Total Kaurismäki Show Digitally Remastered

 

Akiland betreten

 

von Fabian C. Meier

 

Wie sehnlich haben wir seit den 80-ern und 90-ern jedes Jahr auf einen Film von Aki Kaurismäki gewartet. Schweigsam und schräg standen die Protagonisten im Leben, vom Schicksal mehr geschlagen als getragen. Die Tatsache, dass man aus den Filmen glücklicher herauskam, als man hineingegangen war, konnte wohl nicht nur auf die kathartische Beobachtung zurückgeführt werden, dass anderen übler mitgespielt wurde als einem selbst. Es lag vielmehr daran, dass man Akiland betreten hat, wie es seine Schauspieler liebevoll nennen.

 

Wie seine Ahnen der Nouvelle Vague ist auch Kaurismäki ein fintenreicher Fährtenleger: Mit einem einzigen Schwenk kann er sich in den Kontext seiner persönlichen Geschichte des Films einbetten. So geschieht es in «Drifting Clouds» (1996), dass die Protagonisten Ilona und Lauri aus einem Kinosaal flüchten, aus dem hohles Geballer dröhnt. Während ihnen der Schwenk zur Kasse folgt, kommen sie an drei Filmplakaten vorbei: Das erste kündigt «Night on Earth» von Jim Jarmusch an, Kaurismäkis Alter Ego aus New York, das zweite weist auf Robert Bressons «L’argent» hin, dessen Regisseur Kaurismäkis vielleicht grösstes Vorbild ist, und als drittes erfasst die Kamera das Plakat von Jean Vigos «L’atalante», dem in Kaurismäkis Worten «schönsten Film der Welt». Wir landen mit dem lamentierenden Lauri bei der Kioskfrau, die aussieht wie Anna Karina, Jean-Luc Godards Primadonna aus der Blütezeit der Nouvelle Vague. «Ich will mein Geld zurück, der Film ist Mist», wettert Lauri, denn sein Filmgeschmack ist ähnlich gelagert wie der seines Schöpfers: «Sex und Gewalt überlasse ich den Amateuren in Hollywood.»

 

Solche Abstecher in die Filmgeschichte sind in allen Filmen Kaurismäkis zu entdecken, denn mit Godard teilt er die Zitierwut des Cinephilen. Am weitesten zurückgelehnt hat sich Kaurismäki mit «Juha» (1999), dem letzten Stummfilm des 20. Jahrhunderts. Hier wird gleich eine ganze Phase der Filmgeschichte herbeizitiert, und die spärlichen Dialoge werden auf Zwischentitel gelegt. Aber gesprochen wurde auch schon während der ganzen Proletarischen Trilogie wenig, zu der die frühen Filme «Shadows in Paradise» (1986), «Ariel» (1988) und «The Match Factory Girl» (1990) gehören. Letzterer ist eine von Bresson inspirierte Bilderzählung, in der die Fabrikmaschinen und die finnischen Schlager mehr Seele zeigen als die Menschen aus Fleisch und Blut. In der Rolle des Opfers als Täterin: Kati Outinen. Knapp gezirkelte Dialoge, wie der Wortwechsel beim Kauf von Rattengift, lassen keinen Zweifel am drohenden Unheil aufkommen:

 

«Wie wirkt das?»

«Es tötet.»

«Gut.»

 

In seiner maximal reduzierten Erzählweise wäre dieser Film der ideale Teststreifen für die erklärte Absicht Kaurismäkis, er wolle Filme machen, die auch eine Chinesin vom Land ohne Untertitel versteht.

 

Die Schauspieler in Akiland

Als Hitchcock gefragt wurde, wie er seinen Lieblings-schauspieler führt, meinte er: «Man gibt Cary Grant keine Regieanweisungen, man stellt ihn einfach vor eine Kamera.» Das gleiche lässt sich von Kaurismäkis Arbeit mit Kati Outinen und Matti Pellonpää sagen. Sie wurden zu Kaurismäkis Lieblingsschauspielern, weil sie als erste den Code zu seinen Charakteren knacken konnten. Es ging los mit «Shadows in Paradise» (1986), einer Liebesgeschichte zwischen einem Müllkutscher und einer Supermarktkassiererin. Pellonpää/Outinen waren als Paar für die Filmwelt ein ganz neuer Prototyp, eine Art Bogart/Bacall der finnischen Vorstädte.

