Grosse Fluchten

 

von Gerhard Midding

 

Che steckt voller Erwartung, auf das Erhoffte wie das Unvorhersehbare. Er hat einen genauen Reiseplan. Der lautet: 8000 Kilometer. Die Methode: Improvisation. Das Ziel: die Entdeckung des Kontinents. Die Ausrüstung: die «Allmächtige», eine Norton 500, Baujahr 1939. Sein Kamerad Alberto fügt dem noch seine eigene Agenda hinzu: in jedem Ort, an dem sie Station machen, Sex zu haben.

 

Es kommt anders in «Diarios de motocicleta». Die Methode bewährt sich zwar, aber das wackere Motorrad verweigert nach 3000 Kilometern seinen Dienst. Nun geht es weiter zu Fuss, per Anhalter und auf dem Schiff. Am Ende werden sie über 12’000 Kilometer zurückgelegt und Lateinamerika gründlich erkundet haben. Die legendäre, prägende Bildungsreise des jungen Che Guevara liefert reichlich Stoff für ein ambitioniertes Roadmovie: Es zeichnet einen Querschnitt durch die Gesellschaftsschichten der bereisten Länder, beklagt die Ungerechtigkeit, die allerorten herrscht, und wird beflügelt von der Utopie einer bunten, panamerikanischen Allianz. Zugleich ist der Film archetypisch für dieses Genre: Er handelt von Abenteuerlust und der Verlockung des Ungewissen, von Ankommen und Abschied, er lässt seine Helden auf unterschiedliche Landschaften und Schicksale treffen. Das Fazit, das der junge Che zieht, könnte am Ende jedes Roadmovies stehen: «Ich bin nicht mehr derselbe.»

 

Spannend wird es in diesem Genre eigentlich schon, bevor der Startschuss fällt: wenn ein Film sich vor dem grossen Aufbruch erst sammelt, wenn er neugierig die Figuren vorstellt, deren Begegnung er alsbald einfädeln wird. Sie müssen gegensätzliche Charaktere sein, ihr Temperament und ihre Weltanschauung müssen kollidieren, damit ihr Zusammensein unvorhersehbar, konfliktreich und fruchtbar sein kann. Nicht immer herrscht zum Auftakt solche Ungeduld wie im Prolog von «The Goddess of 1967», wo die rissigen Jump Cuts der Montage eilig Abkürzungen suchen, damit die Reise nach Australien endlich beginnen kann. Oft herrscht am Anfang ein Unbehagen an der Einrichtung der Welt, die die Charaktere hinter sich lassen wollen. Sie erscheint eingehegt, erstickend eng – und schreit nach Entgrenzung. Regeln und Routine sollen in der Ferne ausser Kraft gesetzt werden. Manchmal steht am Beginn der Reise gar ein Schlusspunkt. Die Figuren stehen am Nullpunkt ihrer Existenz, wenn etwa in «Ariel» ein Bergwerk geschlossen wird und der Held im Süden Finnlands nach Arbeit suchen muss oder wenn in «Nomadland» infolge der Bankenkrise eine ganze Stadt aufgehört hat zu existieren.

 

Flucht oder Suche sind die ursprünglichen Impulse des Roadmovies. Im besten Fall überschneiden sie sich. Thelma und Louise werden von Staatspolizei und FBI verfolgt. Während ihrer Odyssee fällt ihr Blick immer wieder auf konventionelle Frauenleben, denen sie nun entkommen wollen. Sie üben gleichsam Vergeltung für die Gewalt, die ihrem Geschlecht zugefügt wird, und stellen fest, dass sie sich nie so lebendig gefühlt haben wie jetzt. Dem Bewegungsdrang folgen und sich selbst in der Fremde kennenlernen: Das ist das grosse Versprechen dieses Genres.

