Godard et les hommes

 

von Barbara Schweizerhof

 

Am meisten verblüfft an den Filmen Godards immer wieder, wie modern sie heute, an die 60 Jahre später, noch erscheinen. Besonders seinen Filmen aus den 1960ern scheint die Leichtigkeit und Jugendlichkeit geradezu eingeschrieben. Man spürt das Momenthafte, Improvisierte an ihnen, ihre Lust am Experiment und ihre genussvolle Abneigung gegenüber den Konventionen. Und weil es so locker zugeht, fällt noch etwas anderes geradezu schlagend ins Auge: Wie sehr hier die Schauspieler sich selbst spielen und wie gut man sie deshalb heute noch wiedererkennt. Ob Jean-Paul Belmondo, Jean-Pierre Léaud oder Eddie Constantine, später in den 1990ern auch Alain Delon oder Gérard Depardieu – nirgendwo sieht man diese Stars des französischen Kinos so authentisch, ja nachgerade durchsichtig vor der Kamera agieren wie bei Godard.

 

Man betrachte etwa die Rolle, die Belmondo in «Pierrot le fou» spielt: Es handelt sich mehr um eine Collage, heute würde man sagen einen Avatar, denn um eine Figur mit eigener psychologischer Motivation. Dass er Ferdinand heisst, beim Fernsehen arbeitet und Frau und Kind hat, vergisst das Kinopublikum genauso schnell wie die Filmfigur selbst, die bald mit der Geliebten Marianne (Anna Karina) in «Bonnie und Clyde»-Manier das bürgerliche Leben zugunsten eines von Gewalt und schönen Landschaften gesäumten Roadtrips hinter sich lässt. Auf der einen Seite besteht Ferdinand/Pierrot aus Zitaten und Referenzen (wie «Ferdinand» nach Louis-Ferdinand Céline), auf der anderen aber ist er ganz und gar Jean-Paul Belmondo. In der geschmeidigen Sportlichkeit seiner Bewegungen, dem rauen Charme seines männlichen Selbstbewusstseins und der grundentspannten Haltung in allen Situationen vor der Kamera tritt zugleich der damals 30-jährige, recht plötzlich zu Weltruhm aufgestiegene Darsteller in Erscheinung, der seinen eigenen Erfolg kaum glauben mag. In «À bout de souffle» verkörperte er noch den Pariser Kleinganoven, der vor dem Spiegel die Geste einübt, sich wie Humphrey Bogart mit dem Daumen über die Lippen zu streichen. In «Pierrot le fou», gerade mal fünf Jahre später, ist er selbst einer, dessen Lässigkeit zur Nachahmung inspiriert.

 

Eine natürliche Unbekümmertheit vor der Kamera steht auch am Beginn von Jean-Pierre Léauds Filmkarriere, der deswegen im Alter von 14 Jahren von François Truffaut entdeckt wurde. Wie anders als Belmondo er diese nutzt, kann man in Godards «Masculin féminin» bewundern. Wo Belmondo mühelos vom feinen Anzug in Sommerfreizeit- oder Seemanns-Kleidung wechseln kann und trotzdem Belmondo bleibt, ist Léaud wie verwachsen mit seinem urbanen Outfit aus Hemd und Jackett. Überhaupt zeichnet ihn – und eben auch seine Figur Paul – aus, dass man sie sich kaum woanders vorstellen kann als in den Cafés und Strassen von Paris, stets dabei, sich gerade eine Zigarette anzuzünden. Die Rolle, die der Regisseur Léaud wie auf den Leib geschrieben hat, gehört zu den «reelleren» im Godardschen Werk. Der junge Idealist, der nach seinem Militärdienst auf Jobsuche durch die Stadt driftet, gegen den Vietnamkrieg protestiert und desto hartnäckiger hinter einer jungen Frau her ist, je mehr sie ihm die kalte Schulter zeigt, stellt gewissermassen einen typischen Helden seiner Zeit dar. Léaud füllt die Rolle nicht von innen, psychologisch aus, sondern nähert sich ihr äusserlich, mit seinen eigenen charakteristischen Gesten und Redeweisen. Sein Selbstbewusstsein hat etwas Demonstratives, das ein mögliches Scheitern immer mit einkalkuliert. Wie er versucht, den Frauen um sich herum die Welt zu erklären, würde schnell unsympathisch erscheinen, wäre da nicht Léauds Selbstironie, die auf eine fortbestehende Verletzlichkeit verweist.

 

An einer Stelle führt Léauds Paul eine seiner Mitbewohnerinnen zum Plattenspieler, wo er eine bestimmte Musik auflegt und sie anweist zuzuhören, während er dirigentenhaft durch die Luft gestikuliert. Es wirkt wie eine Wiederaufnahme von Godards eigenem Filmauftritt in Éric Rohmers Erstling «Le Signe du lion» von 1959. Dort bewacht er als «Melomane» während einer Party einen Plattenspieler, auf dem er stets ein und dasselbe Stück laufen lässt, vollkommen unbeeindruckt von seiner Umgebung. Was zur Frage führt: Hat Godard sich mit seinen männlichen Helden identifiziert? Repräsentieren sie Aspekte, Haltungen von ihm?