 

Matti Pellonpää

Kati Outinen

Was dem Nicht-Finnen leicht entgehen kann, ist die literarische Art, in der Kaurismäkis Dialoge verfasst sind. Dies verleiht ihnen eine eigentümliche anti-realistische, parodistische und zuweilen skurrile Färbung. Pelonpää/Outinen haben auf kongeniale Art herausgefunden, wie diese Sätze gesagt werden müssen, damit sie die volle Wirkung entfalten. Der Rest ist Schweigen. Darin sind Kaurismäkis Figuren grosse Künstler. Sie kommen in dieser Hinsicht wahrscheinlich dem Personal des literarischen Meisters der Pausen am nächsten: Samuel Beckett hat in «Warten auf Godot» auf 87 Seiten 197 mal «Pause» oder «Schweigen» in die Dialoge geschrieben. Wären diese Anweisungen in den Untertiteln der Filme Kaurismäkis jedes Mal notiert, käme man leicht auf ein höheres Text/Pausen-Verhältnis.

 

Kaurismäki war von seinem ersten Film an klar, dass auch nur ein kleines Zuviel an schauspielerischer Empathie die beabsichtigte Filmwirkung vollkommen zerstört. Erlaubt ist nur komprimierter Ausdruck: «Das Auge spricht, nicht das Gesicht. Ich hasse das Ausagieren so sehr, dass ich nur schon das Agieren nicht zulasse.» Das Pathosfreie und Zurückhaltende kommt von einem ganz spezifischen Gefühl, das man anfänglich nur Finnen zutraute. In keinen anderen Filmen tönen Synchronsprecher trauriger in der hoffnungslosen Herausforderung, Sinn und Ausdruck in Einklang zu bringen. Die nachfolgenden Kaurismäki-Schauspieler – und sogar einige Nicht-Finnen – konnten sich an Pelonpääs und Outinens früher Meisterschaft orientieren. Kaurismäkis untrüglicher Sinn fürs Casting tut sein übriges: In seinen Filmen versammeln sich Ensembles mit sehr authentischen Typen, so dass die visionäre Künstlichkeit zu organischer Filmkunst werden kann.

 

Buster Keaton auf Valium

Wenn man jemandem Respekt dafür schuldet, noch melancholischer in die Welt geblickt zu haben als die Kaurismäki-Helden, dann ist das Buster Keaton, der Mann, der niemals lachte. Er ist fest in ihrer DNA verankert, nicht nur wegen seinem stoischen Ernst, sondern auch dem lakonischen Humor und einer gewissen radikalen Spontanität. Bekanntlich besass Buster Keaton unterhalb des Kinns einen ausgesprochen vitalen Bewegungsapparat, dessen natürliche Fortbewegungsart der Slapstick war. Im Gegensatz dazu scheint den Figuren von Kaurismäki jede Hektik fremd zu sein. Nichtsdestotrotz inszeniert er sie immer wieder nach der absurden Logik eines Buster Keaton in einer entschleunigten Slapstick-Manier. Das funktioniert etwa so: In «Drifting Clouds» findet Ilona in einer heruntergekommenen Kneipe einen Job unter der Bedingung, dass sie sowohl kocht als auch serviert. Ihrer Ehre als Oberkellnerin geschuldet, versucht sie vor den Gästen den Eindruck zu erwecken, dass zwei Personen an der Arbeit sind. Sie öffnet die Klappe zur Küche, bellt die Bestellungen ins Leere, eilt hinterher und stürzt sich in die Schürze. In der Doppelrolle der Köchin reicht sie dann die Teller unter der Klappe hindurch, um sie als Kellnerin entgegenzunehmen.

 

Porträt Buster Keaton (Buster_Keaton_klein.jpg)

Und wenn man einmal einen verbalen Slapstick von Matti Pellonpää erleben will, so bietet sich in «Ariel» gleich zu Beginn des ausufernden Ausflugs eine gute Gelegenheit. Ein solcher Redeschwall ist nicht nur unglaublich komisch, sondern auch einmalig im gesamten Opus Kaurismäkis.

 

Wann, wo, wie?