 

Diese Verheissung mutet auf Anhieb sehr amerikanisch an. Das Roadmovie ist der unmittelbare Ausdruck einer originären, historisch gewachsenen Mobilität. Es erfüllt den Wunsch, sich an einem fremden Ort neu zu erfinden, und befriedigt zugleich die Schaulust auf die Vielgestaltigkeit des Landes. Die Filmreihe führt jedoch vor Augen, dass dieses Genre eine entschieden internationale Ausstrahlung besitzt. In «Saint Amour» unternehmen ein Vater, sein Sohn und ihr zunächst missmutiger Chauffeur eine lukullische Reise durch die grossen Weinregionen Frankreichs. In «The Adventures of Priscilla, Queen of the Desert» und «The Goddess of 1967» entdeckt man: Dem offenen Horizont kommt man nirgendwo so nahe wie in Australien. Zu den Grundfesten des iranischen Kinos gehört seit jeher das Auto, das in «Hit the Road» zu einem Refugium der Privatsphäre im überwachten öffentlichen Raum wird. In «Blue Moon» öffnet sich der Horizont nach Osteuropa. Achtsam erkundet die Kamera zuerst die Plattenbauten der Randbezirke und bald die historischen Zentren jener ukrainischen Städte, um deren Zukunft wir gerade bangen.

 

In «Il sorpasso», Dino Risis fulminanter Spritztour durch den italienischen Wirtschaftsboom der 1960er-Jahre, geben die von der unverschämt munteren Hupe des Lancia angekündigten Überholmanöver den Takt einer beschleunigten Gesellschaft vor. Der Film zeigt übrigens, wie gern Roadmovies ihre Attraktionen schon im Titel nennen. Mit «The Goddess of 1967» ist die DS (Déesse!) von Citroën gemeint, die schon Roland Barthes zum Träumen brachte. «303» heisst das Modell des Wohnmobils, das für eine Studentin und ihren unverhofften Fahrgast allmählich zu einem Zuhause wird. «972 Breakdowns» listet akribisch die Pannen während einer Landreise in die USA auf. «25km/h» schliesslich gibt das Tempo an, in dem zwei entfremdete Brüder sich ihren Jugendtraum erfüllen, mit dem Mofa an die Ostsee zu fahren.

 

«Il sorpasso» ist zugleich das überzeugendste Argument dafür, dass das Roadmovie eventuell eine italienische Erfindung sein könnte. Immerhin lieferte er die Inspiration für Dennis Hoppers «Easy Rider»! Die Struktur des Drehbuchs ist horizontal, episodenhaft und ungebunden. Diese erzählerische Freiheit ist fundamental für das Genre. Es interessiert sich nicht für schematische Heldenreisen, verzichtet auf die obligatorischen Plot Points und besteht nicht darauf, dass die Protagonist:innen ein erklärtes Ziel erreichen müssen. Das entdecken sie oft erst auf dem Weg: Die schönsten Sehnsuchtsorte sind jene, auf die man unvorbereitet stösst. Das Roadmovie gewährt seinen Charakteren das Privileg, erst noch herauszufinden, was sie wollen – im Moment oder überhaupt im Leben. Es gibt sich täuschend absichtslos, schnappt Impressionen vom Wegesrand auf: Manchmal genügt es, wenn der Fahrtwind den Figuren einfach nur die Haare zerzaust, damit Zeit und Raum verfliegen.

 

Sich von Gewohntem zu entfernen, schärft die Wahrnehmung. Die Strasse wird zum Lehrmeister. Die Charaktere erleiden Verluste – oft werden sie eingangs ausgeraubt – und sind vom Zugewinn an Einsichten überrascht. Als archetypische Kaurismäki-Figur weiss Taisto in «Ariel», dass man die Gelegenheiten, die das Leben bietet, beim Schopf packen muss – ohne Fragen zu stellen und gleichviel, wie kläglich sie zunächst erscheinen mögen. Manchmal halsen sich die Reisenden Herausforderungen auf, denen sie vorher ausgewichen wären. Der japanische Dandy, der eigentlich nur dem Fetisch der «Déesse» frönen wollte, wird in «The Goddess of 1967» nicht nur mit der blutigen Vorgeschichte des Vehikels konfrontiert, sondern auch mit den Traumata seiner Begleiterin, die zwar blind, aber eine treffsichere Schützin ist. 

