Broadway auf die grossen Bühnen bringt. Von dort tritt es seinen Weg rund um den Globus an; es wird unter anderem auf Deutsch übersetzt und 1970 nach einem aufwendigen Casting auch in Zürich aufgeführt.
«Hair» trifft den Zeitgeist exakt – die Darstellung der Jugend, die sich gegen Spiessertum und Kriegstreiberei auflehnt und als Zeichen des Protests die Haare wachsen lässt, wird zu einem Meilenstein der Popkultur. «Hair» ist eine prototypische Geschichte von «David gegen Goliath»; das Musical behandelt den Kampf einer Gruppe von Aussenseitern gegen das übermächtige Establishment. Denn die Sanktionen sind drastisch, falls jemand den Vietnameinsatz verweigert: Es droht eine Gefängnisstrafe mitsamt gesellschaftlicher Ächtung. Ein frappantes Beispiel dafür gibt der Boxer Muhammad Ali ab: Als sich der King im April 1967 weigert, für die weisse Oberschicht in Vietnam zu kämpfen, um dort farbige Unschuldige zu töten, wird der Champion verurteilt. Zwar kommt er gegen eine hohe Kaution frei, verliert aber seine Boxerlizenz und muss jahrelang auf Wettkämpfe verzichten.
Der junge Claude, die Hauptfigur in «Hair», muss ebenfalls einiges einstecken. Widerwillig tritt er seinen Dienst an und gelangt in ein Trainingscamp in der Wüste von Nevada. Dort wird er hart gedrillt, worüber er sich bei seinen New Yorker Freunden in einem Brief beklagt. Also bricht das WG-Grüppchen nach Nevada auf, wo sie Claude besuchen und befreien wollen. Einer der Hippies kann sich eine Uniform erschleichen, gelangt damit in die Kaserne und tauscht den Platz mit Claude, damit dieser seine Freundin und die Kumpels wiedersehen kann. Doch kaum ist Claude draussen, muss sein Stellvertreter ein Flugzeug besteigen, das ihn nach Vietnam bringt. Am Schluss stehen Claude und die Hippies auf dem Soldatenfriedhof und betrauern den Tod des selbstlosen Kollegen.
«Hair» greift alle diese Konflikte um den Vietnamkrieg auf und wird in zahlreichen Ländern aufgeführt. Dieser Erfolg wird durch die Verfilmung des kürzlich verstorbenen Regisseurs Miloš Forman, die 1979 in die Kinos kommt, zusätzlich befeuert und dauert bis heute an. Seither ist der Soundtrack von «Hair» in manchen WGs und bei vielen Althippies eine gern gehörte Zeitreise zurück zum Flower Power.
Weitere cineastische Perlen von 1967 sind die experimentellen Filme mit soziologischer Prägung von Jean-Luc Godard («Week-End», «2 ou 3 choses que je sais d’elle», «La chinoise») wie auch die wegweisenden Werke von Louis Buñuel («Belle de jour»), Jun Fukuda («Godzilla»), Pier Paolo Pasolini («Edipo re»), Jacques Tati («Playtime») und Roman Polanski («The Fearless Vampire Killers»). Auch die ersten Filme des New Hollywood, «Bonnie and Clyde» von Arthur Penn und «The Graduate» von Mike Nichols, kommen ins Kino. «Blow-Up», der preisgekrönte Film von Michelangelo Antonioni mit der Musik von The Yardbirds und Herbie Hancock, erscheint ganz knapp vor dem Jahreswechsel, am 18. Dezember 1966.
Der Münchner Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer betont in seinem Buch «1967. Pop, Grammatologie und Politik» (Wilhelm Fink, 2017), ein pedantischer Chronist könnte darauf pochen, dass «viele Geschehnisse, die zu 68 gerechnet werden, bereits 1967 stattfanden». Die Gründung der Kommune 1 und die Erschiessung des Studenten Benno Ohnesorg beispielsweise ereignen sich 1967, nicht 68. Und das wohl wichtigste Buch der Achtundsechziger ist laut Stockhammer auch 67 erschienen: «La société du spectacle», das Hauptwerk des französischen Philosophen und Künstlers Guy Debord.
