Frauengeschichte erinnern im Kino

 

von Catherine Silberschmidt

 

1991 fanden in der Schweiz zwei Grossereignisse statt: die Jubiläumsfeier 700 Jahre Eidgenossenschaft und der erste landesweite Frauenstreik. Am 14. Juni 1991 gingen eine halbe Million Frauen für die Gleichstellung auf die Strasse, zehn Jahre nachdem die gesetzliche Gleichberechtigung von Frau und Mann endlich in der Bundesverfassung verankert worden war und zwanzig Jahre nach Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen. Mit dem neuen Eherecht galt seit 1988 nicht mehr der Mann als Oberhaupt der Familie und die Ehefrauen konnten selbst bestimmen, ob sie erwerbstätig sein wollten. Doch die tatsächliche Gleichstellung in der Arbeitswelt lag noch in weiter Ferne, was den Ausschlag für den grossen Frauenstreik gab.

 

Ausgehend von diesem Anlass rekapituliert Tula Roy in ihrem dreiteiligen Dokumentarfilm «Eine andere Geschichte»achtzig Jahre Schweizer Geschichte aus weiblicher Perspektive. Teil 1 beginnt am 8. März 1910, dem ersten Internationalen Frauentag, an dem insbesondere die sozialistischen Frauen in der Schweiz teilnahmen. Neben wichtigen politischen Akteurinnen, die ausführlich zu Wort kommen, illustrieren die beiden grossen Ausstellungen zur Frauenarbeit, die SAFFA 1928 in Bern und die SAFFA 1958 in Zürich, die Bedeutung der erwerbstätigen Frauen. In beiden vom Bund Schweizerischer Frauenvereine organisierten Ausstellungen war auch die Einführung des Frauenstimmrechts ein wichtiges Thema. In diesem sorgfältig recherchierten Dokumentarfilm beeindrucken vor allem die Erfahrungen aus erster Hand, etwa jene der 1910 geborenen Zürcher Sozialistin und Feministin Amalie Pinkus-De Sassi, die Anfang der 1930er-Jahre als Delegierte der Internationalen Arbeiterhilfe IAH nach Paris, Berlin und anschliessend auf eine Informationsreise in die UdSSR geschickt wurde. Nach ihrer Rückkehr wurde sie Kommunistin, dann Sozialistin und nach 1968 aktives Mitglied der Zürcher Frauenbefreiungsbewegung FBB.

 

Szenenwechsel: Während der diesjährigen Solothurner Filmtage verfolge ich am Bildschirm eine Podiumsdiskussion mit Schweizer Filmpionierinnen, die die Festivaldirektorin Anita Hugi gemeinsam mit Denise Tonella, der neuen Leiterin des Landesmuseums Zürich, anlässlich von 50 Jahren Frauenstimmrecht moderiert. Eine Wiederbegegnung mit Tula Roy und Lucienne Lanaz, die mich – obwohl an den Bildschirm verbannt – richtig glücklich stimmt. 1984 hatten die beiden Regisseurinnen gemeinsam mit ihrer experimentell arbeitenden Kollegin Isa Hesse-Rabinovitch und einer Schar filminteressierter Frauen und Filmarbeiterinnen die «CH-Filmfrauen» gegründet, denen ich auch angehörte: ein wichtiges Kontaktnetz und ein lustbetonter cinephiler Debattierclub, der schöne Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Abende und Wochenenden wachruft.

 

In der Solothurner Gesprächsrunde erinnerte sich Lucienne Lanaz, dass in der Schweizer Filmwochenschau die Annahme des Frauenstimmrechts 1971 mit keinem Wort erwähnt worden war. Gemeinsam mit Anne Cuneo hatte sie 1980 für ihren Dokumentarfilm «Cinéjournal au féminin» sämtliche Kinowochenschauen gesichtet und aufgezeigt, wie sich das stereotype und zuweilen auch misogyne Rollenbild der idealen Schweizerfrau perpetuiert. Wie eng das Rollenkorsett für Frauen in der Schweiz bis in die 1960er-Jahre geschneidert war, wird auch an der Empörung deutlich, die das revolutionäre und aufwühlende Buch «Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten 1958 hervorrief. Erfrischend polemisch, mit Humor und Wut hält die Juristin darin ihren Geschlechtsgenossinnen einen Spiegel vor und fordert vehement berufliche und politische Gleichberechtigung sowie die sexuelle Freiheit der Frauen. Die Frauenorganisationen zeigen Iris von Roten die kalte Schulter und distanzieren sich von der Autorin, die auch persönlich angefeindet wird und sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Auch diese unrühmliche Episode im Kampf um gleiche Rechte greift Tula Roy in «Eine andere Geschichte» auf.

