Iranian Film Festival: Fremd in der Heimat, fremd in der Ferne

 

von Robert M. Richter

 

Eigentlich sollte ich Abbas Kiarostami als Jurykollegen am Filmfestival Isfahan im Herbst 1990 wiedersehen. Doch nach dem Erdbeben im Norden des Landes, wo er zuvor «Wo ist das Haus des Freundes?» (Khane-ye doust kodjast?) gedreht hatte, konnte Kiarostami die Dreharbeiten zu «Und das Leben geht weiter» (Zendegi va digar hich) nicht unterbrechen. So oder so kamen viele meiner Begegnungen mit dem grossen Filmautoren und Poeten aufgrund von «Zufällen» zustande. Unter den vielen Erinnerungen an unsere gemeinsamen Gespräche fällt mir Kiarostamis erstaunliche Prognose anlässlich unserer ersten Begegnung wieder ein: Nach den Teppichen werde in Zukunft der Film das bekannteste Exportgut Irans sein. Obwohl ich damals bereits einige herausragende iranische Filme gesehen hatte, die inzwischen zu Klassikern geworden sind, erschien mir diese Prognose gewagt.

 

Kiarostami sollte recht behalten. In den Jahren danach begannen Filmfestivals weltweit und etwas später auch Verleihfirmen, sich förmlich um neue iranische Filme zu reissen. Dieser Trend hält bis heute an. Der Hauptgrund ist sicher die in vielen Filmen sichtbare erzählerische und visuelle Qualität und der eigenständige filmische Ausdruck der begabtesten Filmschaffenden.

 

Das iranische Filmschaffen ist oft geprägt von einer Mischung aus Minimalismus, der auf die persische Bildkunst zurückgeht, und Neorealismus: Beispiele dafür sind die die Schah-Politik blossstellenden Dokumentarfilme von Kamran Shirdel, Irans bedeutendstem sozialkritischen Dokumentarfilmregisseur, oder der berühmte Spielfilmerstling «Die Kuh» (Gav) von Dariush Mehrjui über einen Bauern, der den Tod seiner Kuh nicht zu verschmerzen vermag. Alle diese Werke sind in den Sechzigerjahren entstanden. Gelegentlich paart sich diese Mischung mit Surrealismus wie beispielsweise in Parviz Kimiavis «Die Mongolen» (Mogholha, 1973) oder in den aktuellen Filmen von Mohammad Rasoulof. Wesentlich für das internationale Interesse war und ist die von Irritation geprägte Neugier des ausländischen Publikums auf Geschichten, die es aus dem Land der vermeintlich Strenggläubigen keinesfalls erwartet, sowie das durchdachte Marketing von iranischer Seite in den späten Achtzigerjahren und den Neunzigerjahren.

 

Schnell verfingen sich die Erwartungen in Klischees. In Dörfern angesiedelte Kindergeschichten wurden zum Markenzeichen des «echten» iranischen Films. Dies ebnete neben anderen Majid Majidi den Weg zum internationalen Erfolg mit poetischen Filmen wie «Children of Heaven» (Bacheha-ye aseman, 1997) oder «The Color of Paradise» (Rang-e Khoda, 1999, korrekte Übersetzung des Originaltitels: «Die Farbe Gottes»). Filmfachleute, die den Iran noch nie besucht hatten, stellten sich wohl vor, es gäbe dort keine modernen und vibrierenden Millionenstädte wie überall auf der Welt. Dies führte dazu, dass Filmen mit urbanen Geschichten oder gar Komödien der Weg in unsere Kinosäle lange so gut wie verwehrt blieb. Zudem hatte man die in Städten angesiedelten Filme aus der Zeit vor der Islamischen Revolution total vergessen, wie etwa «Der Kreis» (Dayereh-ye mina, 1974) von Dariush Mehrjui, der den illegalen Blutkonservenhandel aufgreift. Auch seine nach der Revolution gedrehten grossstädtischen Filmgeschichten fanden im Ausland zu wenig Beachtung. Dies führte zur grotesken Situation, dass Jahre später nicht wenige Filmfachleute an der Berlinale 2011 Asghar Farhadis grossartigen, mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten «A Separation» (Jodaei-ye Nader az Simin) als nicht typisch iranischen Film einstuften, weil er einen Beziehungskonflikt im städtischen Umfeld explizit und weitgehend ohne Allegorien präsentierte.