 

Für «Masculin féminin» mag das zutreffen. In der Art und Weise, in der Léauds Paul die Frauen seines Lebens über ihre Ansichten zu Liebe und Politik befragt, wirkt er wie ein Stellvertreter des Regisseurs, zumal die Sequenzen oft nur die Gesichter von Chantal Goya als Geliebte Madeleine oder Marlène Jobert als Mitbewohnerin Elisabeth zeigen, während Léauds Stimme als Interviewer aus dem Off zu hören ist. Überhaupt nehmen die männlichen Helden in Godards Filmen oft die Beobachterposition ein, auch wenn sie selbst im Bild sind. Ihr Blick schweift nicht nur über die Frauen – wie es so deliziös explizit Michel Piccoli mit dem Körper von Brigitte Bardot in «Le Mépris» vormacht –, sondern gleichsam auch über die Stadt, die Godard so alltäglich und wenig postkartenhaft wie kaum ein Paris-Film dieser Zeit ins Bild setzt.

 

Dass er eben diese Paris-Aufnahmen in «Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution» als Kulisse für die Science-Fiction-Hauptstadt verwendet, klingt wie ein Witz, funktioniert aber erstaunlich gut. Ohne Spezialeffekte, allein mit Montagetechnik erschafft Godard eine Welt der Gefühlskälte mit einer lähmenden, kontrollierenden Bürokratie, die von einem mit blecherner Stimme philosophierenden Computer beherrscht wird. Zusammengehalten wird der Film durch Eddie Constantine, der als Lemmy Caution sozusagen als Zitat seiner eigenen Leinwandpersona auftritt. Von seiner «Uniform» – heller Trenchcoat, dunkler Hut – trennt er sich nur in ganz wenigen Szenen. Als Repräsentant der Films policiers der 1950er-Jahre, die Godards Generation so nachhaltig prägten, stellt Constantine hier einmal mehr keine echte Figur, sondern eine Chiffre dar: jene des kaltblütigen Helden, den die Frauen lieben, auch wenn er ihnen kaum Aufmerksamkeit zukommen lässt, weil er Wichtigeres zu tun hat.

 

Vielleicht sieht man Constantine auch deshalb fast nie ohne Trenchcoat, weil der Schauspielveteran sonst im Universum von Godards spontanen Einfällen und Literaturzitaten wie verloren gewirkt hätte. In «Nouvelle vague» von 1990 dagegen braucht Godard keine Genre-Verweise mehr, um seine eigene Welt auf der Leinwand entstehen zu lassen. Doch Alain Delon in der Doppelrolle des lebenserfahrenen Drifters und seines Bruders fungiert mit der klassischen Kälte, die der Darsteller des «Samurai» wie einst Constantine als eine Art Zitat seiner selbst in seine Rolle einbringt. Schon der Versuch, im schauspielerischen Sinn eine Figur zu verkörpern, ist Delon durch den Godardschen Formalismus verwehrt – mit dem Effekt, dass man den Star hier in einer seltenen Unmittelbarkeit, im übertragenen Sinne fast nackt, erlebt.

 

Dass er als Person und Regisseur zwar bekannt sei, man aber seine Filme kaum mehr kenne, war eine wiederholte Klage des älter werdenden Godard. Man könnte ihm beipflichten, dass es sich vor allem mit seinen männlichen Stars ganz ähnlich verhalte. Nur wenige sind in der Lage, die Handlung von «À bout de souffle» nachzuerzählen, doch fast alle wissen, wie Jean-Paul Belmondo darin aussieht.

 

Das Filmfestival von Cannes wählte 2018 eine Aufnahme aus «Pierrot le fou» zum offiziellen Festivalplakat. Zugleich lief Godards letzter Film «Le Livre d’image» im Wettbewerb. Er belegt, dass der Regisseur das Drehen mit Schauspieler:innen schliesslich völlig zugunsten der Montage von Found Footage aufgegeben hatte. «Gefunden» hatte Godard sein Material dabei sowohl in Filmarchiven mit Ausschnitten aus eigenen und fremden alten Filmen als auch auf Youtube. Seinen Szenenteppich untermalt er mit Musikzitaten und mehreren Stimmen, darunter seiner eigenen. Im Puzzle des Collagierens, in dem er mit der Qualität der Bilder, mit Formatwechsel, Überblendung, Entsaturierung und Tonschnitten spielt, kreiert er schliesslich sich selbst als Figur. Als solche nimmt er sich heraus, raunend endlich allen die Meinung zu sagen – über den Kapitalismus, die französische Kolonialgeschichte, den Weltfrieden und den Weltuntergang.

 

Barbara Schweizerhof, in Tübingen geboren, studierte Theaterwissenschaft, Slawistik und osteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin, war von 2000 bis 2007 Kulturredakteurin der Wochenzeitung «Freitag» und arbeitet seit 2007 als Redakteurin der Monatszeitschrift «epd Film».

 

Jean-Luc Godard, am 13. September 2022 mit 91 Jahren verstorben, war Schlüsselfigur der Nouvelle Vague, Legende des Autorenfilms, Revolutionär des Kinos, Bilderstürmer, Überflieger … Seine Filme haben bis heute nichts von ihrer Faszination, ihrer Sprengkraft und ihrer Poesie eingebüsst. Mit einer Reihe seiner schönsten Werke wollen wir einen Regisseur ehren, der das Kino und sich selbst immer wieder neu erfand und sich seine Schaffenslust und Experimentierfreude bis ins hohe Alter erhielt. Nach dem Januar-Fokus auf die Frauen in seinem Werk werfen wir im Februar einen Blick auf seine männlichen Stars, inklusive the Master himself.