Sieben Jahre nach «Shadows in Paradise», kehrte das Traumpaar Pellonpää/Outinen zum letzten Mal auf die Leinwand zurück. In «Take Care of Your Scarf, Tatjana» müssen sie auf den Irrwegen im finnischen Hinterland zueinander finden. Das Roadmovie zeigt auf vergnügliche Art und Weise, welch bizarre Pflänzchen in einem Land zu spriessen beginnen, das zwischen dem real existierenden Sozialismus und dem kapitalistischen Westen eingeklemmt ist. Die Handlung spielt nämlich im Jahr 1968, was sich allerdings ausschliesslich anhand der Marke des Autos bestimmen lässt, in dem die Figuren sich näherkommen. Es handelt sich um einen Wolga aus jenem Jahr. Herauszufinden, in welcher Zeit sich die Filme Kaurismäkis zutragen, ist etwa vergleichbar mit dem Ausfüllen eines Kreuzworträtsels. Der Regisseur hat den Schleier schon einmal etwas gelüftet: «Die Zeit in dem jeweiligen Film lässt sich bei mir immer am neuesten identifizierbaren Automodell ablesen.» Und: «Der Umstand, dass in den Kneipen geraucht wird, verweist darauf, dass der Film 2007 oder früher spielen muss. Aber nicht viel früher.»

 

Der leichtfertige Tonfall darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass man nur mit einer ungefähren Datierung der Filmhandlung die Mechanismen der gesellschaftlichen Marginalisierung der Kaurismäki-Helden im Kontext von historischen Entwicklungen erkennen kann. Denn der offene Radar des Regisseurs ortet seine Stories immer in der Wirklichkeit, auch wenn er in den Filmen die Kapitalismuskritik mit dem Märchenhaften in einem magischen Schwebezustand zu halten vermag.

 

Finnland on the Rocks

Finnland peitschte nach dem zweiten Weltkrieg eine Turboindustrialisierung durch. Das lockte die Arbeiter von den einsamen Landstrichen in die Städte. Bald setzte hier eine gewisse Verelendung ein. Wer von den Unterprivilegierten nicht auswandern konnte, musste sich durchschlagen, bis es in Finnland – angestossen durch den Zusammenbruch der Sowjetunion – anfangs der 90er-Jahre zu einer katastrophalen Massenarbeitslosigkeit kam. Diejenigen, die es nicht mehr an Bord geschafft haben, lagern seither entlang den Spielfeldrändern: in Mietkasernen der Vorstädte, Bruchbuden, Containersiedlungen und alten Karossen. Unter ihnen die Helden Kaurismäkis. Sie sind nicht mehr Bestandteil der Rechnung und wissen auch nicht so genau, mit welchen Mittel sie sich gegen ihren Untergang wehren sollen: Verharren («Lights in the Dusk», «Drifting Clouds»), Flucht («Shadows in Paradise», «Ariel») oder Gegenwehr («The Match Factory Girl», «Le Havre»). Das Industriezeitalter – und mit ihm der klassische Proletarier – liegt in den letzten Zuckungen, und eine New Economy schiebt alles beiseite, auch die Ruinen der Industrialisierung, in deren Nischen sich die Verlierer niedergelassen haben.

 

Die zweite Trilogie wurde mit «Drifting Clouds» (1996) eröffnet und mit «The Man Without a Past» (2002) und «Lights in the Dusk» (2006) abgeschlossen. Alle männlichen Protagonisten, sowohl der ersten, wie auch der zweiten Trilogie werden mindestens einmal pro Film bewusstlos geprügelt, und das aus nichtigsten oder gar nicht ersichtlichen Gründen. Es scheint sich zumeist um sinnlose Rituale der Hierarchisierung von Verlierern gegenüber anderen Verlierern zu handeln. Auffällig ist aber, dass die Figuren nach dem Wiedererwachen aus der Bewusstlosigkeit jeweils mit neuen Impulsen versorgt sind, als hätte das Unterbewusstsein die Karten neu gemischt. Sie werden sozusagen vom Schicksal in eine neue Richtung geprügelt. Kaurismäki überträgt mit diesem Handlungsmuster seine eigene Schreibmethode auf seine Figuren. Wenn eine Idee bei ihm eingeschlagen hat, denkt er erst einmal nicht über sie nach: «Ich weigere mich geradezu daran zu denken. Das Unterbewusstsein arbeitet jedoch unablässig an dem Stoff. Dann nähert sich irgendwann die Deadline, es kommt ein Wochenende, ich ziehe mir meinen Hausmantel an und tippe den Text. Das Schreiben selbst nimmt nur zwanzig bis dreissig Stunden in Anspruch.»