1967 oder 1968? Das ist eigentlich nicht die entscheidende Frage, denn die Forschung spricht längst von den langen Sechzigern, die spätestens mit der berühmten Rede Martin Luther Kings («I Have a Dream») in Washington im August 1963 beginnen und etwa bis zur Mondlandung im Sommer 1969 reichen. Beatles, Minirock, Proteste gegen den Vietnamkrieg – all das setzt in den frühen Sechzigern ein und reicht bis in die Siebziger. Dennoch meint der Musikjournalist Ernst Hofacker in seinem Buch «1967. Als Pop unsere Welt für immer veränderte» (Reclam, Stuttgart 2016): «Verdichtet aber haben sich diese Impulse 1967. Relativ viele Menschen waren in jenem Jahr bereit, Artefakte zu hören, zu sehen oder zu lesen, die (…) heute wieder als outriert gelten.»
Als Beispiel nennt Hofacker das Werk des Land-Art-Künstlers Richard Long «A Line Made by Walking», der so lange auf einer Wiese hin- und hermarschiert, bis ein deutlich sichtbarer Strich in der Landschaft entsteht. 1967 realisiert Michael Snow einen Film, der aus einem einzigen Zoom besteht: «Wavelength». Das Werk ist eine ununterbrochene, 45 Minuten dauernde Kamerafahrt durch einen Raum, die von einem langsam ansteigenden Sinus-Ton begleitet wird. Dabei wird es mehrfach Nacht und wieder Tag; ein solches filmisches Kunstwerk ist zu jener Zeit höchst experimentell.
1967 erscheint mit Roland Barthes «La mort de l’auteur» eine Schrift, die den Tod des Autors propagiert, was ebenfalls revolutionär ist. Nicht den Menschen als Schöpfer eines Textes gelte es ins Zentrum zu stellen, fordert der Philosoph, sondern den Text an und für sich. 1967 ist zudem das Jahr, in dem der Künstler Andy Warhol seine Factory in New York auf Hochtouren bringt; die legendäre Fabrik befindet sich bis Anfang 1968 an der East Street in Manhattan. Dort druckt Warhol mit seinem Team massenweise das Porträt von Marilyn Monroe oder die Suppendose von Campbell. Mit diesen Multiples lässt er seine Kunstwerke pionierhaft mit deren Reproduktionen verschmelzen, wie es Walter Benjamin in «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» schon 1936 vorweggenommen hat.
Unter dem Strich lässt sich sagen: 1967 ist in künstlerischer Hinsicht ein besonderes Jahr. Es entstehen Kreationen, die mit den vertrauten Codes nicht so einfach zu entschlüsseln sind. Also muss es zunächst darum gehen, neue Codes zu entwickeln, um die neuen Phänomene verstehen und einordnen zu können. 1967 passiert dies auf vielen Ebenen gleichzeitig; nötig wird ein neues Fühlen (etwa bei Drogenexperimenten mit LSD und Cannabis), ein neues Sehen (beim Betrachten zeitgenössischer Kunst und moderner Filme) und ein neues Hören (beim Dechiffrieren neuer Musik).
Stichwort Musik: 1967 ist auch musikalisch betrachtet ein ausserordentlich produktives Jahr. Allein im Bereich Pop/Rock erscheinen eine Reihe von Alben, die heute noch zu den wichtigsten Musikproduktionen des 20. Jahrhunderts zählen. Im Januar brillieren die Doors mit ihrem Erstling «The Doors», die Rolling Stones lancieren «Between the Buttons». Im Februar fliegen Jefferson Airplane mit «Surrealistic Pillow» in die Charts, im März erscheinen das Debüt von The Velvet Underground & Nico und die «Greatest Hits» von Bob Dylan. Im Mai bringt Jimi Hendrix sein Debütalbum «The Jimi Hendrix Experience» heraus, das durchstartet wie die sich konkurrierenden russischen und amerikanischen Raketen – übertrumpft einzig vom Album «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» der Beatles, das zwei Wochen später erscheint.
«Sgt. Pepper’s» habe einen «absoluten Höhepunkt» markiert, urteilt Ernst Hofacker. Es handelt sich um das bis dahin aufwendigste Pop-Album überhaupt, welches «grundlegende Neuerungen» mit sich bringt. Für die 13 Songs nehmen sich die Beatles über 700 Stunden Zeit im Studio, auf dem markanten Klappcover mit der berühmten Montage sind als Novum alle Songtexte abgedruckt.