 

Eine erfolgreiche und wichtige Frauenrechtlerin war die 1917 geborene Bernerin Marthe Gosteli, die in «De la cuisine au parlement» von Stéphane Goël von ihren Erfahrungen im Kampf um das Frauenstimmrecht erzählt. Nach ihrer Pensionierung baute sie in Eigenregie ein breitangelegtes Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung auf, das Gosteli-Archiv, das nach ihrem Tod 2017 in finanzielle Schieflage geriet. Dank einer jährlichen Bundessubvention, die ab 2020 ausbezahlt wird, kann diese einzigartige Sammlung erhalten und zugänglich bleiben. Ein erfreulicher und zukunftsweisender Entscheid in einer Zeit, in der die Ungleichheit von Frauen- und Männerlöhnen wieder zu- statt abnimmt und die gegenwärtige Rentendebatte im National- und Ständerat zeigt, wie wenig sich die tatsächliche Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt durchgesetzt hat.

 

Doch zurück zum Kino und zur Fiktion. Ich muss gestehen, ich bin kein Fan von Period Movies, die vorgeben, historische Ereignisse zu rekonstruieren, auch wenn ich deren Unterhaltungswert keineswegs in Abrede stellen möchte. Mehr als Unterhaltung bietet allerdings Petra Volpe in «Die göttliche Ordnung», weil es ihr gelingt, den skandalösen Sachverhalt, dass die Männer den Frauen die politischen Rechte empörend lang verweigerten, anhand einer biederen Hausfrauengeschichte aufzuziehen. Hier schaffen Witz und Ironie Distanz zur patriarchalen Verknöcherung und die 36-jährige Protagonistin Nora Ruckstuhl – vorzüglich interpretiert von Marie Leuenberger – bewegt sich unerschrocken, verschmitzt und von Lebenslust und Neugier getrieben in dieser erstarrten Männerwelt.

 

Ende der 1960er-Jahre zur Zeit der Hochkonjunktur waren die englischen Gewerkschaften noch in Hochform, bevor ihnen Ende der 1970er-Jahre der neoliberale Regulierungskurs der Regierung Thatcher den Wind aus den Segeln nahm. Als jedoch 1968 im Ford-Werk von Dagenham 187 Näherinnen ihre Arbeit niederlegen, um gegen Lohnkürzungen zu streiken, tun sie das nicht nur gegen den Widerstand ihrer Ehemänner, sondern auch ohne jegliche Unterstützung der Gewerkschaft. Die filmische Inszenierung des Näherinnen-Streiks in «We Want Sex» (der etwas unspektakuläre, aber informativere Originaltitel lautet «Made in Dagenham») des britischen Regisseurs Nigel Cole zeigt den Kampf der Frauen aus der englischen Arbeiterschicht für ihre Bürgerinnen-Rechte und welch hohen Preis sie dafür zahlten. Der mutige Widerstand der Arbeiterinnen hinterlässt Spuren und führt 1970 zur Verabschiedung des «Equal Pay Act», eines Gesetzes zu gleichem Lohn für gleiche Arbeit. Der Streik von Dagenham wurde schliesslich zu einem der letzten Triumphe der damals noch kaum regulierten britischen Gewerkschaften. «We Want Sex» ist ein unterhaltsames feministisches Lehrstück über Frauensolidarität, das einen politischen Optimismus verströmt, der an die Aufbruchsstimmung unserer beiden grossen Frauenstreiks 1991 und 2019 erinnert.