 

Die Landschaften wechseln und mit ihnen die Stimmungen. Zufälle und überraschende Wiederbegegnungen sind stets möglich und Abschiede unvermeidlich. Das Leben bemisst sich nun nach Etappen, die Dinge können sich entwickeln. In «303» entspinnt sich ein fortgesetzter Dialog über Philosophie, Wissenschaft und Lebensentwürfe, der insgeheim auch ein Parcours von der Theorie zur Praxis der Gefühle wird. Jeder neue Ort, den die zwei Reisenden euphorisch begrüssen, besiegelt ihre zögerliche Annäherung.

 

Empfangen die Reisenden nur oder geben sie den ihnen fremden Welten auch etwas? In «Diarios de motocicleta» ist die Antwort eindeutig. Der junge Che teilt die Facetten der Menschlichkeit, die er erfahren hat, mit anderen. Er schliesst Freundschaften. Die Drag Queens hingegen, die in «The Adventures of Priscilla, Queen of the Desert» eine exotische Subkultur ins australische Outback tragen, haben dort keinen leichten Stand. Der schwarze Pianist Dr. Shirley begibt sich in «Green Book» bei seiner Tournee durch die Südstaaten in Feindesland. Auch «Easy Rider», in dem der Weg der Pioniere vom Osten nach Westen sarkastisch umgekehrt wird, handelt von der Unversöhnlichkeit der USA. Der Weg der zwei Biker, die in Hotels nicht willkommen sind und an Lagerfeuern oder in Gefängnissen übernachten müssen, führt von der gegenkulturellen Idylle Kaliforniens nach Louisiana, wo die von ihnen verkörperte Freiheit auf Furcht, Fremdenhass und Gewalt stösst. 

 

In den meisten Roadmovies ist die Reise eine Parenthese im Leben der Figuren, eine Auszeit, an deren Schlusspunkt etwas Endgültiges steht, das Meer oder der Tod. In «Nomadland» hingegen stellt Chloé Zhao die Unbeständigkeit auf Dauer. Das Nomadentum wird zu einer Lebensweise, für die es – sehr amerikanisch – sogar Ausbildungslager gibt. Die Kultur der Rastlosigkeit, die der Film uns entdeckt, ruht auf gelebter Solidarität, Tauschhandel und prekären Arbeitsverhältnissen. Die Witwe Fern, die ihr Haus verloren hat – aber nicht «homeless» ist, wie sie stolz betont – durchquert mit ihrem Van den Westen der USA und verweigert sich den gesellschaftlichen Konventionen. Sie lässt sich treiben und trifft Vorkehrungen. Insgeheim übte, schon als Kind und Ehefrau, das Anderswo immer die stärkere Faszination auf sie aus. Der Film begleitet sie durch einen Jahreszyklus und lässt erahnen, dass die folgenden ebenso verlaufen werden. Diese Nomadin lernt, im Einklang mit sich zu sein. Fern und ihre Gleichgesinnten verabschieden sich stets mit den Worten «See you down the road» – und man spürt, dass sie angekommen sind. 

 

Gerhard Midding ist freier Autor und Filmjournalist für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, Filmbulletin) sowie Radio (rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat).

 

In der schönsten Jahreszeit packt das Kinok seine Koffer und zieht mit seinem Openair in den stimmungsvollen Innenhof der Lokremise, wo es während der Sommerferien jeweils am Donnerstag-, Freitag- und Samstagabend nach Sonnenuntergang heisst: Film ab! «On the Road» lautet das diesjährige Thema. Die ausgewählten Filme, von denen einige Kultstatus erlangt haben, stehen im Zeichen des Aufbruchs, der Lust am Reisen und am ziellosen Vagabundieren, analog zum Kino als Medium der Bewegung. Wir laden Sie ein, in einem der schönsten Freiluftkinos der Schweiz mit uns auf grosse Fahrt zu gehen.