 

Eine ganz besondere Schwerarbeit muss das Unterbewusstsein von M in «The Man Without a Past» leisten. M verliert nicht nur seine eigenen Erinnerungen, sondern auch die von einigen Tausend Jahren Evolution. In beiläufig hingetupften Szenen lernt er wieder zu sprechen, sich einzukleiden, eine Höhle zu bewohnen in Form eines Wohncontainers und in der kleinen Rabatte davor die ersten Gehversuche in Ackerbau zu machen. Später wird sogar das Teilen von dem, was im Boden wächst, zum Thema. Auch das bewältigt M, seinen bäuerlichen Instinkt besiegend, indem er eine Kartoffel teilt. M steht nach Aussage Kaurismäkis für die drei fundamentalen Fragen «wo, wann, warum», die im Finnischen alle mit einem «m» beginnen.

 

Verzahnungen

Im weiteren Verlauf des Films wird sich herausstellen, dass sein wirklicher Name Lujanen ist. Lujanen? Der Name kommt einem bekannt vor! Denn es geisterte bereits in «Drifting Clouds» (1996) ein Koch mit diesem Namen durch die Szenerie. Jener Koch der nach seiner Entlassung einen rekordverdächtig schnellen sozialen Abstieg schaffte. Eine Gruppe Obdachloser hat ihn gekapert, damit er für sie den gelernten Beruf weiterpraktiziert. Sechs Jahre später taucht er in «The Man Without a Past» (2002) wieder auf, eine Schweissmaske im Gepäck. Es öffnet sich ein Schicksal, das sich zwischen den einzelnen Filmen zugetragen haben muss, über dessen Inhalt wir nur spekulieren können. Lujanen ist nicht der einzige Charakter, der nach längerer Abwesenheit wieder ins Scheinwerferlicht gerät. Kaurismäki erreicht mit dieser Langzeitbeobachtung seiner Protagonisten eine Verzahnung zwischen den Filmen, die die einzelnen Geschichten aus ihrem isolierten Dasein befreit und sie in ein breiteres Panorama einbettet. Die reale Zeit, die zwischen den Filmen vergangen ist, spiegelt sich in den gealterten Gesichtern der Figuren wider, was den Filmen einen dokumentarischen Aspekt hinzufügt.

 

Auch die von Kati Outinen gespielte Ilona aus «Shadows in Paradise» (1986) tritt in «Drifting Clouds» (1996) unter dem gleichen Namen wieder in Erscheinung. Im gleichen Film erweist sie ihrem ein Jahr zuvor verstorbenen Filmpartner Matti Pellonpää noch einmal ihre Reverenz. In einer stillen Szene geht sie zu einem Bücherregal, auf dem die Fotografie eines Jungen zu sehen ist. Damit wird eine Episode aus dem Leben der Filmfigur angedeutet, wahrscheinlich der Verlust eines Kindes. Diese einfache Bildkomposition lädt sich aber noch viel mehr auf, wenn man weiss, dass das Bild ein Jugendfoto von Matti Pellonpää ist.

 

Kati Outinen mit Kinderporträt Matti Pellonpää

Zehn Jahre später treffen wir in «Lights in the Dusk» (2006) wieder auf die Supermarktfrau, die wir in der denkwürdigen Szene kennengelernt haben, in der sie Matti Pellonpää alias Nikander zum ersten Mal begegnet ist, ganz am Anfang von Kaurismäkis Schaffen. Am Ende der Trilogien angelangt, schliesst sich also der Kreis mit diesem Kurzauftritt von Kati Outinen: in einer schäbigen Supermarktbluse, im gleichen Bildausschnitt um zwanzig Jahre gealtert. Das Namensschild am Revers lässt keinen Zweifel zu: Es ist Ilona.

 Ilona jung (Kati Outinen) (Ilona_jung_Supermarkt_Schatten.jpeg)

 Ilona älter (Kati Outinen) (Ilona_älter_Supermarkt_Lichter.jpeg)

