Stephen Frears – Meister aller Disziplinen

 

von Gerhard Midding

 

Eine der schönsten Anekdoten über Stephen Frears handelt von den Dreharbeiten zu «My Beautiful Laundrette». Sein Kameramann Oliver Stapleton hat sie erzählt und sie hat den Vorzug, nicht nur wahr, sondern bezeichnend zu sein. Stapleton hatte bis dahin nur wenig Fernseh- und Kinoerfahrung, er hatte seine Sporen mit Videoclips für David Bowie, die Rolling Stones und andere verdient. Er drehte dementsprechend sehr augenfällige Einstellungen, setzte farbiges Licht und experimentierte mit Schattenspielen. Seinem Regisseur war es zwar recht, dass der Film nicht nach dem üblichen britischen Sozialrealismus aussah; der Stoff vertrug eine gewisse Stilisierung. Aber nach ein paar Drehtagen nahm Stephen Frears den Kameramann diskret zur Seite und sagte zu ihm: «Deine Bilder sind wirklich beeindruckend. Aber erzählen sie auch die Geschichte?»

 

Darauf zielt der grösste Ehrgeiz dieses Filmemachers, alles in seinen Filmen gehorcht diesem Impuls: Frears will zeigen, wie sich das Leben seiner Figuren und der Zustand der Gesellschaft, in der sie existieren, in einer Geschichte verdichten und kristallisieren. Sie soll spannend sein und das Publikum bewegen. Er ist ein Unterhaltungskünstler, der mit der Kamera einen Erzählfaden spinnt. Seine Inszenierung tritt nicht hinter die Stoffe zurück, sondern will sie bestmöglich zur Geltung bringen.

 

Seine Filme sind eingängig und anspruchsvoll: ein prächtiges Rätsel. Er hört nicht auf, sich darüber zu wundern, wie das Kino und das Leben funktionieren. Frears selbst behauptet gern, es fehle ihm an visueller Vorstellungskraft. Das ist keine Koketterie, sondern robuste Selbstironie. Und selbstverständlich Unfug. Schon in «My Beautiful Laundrette», mit dem er 1985 seinen Durchbruch feierte, tritt er den Gegenbeweis an. Wenn die Neonreklame über dem munter renovierten Waschsalon zum ersten Mal angeschaltet wird, ist das ein magischer Moment. Die Kamera verhängt einen Zauber über das heruntergekommene Viertel in London, in dem sich plötzlich die Träume der pakistanischen Einwanderer erfüllen könnten. Frears’ Inszenierung verführt dazu, in fremde Welten einzutreten: sei es das galante Frankreich des 18. Jahrhunderts, das er in «Dangerous Liaisons» im schwelgerischen Stil der Tableaus von Fragonard wiederaufleben lässt, oder das schäbig-glamouröse, rätselhaft zeitlose Milieu der südkalifornischen Trickbetrüger, das zu Beginn von «The Grifters» einen unwiderstehlichen Sog ausübt, als Frears seine drei Protagonisten mit einer raffinierten, präzise choreografierten Split-Screen-Montage vorstellt. 

 

Erstaunliche 70 Titel umfasst seine Filmografie derzeit. Darunter sind Kinofilme, Fernsehspiele und TV-Mehrteiler. Diesen Wechsel der Medien behält er bis heute bei – und ein Ende ist zum Glück nicht abzusehen. Sein Arbeitstempo hat er sich in den 1970er-Jahren beim britischen Fernsehen angewöhnt, für das er drei, vier Filme im Jahr drehte. Ein solch unermüdliches Tempo kann kein Regisseur vorlegen (und halten!), der zögert oder von Selbstzweifeln geplagt wird. Produzenten schätzen seine Furchtlosigkeit. Schwierige Projekte schüchtern ihn nicht ein, sondern stellen ihn vor «wundervolle Probleme» (Frears). Und die Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern bereitet ihm ein diebisches Vergnügen. 

 

Sein Werk ist eine Folge von beherzt und routiniert ergriffenen Gelegenheiten. Er hat sich an beinahe allen klassischen Filmgenres versucht; selbst einen Comic («Tamara Drewe») hat er schon adaptiert. Einzig die Spielarten des Fantastischen, der Science-Fiction- und Horrorfilme (in «Mary Reilly» betrachtet er den «Jekyll & Hyde»-Mythos aus bemerkenswert aufgeklärter Perspektive), haben ihn bislang noch nicht gereizt. Aber wann bekommt ein englischer Regisseur schon mal die Chance, einen Western zu drehen? Selbstverständlich konnte Frears nicht widerstehen, als er das Angebot erhielt, «The Hi-Lo Country» zu verfilmen. Die majestätischen Kranfahrten und Panoramen der Landschaft von New Mexico, das balladenhaft entspannte Erzähltempo sowie die Nachsicht mit der Rauflust seiner jungen Helden zeigen, dass er auch diese fremde Gattung mit Verve erobern wollte. 