 

Die jüdische Polin Rosa Luxemburg war und bleibt eine zentrale Figur im Kampf um soziale Gerechtigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie als überzeugte Marxistin keine explizite Frauenrechtlerin war. Als kompromisslose Klassenkämpferin und vehemente Pazifistin riskierte sie im zunehmend polarisierten politischen Klima der wilhelminischen Ära am Ende des Ersten Weltkrieges ihr Leben und verlor es, 48-jährig, ermordet von rechtsnationalen Milizionären – vier Tage, bevor die deutschen Frauen am 19. Januar 1919 zum ersten Mal abstimmen konnten und sich damit ein zentrales Postulat der bürgerlichen Frauenbewegung erfüllte. Als unerschrockene Kämpferin bleibt sie Vorbild, eine Märtyrerin ist sie nicht, denn vieles hat die anfangs der 1890er-Jahre an der Zürcher Universität promovierte Nationalökonomin in ihrem abenteuerlichen und leidenschaftlich gelebten Leben erreicht. Die deutsche Regisseurin Margarethe von Trotta realisierte 1986 mit «Rosa Luxemburg» einen aufwendigen, reich ausgestatteten Kostümfilm mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle. Das melodramatisch inszenierte Biopic ist nicht nur wegen der schauspielerischen Leistung Sukowas sehenswert, die dafür in Berlin und Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde.

 

«Her mit dem Frauenwahlrecht!», betitelt die deutsche Historikerin Gisela Notz 2008 einen historischen Rückblick auf die – für schweizerische Verhältnisse – überraschend frühe Einführung des deutschen Frauenstimmrechts 1918. Die historische Koinzidenz von Frauenwahl und zunehmender politischer Polarisierung zeigt, dass die Einführung des Frauenstimmrechts zwar eine wichtige gleichstellungspolitische Errungenschaft ist, aber keine Garantie für eine gerechtere und freie Gesellschaft. Zwar gingen 1919 über 80 Prozent der erstmals wahlberechtigten deutschen Frauen an die Urne, doch stimmten sie mehrheitlich für konservative Parteien, wie nachträgliche Wahlanalysen zeigen. «15 Jahre lang konnten Frauen in Deutschland wählen und durften gewählt werden. Dann wurde das Rad der Zeit zurückgedreht. Daran war der durch einen nicht unerheblichen Anteil von Frauen unterstützte Nationalsozialismus schuld», so die ernüchternde Schlussfolgerung der deutschen Geschichtsforscherin.

 

Catherine Silberschmidt (geb. 1950) ist Journalistin und Filmkritikerin. Nach einer Ausbildung zur Fernsehjournalistin arbeitete sie freiberuflich für das Radio und verschiedene Printmedien (WOZ, NZZ, CINEMA) mit den Themenschwerpunkten Frauen in der Filmgeschichte und afrikanisches Kino, daneben hat sie Filmwissenschaft und Ethnologie studiert und 1994 mit einer filmhistorischen Arbeit über die französische Avantgarde-Regisseurin Germaine Dulac abgeschlossen. Von 1990 bis 2004 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Fachstelle für Gleichberechtigung des Kantons Zürich für Öffentlichkeitsarbeit und Arbeitsmarktfragen zuständig. Sie hat drei grosse Retrospektiven der bedeutenden Regisseurinnen Věra Chytilová, Marguerite Duras und Germaine Dulac mitorganisiert und letztes Jahr für das Zürcher Filmpodium eine Reihe mit Werken der ukrainischen Filmemacherin Kira Muratova (19342018) zusammengestellt.

 

Die Filmreihe «Die Hälfte der Welt» ist begleitend zur Ausstellung «Klug und Kühn – Frauen schreiben Geschichte» des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz entstanden, die bis 19. September 2021 im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen zu sehen ist. Weitere Informationen finden Sie unter klug-und-kuehn.ch.

 

In «Die Hälfte der Welt» feiern wir die Kämpferinnen und Wegbereiterinnen für die Rechte der Frau. Tula Roy schuf mit «Eine andere Geschichte» eines der wichtigsten Zeitdokumente zur Schweizer Frauenbewegung. Stéphane Goël aktualisierte seinen «De la cuisine au parlement». Den ersten Spielfilm zum Thema verdanken wir Petra Volpe, deren «Die göttliche Ordnung» innert kürzester Zeit Kultstatus erreichte. Wir ziehen unseren Hut aber auch vor unseren europäischen Schwestern, die in «Die Hälfte der Welt gehört uns – Als Frauen das Wahlrecht erkämpften», «Suffragette», «We Want Sex» und «Rosa Luxemburg» verewigt sind.