Das Wunder der Patenschaft
von Gerhard Midding
«Cinema Italiano» handelt in diesem Jahr von unverhofften Begegnungen, die ein Fluch, meist aber ein Segen sein können.
Anfangs wissen die fünf ruppigen Kerle noch ganz und gar nicht, weshalb sie sich ausgerechnet die Schauspielklasse ausgesucht haben. Sie zappeln wie Fische auf dem Trockenen; die Proben sind ein Tauziehen. Wie nur soll Antonio sie motivieren? Er bietet all seine Energie und Geduld auf. Mit einem Mal springt ein Funke über. In ihren Rollen fühlen die Fünf sich plötzlich so sehr in ihrem Element wie ein Fisch im Wasser.
Mit «Grazie ragazzi» hat Riccardo Milani ein munteres Remake der französischen Komödie «Un triomphe» gedreht, die ihrerseits auf einer wahren Begebenheit beruht: Ein schwedischer Schauspieler unterrichtete fünf Häftlinge, um mit ihnen Warten auf Godot aufzuführen. Samuel Beckett fand, das sei das Schönste, was seinem Stück passieren konnte. Dieses Theaterglück verwandelt sich nun zum zweiten Mal in Kinoglück. Antonio Albanese ist ein vollgültiger Ersatz für Kad Merad, der in der Erstverfilmung die Hauptrolle spielt, und seine Partner legen sich ebenso temperamentvoll ins Zeug wie ihre französischen Vorgänger. Milani folgt weitgehend dem ursprünglichen Drehbuch, setzt in seiner Variante dieser theatralen Resozialisierung aber eigene Akzente.
Das fängt damit an, dass Antonio von der Synchronarbeit an Pornos lebt – schwer vorstellbar mit Merad, aber Albanese entwickelt clownesken Elan. Die Chance, wieder Theater zu machen, ergreift er ohne Zögern. Ihn interessiert nicht, für welche Verbrechen seine neuen Schützlinge einsitzen. Er sieht in ihnen Schauspieler, deren natürliche Begabung herausgefordert werden muss. Jede Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, dass sie Beckett gewachsen sind. Aber Antonios Logik ist einfach: Die Fünf kennen sich mit dem Warten aus, das Abwesende spielt in ihrem Leben die Hauptrolle. Übrigens auch in Antonios, der sich nach der Scheidung von seiner Tochter entfremdet hat.
Es gilt, zahlreiche bürokratische Hürden zu überwinden. Antonios Unnachgiebigkeit stellt das Wohlwollen der Gefängnisdirektorin auf manch harte Probe. Eine Liebesgeschichte muss sich nicht zwischen ihnen anbahnen. Überhaupt gelingt es dem Film erstaunlich oft, nicht in die Falle der Vorhersehbarkeit zu tappen. Die Bewährungsprobe für alle Beteiligten, auf die eine handelsübliche Komödie zusteuern würde, stellt sich bereits nach einer Dreiviertelstunde ein. Das Bühnendebüt der Sträflinge ist ein voller Erfolg. Danach geht das Fiebern weiter, denn andere Theater melden Interesse an. Das Experiment geht auf Tournee, wobei die Wiederholung des Gelingens nie eine ausgemachte Sache ist. Die Fünferbande bleibt unberechenbar. Für sie ist es ohnehin ein Wechselbad der Gefühle, denn nach jedem Applaus müssen sie im Gefängnis eine demütigende Leibesvisitation ertragen. Den Stolz und Widerstandsgeist nimmt es ihnen nicht.
Auch die Theaterregisseurin Marta in «Beata te» steht mächtig unter Druck. In zwei Wochen steht die Premiere ihrer Neuinszenierung von Hamlet an. Und noch eine andere Uhr tickt: die biologische. Die spielte für Marta bisher noch keine Rolle. An ihrem 40. Geburtstag jedoch wird sie aus ganz unerwartetem Munde darauf hingewiesen. Aus heiterem Himmel taucht in ihrer Wohnung der Erzengel Gabriel auf, der sie an die drängende Frage erinnern soll: Muttersein oder nicht Muttersein?
Rasch entwickelt Paola Randis Screwballkomödie ihre eigene, flotte Logik. Natürlich dauert es einen Moment, bis er die junge Frau von seiner Identität und Mission überzeugen kann. Warum beispielsweise spricht er Spanisch? Weil der jetzige Papst aus Argentinien stammt! (Dem vorherigen zuliebe musste er Deutsch sprechen, das ging ihm nicht so leicht über die Lippen.) Zudem besitzt der ungebetene Gast ein ziemlich anarchisches Temperament – in der Kirche langweilt er sich –, erweist sich aber bald als nützlicher Gefährte. Als unbestechlicher Menschenkenner unterstützt er Marta bei der Suche nach einem möglichen Partner. Und als bei den Proben alles schiefzulaufen droht, erweist sich sein Erfahrungsschatz als tröstlich. Immerhin hat er die gesamte Menschheitsgeschichte begleitet und war dabei, als William Shakespeare vor der Uraufführung seines Hamlet furchtbares Lampenfieber hatte. Am Abend von Martas Premiere muss sich das überirdische Gespann trennen. Eine neue Zeitrechnung beginnt.