 

Das britische Fernsehen, das in den 1970ern ein goldenes Zeitalter erlebte, war für ihn nicht nur eine Schule der Vielseitigkeit. Er lernte, seine Geschichten tief in der sozialen und kulturellen Realität seines Landes zu verwurzeln. Nicht weniger entscheidend war, dass Sender wie die BBC und Thames TV mit ihren Fernsehspielen an die Traditionen des Nachkriegsdramas anknüpften. Das prägte Frears’ Verhältnis zu Büchern nachhaltig. Es ist von enormem Respekt bestimmt: Hinter der Kamera will er der Vision von Autoren wie Hanif Kureishi, Alan Bennett, Christopher Hampton, Peter Morgan, Steven Knight und anderen gerecht werden. Das bedeutet nicht, dass er keinen Einfluss auf die Bücher nehmen würde. Manchmal verändert er sie nur, indem er einen reizvolleren Schauplatz oder lebhafteren Hintergrund für die Szenen findet. Mitunter jedoch unternimmt er gravierende Weichenstellungen. Bei «Dangerous Liaisons» bestand er darauf, dass Christopher Hampton die intriganten Briefwechsel zwischen den Hauptfiguren wieder einfügte, die er in seiner ersten Drehbuchfassung fortgelassen hatte. Wer könnte sich den Film ohne diese schillernd tückischen Kommentare aus dem Off vorstellen? Bei «The Grifters» überzeugte er den Autor Donald E. Westlake, dass die eigentliche Hauptfigur die von Anjelica Huston gespielte Mutter sei. So gewann der Neo-Noir das Flair einer griechischen Tragödie. 

 

Frears ist fasziniert von den Tricks, den Listen, Tücken und Finessen, die das Geschichtenerzählen erfordert. Eine Urheberschaft an den Büchern muss er jedoch nicht für sich reklamieren, weil er weiss, dass seine Regiearbeit noch eine weitere Dimension schafft: durch seinen konzentrierten Blick, sein Gespür für Atmosphäre, für das Timbre des Moments, durch Rhythmus und Tempo, durch die Evidenz der Bildkompositionen und die pragmatische Eleganz der Kamerabewegungen. Dabei ist er kein Auteur im landläufigen Sinne. Vielmehr begreift er die Regie als eine kreative Instanz neben anderen in der Gemeinschaftskunst Film. In gewisser Weise ist er das britische Äquivalent eines Hollywood Professional, der es geniesst, bei jedem neuen Film unterschiedliche Muskelpartien zu trainieren. Er hält die Drehpläne ein und zählt zu den wenigen Regisseuren, die sich auch mal darüber beklagen, dass die Budgets der Filme zu verschwenderisch sind. 

 

Kontinuität weist sein Werk vor allem in seinem Mitarbeiterstab auf: Mick Audsley hat den Grossteil seiner Filme geschnitten, regelmässig führen Oliver Stapleton und Chris Menges für ihn die Kamera, Alexandre Desplat ist seit einigen Jahren sein ständiger Komponist. Anders als seine Landsleute Mike Leigh, Ken Loach oder Nicolas Roeg bleibt Frears nicht einem grossen, übergreifenden Thema treu. Dennoch gibt es zahlreiche Motive, die sich durch sein Œuvre ziehen. Er rückt gern gesellschaftliche Aussenseiter ins Zentrum, hat ein Faible für unkonventionelle Figuren, wie man sie sonst im Kino nicht sieht. Gern lässt er gegensätzliche Charaktere aufeinanderprallen, die sich etwa in «My Beautiful Laundrette» und «Philomena» nicht nur zusammenraufen müssen, sondern aneinander lernen. Im Gegenzug faszinieren ihn in «Dangerous Liaisons» und «The Grifters» die Mechanismen von Ranküne, Manipulation und Verrat. In einem Strang seines Werks, der sich von «Prick Up Your Ears» über «The Queen» bis zu «Philomena» und gerade erst «A Very English Scandal» erstreckt, beweist er eine eminent britische Sensibilität für das Verhältnis von Intimsphäre und Öffentlichkeit.

 

Stephen Frears Handschrift ist in jedem seiner Filme unverkennbar, ohne dass er sie ihnen auferlegen würde. Sie ist eine Frage des Erzähltemperaments, der Haltung zu Geschichten und Charakteren. Er interessiert sich einfach brennend für das, was seine Figuren bewegt. Kaum je arbeitet er mehr als einmal mit einem Darsteller oder einer Darstellerin zusammen – und wenn, dann in gegensätzlichen Rollen.

 

Er sucht die Begegnung mit unterschiedlichen Kulturen (die er mitunter direkt vor der eigenen Haustür in einem der weniger modischen Viertel Londons vorfindet: In «Dirty Pretty Things» etwa treten vornehmlich illegale Einwanderer auf); immer wieder versenkt er seinen Blick in ferne Epochen und Milieus. So konnte er zu einem transatlantischen Grenzgänger werden. Sein erster US-Film, «Dangerous Liaisons», fungiert als ein Scharnier; seine Vorstellungen von Sittlichkeit und Verführung entsprechen noch europäischer Weltläufigkeit. Auch in Hollywood musste er nicht zu einem Studioregisseur werden, sondern durfte sich die wachsame Schaulust des Fremden bewahren. Er besitzt die Gabe, sich zu verankern. Darin zeigt sich nicht nur Geschmeidigkeit, sondern Geistesgegenwart. Seine Neugier ist umfassender, ausgreifender, als es der traditionelle Autorenbegriff vorsieht: Stephen Frears dreht Filme, damit das Publikum etwas entdeckt, das er selbst vorher noch nicht kannte. 

 

Gerhard Midding ist freier Autor und Filmjournalist für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, Filmbulletin) sowie Radio (rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat).

 

Er ist einer der wichtigsten Vertreter des New British Cinema und einer der vielseitigsten Regisseure Grossbritanniens. Ob kleiner Autorenfilm oder grosses Hollywoodkino: Stephen Frears ist in beiden Welten zu Hause. Seine Filme sind feinfühlige Milieu- und Zeitstudien, doch liess er sich nie auf sozialkritische Themen festlegen. Er drehte Thriller, Dramen, Komödien, Kostümfilme und sogar einen Western; seine mittlerweile 70 Werke umfassende Filmografie ist von Respekt einflössender Länge und Bandbreite. Sein 80. Geburtstag am 20. Juni ist uns willkommener Anlass, Ihnen einige seiner schönsten Werke zu präsentieren.