«Sgt. Pepper’s» müsse als «Prototyp des Albums als Kunstwerk» betrachtet werden, so Hofacker. Kaum eine andere Musikproduktion symbolisiere den Geist des Aufbruchs der Sixities besser: «Im Sommer 1967 waren Pepper und die Welt im Einklang. Das Album war der Musik gewordene ‹Summer of Love›, eine farbenfrohe Illustration und ein perfekter Soundtrack des damaligen Zeitgeistes.» «Sgt. Pepper’s» klettert sofort auf Platz eins der britischen Charts und bleibt dort 22 Wochen an der Spitze. Auf der Liste der besten Rockalben aller Zeiten des Magazins «Rolling Stone» figuriert «Sgt. Pepper’s» unerreichbar auf Platz eins.
Das Album enthält neben vielen anderen Perlen die heimliche Hymne an die Zeit der Blumenkinder: «Lucy in the Sky with Diamonds». Heute noch wird gerätselt, ob Komponist John Lennon damit der Modedroge LSD ein Denkmal setzen wollte. Denn abgekürzt enthält der Songtitel exakt die Anfangsbuchstaben des psychedelischen Stoffes. Lennon hat das zwar immer bestritten, aber nie absolut dementiert; um einen simplen Zufall scheint es sich nicht zu handeln. Denn 1967 ist tatsächlich jenes Jahr, in dem die Künste den Menschen lehren, Neues zu entdecken; weshalb also nicht eine Lucy am Himmel, die Diamanten streut …
Nach dem Pepper’s-Album hat 1967 sein musikalisches Pulver noch nicht verschossen. Es folgen – um nur die Wichtigsten zu nennen – die Compilation «Flowers» der Rolling Stones (26.5.), die LP «Bee Gees’ 1st» der Bee Gees (14.6.), das stilprägende «The Piper at the Gates of Dawn» von Pink Floyd (5.8.), die beiden Debüts «Lumpy Gravy» von Frank Zappa (7.8.) und «Big Brother & The Holding Company» von Janis Joplin (31.8.). Im September sorgen die Beach Boys mit «Smiley Smile» (18.9.) und The Doors mit «Strange Days» (25.9.) für Aufmerksamkeit. Die britische Top-Band Cream lässt mit ihrem Zweitling «Disraeli Gears» aufhorchen (10.11.), die Beatles bringen «Magical Mistery Tour» in Umlauf, verbunden mit dem gleichnamigen Kinofilm (27.11.).
Und zum Ausklang von 1967 trumpfen gleich mehrere Stars mit weiteren Perlen auf: Jimi Hendrix mit «Axis: Bold as Love» (1.12.), die Rolling Stones mit «Their Satanic Majesties Request» (8.12.), The Who mit «The Who Sell Out» (15.12.), The Beach Boys mit «Wild Honey» (18.12.). Knapp vor Jahresende, am 27. Dezember, beehrt auch noch der heutige Nobelpreisträger Bob Dylan seine Fans mit seiner achten Studioproduktion: «John Wesley Harding». Unter dem Strich ist 1967 in musikalischer Hinsicht so ergiebig, dass es verfehlt wäre zu fragen, wer damals ein herausragendes Album produziert hatte. Die kreativsten Köpfe veröffentlichen im Summer of Love nämlich gleich zwei Alben oder sogar deren drei. Und verbinden dies – siehe «Mistery Tour» der Beatles – auch noch mit einem veritablen Musikkinofilm, der nach «Lucy in the Sky with Diamonds» einen weiteren Hippie-Evergreen um die Welt schickt: «All You Need Is Love».
Beat Grossrieder ist Journalist und Kulturwissenschaftler und hat Jahrgang 1967. In seiner neusten Buchpublikation («Das Jahr mit den Blumen im Haar. Der Summer of Love 1967 in Zürich», erschienen bei Seismo) setzt er sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen in den langen Sechzigerjahren auseinander. Er lebt in Zürich und ist auch als Musiker/Drummer tätig.