In «Notte fantasma» erzählt Fulvio Risuleo ebenfalls von einer Nacht, in der sich das Schicksal seiner Protagonisten entscheiden könnte. Auf dem Weg zu Freunden, für die er noch rasch ein paar Joints kaufen soll, wird der 17-jährige Tarek von einem Polizisten ertappt. Der Beamte gibt sich zuerst freundlich, aber beim Verhör stellt er ihm lauter persönliche, intime Fragen, die bald nichts mehr mit polizeilicher Ermittlung zu tun haben. Sein Verhalten wird zusehends merkwürdiger. Er nötigt den schüchternen Tarek, ein Mädchen anzubaggern, und bricht sodann eine Kneipenschlägerei vom Zaun. Ist der Junge nun verhaftet oder wird er als Geisel genommen? Alles scheint möglich auf dieser Reise durch die römische Nacht.
«Ghost Night» lautet der internationale Titel von Risuleos Film. Und geheuer ist einem nichts, was in dieser Nocturne am Rande der Legalität passiert. Immer tiefer wird Tarek in das Leben des Fremden verstrickt, das sich in einer Abwärtsspirale befindet. Trotz der Gefahren, die offenkundig für den Jungen bestehen, entsteht eine rätselhafte Komplizenschaft zwischen den beiden Aussenseitern. Ein namenloser Pakt wird geschlossen, in dem sich die Machtverhältnisse schleichend verändern. Obwohl dieser ihn freilässt, folgt Tarek dem Polizisten weiter, aus jugendlicher Neugier und einem erwachsenen Gefühl von Verantwortung. Die Nacht weiss Rat, wie ein Sprichwort behauptet. Am Morgen wird der 17-jährige Erfahrungen gesammelt haben, die er sich nie erträumt hätte.
Auch Roberto Andò erzählt von einer geheimnisvollen, wechselseitigen Adoption. «Il bambino nascosto» ist die Verfilmung seines gleichnamigen Romans, der in der deutschen Übersetzung «Ciros Versteck» heisst. Der Klavierlehrer Gabriele lebt zurückgezogen in einem heruntergekommenen Viertel von Neapel, in dem ein feinsinniger Mensch wie er eigentlich nichts verloren hat. Einst galt er als Wunderkind, man weiss nicht genau, woran die Karriere als Pianist scheiterte, die ihm bevorstand. Nun führt er ein einsames Leben, das wie eine Busse anmutet.
Eines Tages herrscht Aufruhr im Haus. Finstere Gestalten halten im Hof Wache; eine der Nachbarsfamilien gehört der Camorra an. Bald findet Gabriele heraus, dass deren Sohn Ciro die Mutter des mächtigen Bosses überfallen und ausgeraubt hat. Nun ist er auf der Flucht und schleicht sich unbemerkt in Gabrieles Wohnung. Als der ihn entdeckt, fleht er ihn um Hilfe an: «Versteck mich!» Zunächst widerwillig gewährt er ihm Obdach. Gabriele ist bewusst, dass er sich strafbar macht, aber die Alternative wäre unerträglich: der sichere Tod des Jungen.
Andò inszeniert ihre langsame Annäherung als ein Kammerspiel der verstohlenen Blicke und sich öffnenden Türen. Der widerspenstige Junge weckt unerwartete väterliche Gefühle in diesem urbanen Eremiten. Das ungleiche Paar fasst Vertrauen zueinander. Die zwei entdecken etwas, das in ihrer Existenz bisher fehlte: selbstlose Zärtlichkeit. Gabriele, der stets vor dem Leben floh, muss sich ihm nun stellen. Um seinen Schutzbefohlenen zu retten, lässt er sich auf einen Kampf ein, der aussichtslos scheint. Aber wie lautet der Titel des Rap, dessen Text Ciro ihn lehrt? «Mir macht niemand Angst!»
Die zwei tapferen Lebenshelden aus «Spaccapietre» von Gianluca und Massimiliano De Serio müssen sich ebenfalls in einer brutalen, ausbeuterischen Welt behaupten. Sie jedoch sind Blutsverwandte. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau muss sich Giuseppe allein um seinen Sohn Antò kümmern. Er gibt ihm das Versprechen, dass er seine Mutter eines Tages wiedersehen wird. Seinen Beruf als Steinbrecher kann der stolze Vater nach einem Arbeitsunfall nicht mehr ausüben. Er verdingt sich als Tagelöhner; Antò hilft tatkräftig bei der harten Arbeit mit.
Der alternative Titel des Films lautet «Una Promessa» und erinnert nicht von ungefähr an «La Promesse», das Langfilmdebüt der Brüder Dardenne. Ihre italienischen Kollegen besitzen einen ebenso unbestechlichen Blick für unerträgliche soziale Missstände. Hautnah und voller Empathie begleiten sie ihre Figuren. Ihr neuer Film handelt von der Kraft, die erschöpfte Körper aufbringen müssen. Die gegenseitige Fürsorge, die Vater und Sohn hier verbindet, ist ebenso intensiv wie in den Filmen der Belgier. Aber zwischen Giuseppe und Antò schwingt noch mehr Zärtlichkeit und Wärme mit, als in der Welt der Dardennes möglich ist. Auch die Fantasie spielt eine grössere Rolle bei ihnen. Der Sohn hält grosse Stücke auf die Magie und will später einmal Archäologe werden. Ihr Versuch, sich aus der Knechtschaft zu befreien, mündet in ein dramatisches Finale. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Versprechen des Vaters erfüllt.
Gerhard Midding ist freier Autor und Filmjournalist für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, Filmbulletin) sowie Radio (rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat).