Acht Filme, denen keine Stunde schlägt

 

von Gerhard Midding

 

Alle Geschichten wurden schon einmal erzählt, heisst es. Wie lassen sich da noch die Erwartungen des Publikums auf etwas Neues schüren? Was gäbe es noch zu entdecken? Wie kann man die Zuschauer:innen dennoch verblüffen? Ein Filmemacher, der sich diese Frage mit jedem Film erneut stellt, ist François Ozon. Eine Antwort könnte lauten: Nicht das «Was» zählt, sondern das «Wie».

 

In «5x2» hat er sie besonders einnehmend und wirklich einmalig formuliert. Hier treibt er ein redliches, doppeltes Spiel: Er erzählt gleichermassen eine archetypische und eine individuelle Liebesgeschichte; das Allgemeine und das Besondere will er nicht voneinander trennen. «5x2» spannt einen Bogen von sommerlichem Glücksversprechen zur winterlichen Verharschung der Gefühle. Aber der Film tut es in umgekehrter Reihenfolge. Die Geschichte der Ehe von Marion (Valeria Bruni Tedeschi) und Gilles (Stéphane Freiss) rekapituliert er in fünf Rückschritten, von der Scheidung bis zum Kennenlernen. Ozon und seine Co-Autorin Emmanuèle Bernheim haben diese Sektion einer Beziehung auf ihre Grundsituationen konzentriert – dazwischen liegen Entfremdung, die Geburt des Kindes und die Hochzeit –, deren Endreim jeweils ein italienischer Schlager von mitunter erhabener Sentimentalität bildet. Willkommen in der vierten Dimension!

 

Das Kino stellt mit ihr an, was sich nur mit ihr anstellen lässt. Es kann die Uhr zurück- oder vorausdrehen, kann der Chronologie linear folgen oder sie ganz anders sortieren. Es kann die Zeit raffen, dehnen oder einfrieren. Die Handlung eines Films kann nicht nur gleichzeitig an unterschiedlichen Orten, sondern zugleich auch in verschiedenen Zeitebenen spielen. Die Frage, warum wir uns nur an die Vergangenheit und nicht an die Zukunft erinnern, lässt sich in der Augenblickskunst Kino nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit beantworten wie im Leben. Die Zeit ist auf der Leinwand eine verflixt vieldeutige Kategorie.

 

Die Filme unserer Reihe nähern sich diesem Kinothema par excellence auf je eigene Weise. Sie erzählen ihre Handlung in Echtzeit («High Noon»), im Rückwärtslauf («5x2») oder führen sie an eine Gabelung, von der aus es in unterschiedlichen Varianten weitergeht («Lola rennt»). Der Titelheld von «The Death and Life of Otto Bloom» geht rückwärts durch sein Leben, für ihn ist die Zukunft die Vergangenheit. In seinem Science-Fiction-Epos «Solaris» entdeckt uns Andrei Tarkowski eine mentale Zeit, in der sich das Vergangene auf rätselhafte Weise materialisiert. Auch Terry Gilliams «Twelve Monkeys» gehört diesem Genre an und imaginiert eine mitreissend verknäuelte Reise durch die Vergangenheit, zu der ihn «La Jetée» von Chris Marker inspirierte. Auch dessen Freund Alain Resnais hat sich an diese Gattung gewagt, wenngleich er für «Je t’aime, je t’aime» den Begriff des Wissenschafts- oder philosophischen Films vorzog. Der altgediente Avantgardist schickt seinen Protagonisten ebenfalls auf eine Zeitreise, die nicht nach Plan verläuft. Er erkundet dessen Leben, jedoch nicht anhand seiner entscheidenden Wendepunkte, sondern der Fragmente seines Alltags: «Je t’aime, je t’aime», dessen Titel bereits ein Echo enthält, ist ein Film der temps morts, in dem das Warten auf ein Tram so bedeutsam ist wie eine Umarmung oder ein Streit unter Liebenden.

 

Das Thema eröffnet den Filmemachern enorme stilistische und dramaturgische Freiheiten. Für Resnais liefert es den Anlass, in rasch assoziierenden Schnitten die Motive Erinnerung und Bewusstsein zu erkunden. In «Twelve Monkeys» verzerrt Gilliam nicht nur die Zeit, sondern auch den Raum mit bizarrer Weitwinkeloptik. Christopher Nolan wechselt in «Memento» nicht nur behände zwischen den Zeitebenen, sondern auch zwischen Schwarzweiss und Farbe, zwischen Schärfe und Unschärfe. Sein Film gleicht einem Rubikwürfel, während «Lola rennt» ein Videoclip in Spielfilmlänge ist, der unternehmungslustig durch Zeit und Raum hastet.

 

 

Auf den ersten Blick scheint «High Noon» das unkomplizierteste Beispiel in der Filmauswahl zu sein. Als der Film 1952 herauskommt, ist das Kinopublikum bereits mit komplexen filmischen Zeitstrategien vertraut. Seit der Stummfilmzeit kennt es Rückblenden; mit «Citizen Kane» und dem Film Noir der Nachkriegszeit beschreitet der Rückblick in die Vergangenheit zusehends verschlungenere Wege. Einige Monate vor «High Noon» läuft in den US-Kinos «The Desert Fox» an, ein Biopic über Generalfeldmarschall Rommel. Es ist der erste Hollywoodfilm, der Zeitsprünge mit einem einfachen Schnitt markiert und nicht mehr mit den bis dahin gebräuchlichen Überblendungen oder dem Verschwimmen der Konturen im Bild. Carl Foremans Drehbuch mutet demgegenüber klassisch, ja konventionell an. Es verzichtet auf Rückblenden (die in der Story durchaus denkbar gewesen wären) und hält die aristotelische Einheit von Zeit, Ort und Handlung strikt ein: Es schildert die vergeblichen Anstrengungen des von Gary Cooper gespielten Marshal, Mitbürger zu finden, die gemeinsam mit ihm die Stadt gegen einen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassenen, rachsüchtigen Banditen verteidigen. Kühn und ungewohnt ist freilich, dass die Laufzeit des Films und die Dauer seiner Handlung deckungsgleich sind. Das verleiht den Geschehnissen eine Glaubwürdigkeit und Authentizität, die Fred Zinnemanns weitgehend realistische Inszenierung noch unterstreicht. Die Geschichte lädt diese Erzählstrategie mit einer ungeheuren Spannung und Dringlichkeit auf: Das unerbittliche Voranschreiten der Zeit ist Marshal Kanes ärgster Feind. Zinnemann betrachtet die Stadt wie durch ein Brennglas, entlarvt die Heuchelei und fehlende Zivilcourage ihrer Einwohner:innen. Darin spiegelt «High Noon» auch das Zeitklima der McCarthy-Ära wider, als die US-Demokratie plötzlich ihre Wehrhaftigkeit verlor. Wie nebenbei, gleichsam im Vorübergehen, bündelt der Film die Vorgeschichte des Dramas (die ehemalige Geliebte des Marshals spielt eine tragende Rolle) sowie die Historie des amerikanischen Westens. Die Stadt wurde mitten im Nirgendwo gegründet, sie liegt in ehemaligen Jagdrevieren der indianischen Ureinwohner:innen und hofft, dank der Eisenbahnlinie am wirtschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritt teilzuhaben. Auch die frisch angetraute Ehefrau des Marshals weist in die Zukunft. Kein schlechter Ertrag für einen Film, der nur 85 Minuten dauert!

 

Mit «High Noon» etablieren sich zahlreiche Motive, die konstituierend sind für den filmischen Umgang mit der Zeit. Die Uhr, auf die Zinnemann regelmässig und unbarmherzig schneidet, wird ein zentrales Requisit. Sie ist nicht nur ein konkretes szenisches Element, sie besiegelt gleichsam das Thema. Den Vorspann von «Lola rennt» lässt Tom Tykwer vor dem Hintergrund einer exotischen Pendeluhr laufen, über dessen Zifferblatt der Zeiger rast. Auch der Vorspanntitel von «The Life and Death of Otto Bloom» ist mit Zifferblättern verziert (nicht von ungefähr taucht im Namen des Titelhelden viermal der Vokal «o» auf!) und auf den Videoaufzeichnungen seiner Sitzungen mit der Psychologin wird ein Timecode eingeblendet. Wer weiss, ob nicht auch die «Twelve Monkeys» auf die Zahlen eines Zifferblatts anspielen. Alain Resnais schliesslich, der gern aus den Konventionen ausschert, lässt seinen Protagonisten während der Bürostunden die Zeitansage anrufen und vor lauter Langeweile mit der Stimme vom Band plaudern.

 

Ein weiteres Motiv, das mit «High Noon» zentrale Bedeutung erhält, ist das der persönlichen, moralischen oder romantischen Entscheidung. Lola muss in Tom Tykwers Variantenfilm dreimal die Wahl treffen, in welche Richtung sie rennt, um die fehlenden 100’000 Mark aufzutreiben und ihren Freund zu retten. In «Solaris» und «Je t’aime, je t’aime» wiederum ist die Erinnerung eng mit einem Gefühl der Schuld, des Versagens verknüpft. Für den Protagonisten von «Memento» hingegen ist es schier unmöglich, die richtige Entscheidung zu treffen. Er hat nach der Ermordung seiner Frau das Kurzzeitgedächtnis verloren und will Rache üben für ein Verbrechen, an das er keine Erinnerung mehr hat. Er hat keinen Begriff davon, wie lange seine Trauer schon dauert und ist mit einer elementaren Ungewissheit konfrontiert: Wem kann er trauen? Er versucht, die unmittelbare Vergangenheit mit Hilfe von Notizen, Polaroidfotos und Tätowierungen zu rekonstruieren. Nolan treibt in «Memento» ein Spiel, in dessen komplizierte Regeln er das Publikum erst allmählich einweiht.

 

Wer seine Figuren und Zuschauer:innen in Zeitreisende verwandelt, stellt eine andere Art der Identifikation zwischen beiden her. Das Mitfühlen und Mitfiebern gehorcht bis dahin ungekannten Gesetzen. François Ozon lässt in «5x2» das Publikum ebenfalls zum Detektiv werden, allerdings zu einem Liebesdetektiv. Er nutzt dessen Wissensvorsprung, um es in ein Wechselbad der gegenläufigen Reaktionen zu tauchen. Ein paradoxer Suspense herrscht in diesem Parcours von der Verzweiflung zum Licht. Auf keinen Fall will man den Moment verpassen, an dem das Glück erstmals Sprünge bekommt; in jedem Blick, jeder Geste meint man einen Hinweis, einen Vorboten zu erspähen. Man wird zum Komplizen des Films. Es wird ein neuer Pakt geschlossen. Verblüffend, was alles passieren kann, wenn das Kino auf Reise durch die Zeit geht.

 

Gerhard Midding ist freier Autor und Filmjournalist für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, Filmbulletin) sowie Radio (rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat).

 

Es heisst, die Zeit sei dehnbar. Mal dünkt sie uns unendlich lang, dann wieder drängt sie und wird knapp. Als unentrinnbare vierte Dimension taktet und bestimmt sie unser Leben. Aufhalten lässt sie sich nicht, zurückdrehen schon gar nicht. Ausser eben doch: im Film! Weil im Kino Geschichten gleichzeitig in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft spielen können, scheint der Fantasie der Regisseur:innen keine Grenzen gesetzt. Wir erkunden das verzwickte Phänomen Zeit mit Filmen, die sie mal spannungsvoll, mal spielerisch, mal philosophisch durcheinanderwirbeln und uns lehren: Es ist allein die Liebe, die über alle Zeiten hinausreicht.