Schöne, alte Welt

Für Aki Kaurismäki sind alte Maschinen und ihre Mechanik mit Schönheit ausgestattet, so dass, wenn sie in seinen Filmen erscheinen, Musik entsteht. Sie stammen noch aus einer Welt, in der ein Knopf einer Funktion zugeordnet war, so verlässlich wie die Wirkung des Alkoholkonsums auf das menschliche Gleichgewicht. Kaurismäki, ganz Apologet des Maschinenzeitalters, dürfte der letzte seiner Spezies sein, der seine Filme immer noch auf dem alten Steenbeck schneidet – und zwar von eigener Hand. Der Steenbeck war anfangs der 50er-Jahre eine Innovation. Es handelt sich um eine Art Kino in Tischformat; seine Magie entfaltet sich dadurch, dass man direkt mit ausbelichteten Filmstreifen arbeitet. Von einem zeitgenössischen Computer-Schnittplatz ist ein Steenbeck so weit entfernt wie ein Kutschengaul von einem Zirkuspferd. Die neuen digitalen Standards haben die analoge Filmtechnik dem Untergang geweiht. Für Kaurismäki ist das mehr ein Bruch mit der Tradition als eine Weiterentwicklung: «Ich glaube weder an die digitale Fotografie noch an das digitale Filmen, denn Elektrizität kann nie das Licht ersetzen, wenn es um Bilder geht. Blumen brauchen Licht, und digitale Bits verwandeln sie in künstliche Blumen. Ich bin inzwischen schon so alt, dass ich glaube, ich werde meinen Beruf an den Nagel hängen, wenn das Filmen und Schneiden mit herkömmlichen Techniken einmal unmöglich geworden ist.»

 

24 mal Kunst pro Sekunde

Es mag wie ein Widerspruch erscheinen, dass einer, der schon so viele Jahre als einer der wichtigsten Vertreter des Independent-Kinos gilt, sich den neuen Technologien bisher so beharrlich verweigert hat. Doch für Kaurismäki scheint die in den Dingen gespeicherte Geschichte wichtiger zu sein als ihr materieller Wert. Wenn man den Spuren in seinen Filmen folgt, stellt sich das Gefühl ein, dass da einer in den 50er-Jahren vom Karren gefallen und in unserer Zeit wieder gelandet ist. Mitgebracht hat er einen Autofriedhof, gesammelte Alltagsgegenstände aller Art und die visuelle Prägung von Kodak und Eastmancolor aus jener Zeit.

 

Diesem vom Verschwinden bedrohten Erbe widmet er sich mit der gleichen Hingabe wie seinen Underdogs und Verlierern. Kaurismäki ist sehr detailversessen, wenn es um die Ausgestaltung seiner Filmtableaus geht: «Das ist ein Teilbereich, den ich sehr mag. Normalerweise teile ich den Szenenbildnern mit, was für Farben und Kulissen ich haben will, und lasse sie dann ihre Arbeit tun. Danach reduziere ich das gern und werfe neunzig Prozent von dem Kram weg. Da Timo ebenso begeistert bei der Sache ist, kommt bisweilen die Aufnahme- und Regiearbeit zu kurz.» Timo Salminen war Kaurismäkis Kameramann bei fast allen Filmen. Zusammen entwickelten sie seit «I Hired a Contract Killer» eine Farbgebung, die sich mit jedem Film weiter von einem abbildenden Realismus entfernte. Vor allem die Innenräume mussten immer mehr den Kriterien von Malerei gerecht werden. Nicht umsonst spricht Salminen von Farbperspektive: «Wir spielten damit, dass wir die Grün-Blau-Kombinationen aus einem Raum im nächsten einfach umdrehten. Da hat es angefangen. Ich erinnere mich, dass Aki ganz begierig darauf war, das voranzutreiben, denn er sah die Möglichkeiten.» Das Malerteam steht auf Kaurismäkis Filmsets seither im Dauereinsatz. Der Farbklang wird in Kaurismäkis späteren Filmen so ins Atmosphärische gesteigert, dass sie der Ausstrahlung der Technicolor-Filme der 50er-Jahre nahekommen. Dieser Eindruck lässt den Zuschauer völlig vergessen, dass er in einer Low-Budget-Produktion sitzt.

 

Aki Kaurismäki mit Bergmans Kamera (Aki_Kaurismäki_mit_Ingmar_Bergmans_Kamera.jpg)

Es war Ende der 80er-Jahre, als es Kaurismäki gelang, in den Besitz von Ingmar Bergmans Arriflex-Kamera zu kommen, denn nach «Fanny och Alexander» hatte sich dieser entschlossen, mit dem Filmemachen aufzuhören. Wer denkt, dass man mit dem Werkzeug, mit dem einst Ingmar Bergman seine Wunder vollbrachte, gleich arbeitet, wie mit einer Kamera aus dem Verleih, ist ein unverbesserlicher Materialist. Die Verwendung der Arriflex wird im Abspann von «Ariel» (1988) zum ersten Mal aufgeführt. Kurz zuvor hat der Film damit geendet, dass der Protagonist mit seiner Geliebten Finnland auf einem Fluchtschiff verlassen hat.

 

Eine Sequenz für die Filmgeschichte

In seinem bisher letzten Film hebt Kaurismäki den Blick von den finnischen Migranten und richtet ihn auf die globale Schicksalsfrage von Flüchtlingen. «Le Havre» (2011) beginnt mit einem Zitat aus «Le samouraï» (1967) von Jean-Pierre Melville. Kaurismäki hat mit dem Gangsterboss aus seinem letzten Film «Lights in the Dusk» (2006) noch eine Rechnung offen, weil dieser seinen Hauptdarsteller Koistinen am Schluss so übel zugerichtet hat. Der Gangsterboss lässt sich bei Marcel Marx, der kein geringerer ist als der Dichter aus «La vie de bohème» (1992), die Schuhe putzen, als die Vendetta über den Gangster hereinbricht. Wir hören der Gewalt nur aus dem Off zu, wie meistens bei Kaurismäki. Wer möchte, kann sich den Rest dazu denken. Der Meister hat andere Möglichkeiten, seine Klasse auszuspielen. Er erfindet eine brillante Schlüsselszene, die zwischen den Spannungsmomenten von «High Noon» und den traurigen Bildern der aktuellen Katastrophenberichterstattung oszilliert: Unter Sicherheitsvorkehrungen wird ein Frachtcontainer geöffnet, aus dem Babygeschrei gedrungen ist. Im Container kommt eine Gruppe von afrikanischen Flüchtlingen zum Vorschein, die bewegungslos ihrem Schicksal entgegensieht. Sie wirken so, als hätte man sie von ihrem afrikanischen Dorfplatz in den eisernen Käfig gehievt, ohne dass sie ihre Haltung je geändert hätten. Kaurismäki entfernt sich auch hier von jeder plumpen Abbildung. Auch ihm hat angeblich zuerst ein Bild der Verwahrlosung vorgeschwebt: «Ich war aber nicht imstande, dies umzusetzen, und da habe ich mir gedacht, dass ich genau das Gegenteil mache: Ich lasse die Flüchtlinge ihre beste Sonntagskleidung anlegen und zeige sie als würdige Menschen. Scheiss auf den Realismus!»

 

Kaurismäki hat sich mehrfach als Marxist bezeichnet, dementsprechend hat er bisher fast das ganze Kapital seiner erzählerischen Ökonomie auf die Verlierer verwendet. Was sich in seinen Filmen schon immer angedeutet hat, wird in «Le Havre» wie eine Utopie vorgeführt: dass sich die Unterprivilegierten in Solidarität vereinigen, um eine lebenswerte Alternativgesellschaft zu bilden.

 

Von der Mitte der 80er- bis Mitte 90er-Jahre brachte Kaurismäki jedes Jahr mindestens einen Film in die Kinos. Seither wurden die Abstände immer länger und «Le Havre» drohte, ein Schlusspunkt zu werden. Die Chancen, dass der Meister die Arbeit wieder aufnimmt, stehen zurzeit jedoch gut. Kaurismäki hat 2014 in einer ironischen Pressemitteilung mit dem Titel «Die Erfindung des Teufels» auf seine Mitarbeit bei der Digitalisierung seiner Filme hingewiesen. Um am Schluss hinzuzufügen, dass er weiter auf 35 mm drehen wird, solange es noch irgendwo eine Filmrolle und ein Labor gibt. So könnte «Le Havre» dereinst der Auftakt zu einer ganzen Flüchtlingstrilogie gewesen sein.

 

Fabian C. Meier studierte Theaterregie am Max Reinhardt Seminar in Wien, Bildende Kunst an der Höheren Fachschule in Luzern und arbeitet als freischaffender Cutter.

 

Kaum ein anderer Regisseur lässt sich so sehr durch die Haltung zu seinen Figuren begreifen wie Aki Kaurismäki. Eine merkwürdige Heldenfamilie hat sich im Laufe der Jahre unter seine Obhut begeben. Schwere Trinker und einsame Frauen, Vagabunden und Verbrecherinnen, Müllfahrer und arbeitslose Kohlekumpel – stolze, würdevolle Figuren, die sich in einen Kampf werfen, von dem sie wissen, dass er nicht zu gewinnen ist. Sie verrichten schicksalsergeben ihre Arbeit, hängen versonnen an der Theke, doch ihren Guerillakampf führen sie entschlossen. Im Februar ist der zweite Teil der grossen Kaurismäki-Retrospektive zu sehen.