 

Eine grosse Öffnung, ja fast ein Befreiungsschlag, gelang in den Jahren nach der Wahl von Mohammad Khatami zum Präsidenten (1997), der bis 1992 als Kulturminister die Grundlage für herausragende Filme schuf, die den nachrevolutionären iranischen Film international bekannt machten. Erwähnt seien hier Regisseure wie Abbas Kiarostami, Mohsen Makhmalbaf oder Amir Naderi. Wer heikle politische oder religiöse Themen mied, konnte ab Ende der Neunzigerjahre vieles thematisieren, wovon Filmschaffende in den zwanzig Jahren zuvor nur zu träumen wagten: von der Lebenslust und den Ausbruchsversuchen Jugendlicher, über Gewalt in der Ehe bis hin zu Armut oder Drogen. Explizite Bilder und Handlungen lösten die vorangegangene allegorische Erzählweise teilweise ab, stilisierte Filmfiguren machten einer realistischen Zeichnung Platz. Urbane Alltagsgeschichten konnten – durchaus mit kleineren Kompromissen – nun glaubwürdig dargestellt werden. Die Öffnung vor zwanzig Jahren prägt den iranischen Film bis heute.

 

Den Kampf zwischen den Geschlechtern griff der Regisseur Fareidoun Jeirani im deftigen B-Movie-Thriller «Rot» (Qermez, 1999) auf, in dem eine Frau ihren eifersüchtigen Ehemann mit einem Fleischermesser ersticht. Im gleichen Jahr drehte Regisseurin Tahmineh Milani den Kassenschlager «Zwei Frauen» (Do san) über zwei ehemalige Studienfreundinnen, die in gegensätzlichen familiären Umfeldern leben. In diese Zeit der Aufbruchsstimmung fällt auch der Dokumentarfilm «Unsere Zeit» (Rooz-e gar-e ma) der renommierten Regisseurin Rakhshan Bani-Etemad über Jugendliche im Präsidentschaftswahlkampf 2001 und eine Frau, die als Präsidentschaftskandidatin antritt. Dennoch schlug die Zensur weiterhin zu: So wurde Babak Payamis «Stille zwischen zwei Gedanken» (Sokout bein-e do fekr, 2003) während der Produktion beschlagnahmt. Der Film erzählt von einem Henker, der vom religiösen Dorfoberhaupt den Auftrag erhält, eine zum Tode Verurteilte zu entjungfern, damit die Frau nach der Hinrichtung in der Hölle und nicht im Himmel landet.

 

Selbst die 2005 erfolgte Wahl des fundamentalistisch-konservativen Mahmoud Ahmadinejad zum Präsidenten und die damit einhergehende Verschärfung von Zensur und Moralvorgaben verfehlten letztlich ihre Ziele im Filmschaffen. Dies vor allem aufgrund der weltweiten Entwicklung hin zu immer kleineren Kameras und digitalen Postproduktionstechniken, gut versteckt in irgendwelchen Hinterzimmern. Damit konnten die Filmschaffenden den zu Zeiten des 35mm-Films unumgänglichen Hürden von Drehbewilligung, Zugang zu Filmmaterial oder Zensurabnahmen den Rücken kehren. Oder sie gingen ins Exil wie Rafi Pitts nach «The Hunter» (Shekarchi, 2009). In diesem meisterhaften Film nimmt Ali, gespielt von Pitts selbst, Rache an der Polizei und damit indirekt an der Staatsmacht, nachdem seine Frau und seine Tochter bei einer Demonstration erschossen wurden. Überaus lang ist die Liste der Filmschaffenden, die in den letzten Jahren trotz Schwierigkeiten ihre Filme drehten und diese einem internationalen Publikum vorstellen konnten. Stellvertretend seien zwei Filme aus dem Jahr 2013 erwähnt: Mohammad Rasoulofs «Manuscript Don’t Burn» (Dast-neveshteha nemisoozand) über Morde an Intellektuellen und der bizarre Thriller «Fish and Cat» (Mahi va ghorbeh) von Shahram Mokri.

 

Heute widmen sich Publikumsfilmfestivals in zahlreichen Städten weltweit dem iranischen Film. Seit 2015 findet in Zürich das jährliche Iranian Film Festival statt, gegründet und geleitet vom in der Schweiz lebenden Iraner Yadolah Dodge. In Zusammenarbeit mit dem Festival bietet Cinélibre, das Netzwerk der Kulturprogrammkinos und Filmklubs in der Schweiz, erstmals eine Auswahl der besten Filme des letztjährigen Festivals an.

 

Was aber ist heute ein «iranischer» Film? Lässt sich diese Frage angesichts der weltweiten Migration überhaupt noch klar beantworten? Die Auswahl zeigt, wie schwierig dies ist: Die Bandbreite reicht von Filmen, die im Iran spielen, über Filme, in denen Iranerinnen und Iraner ins Ausland aufbrechen oder ihre ehemalige Heimat besuchen, bis zu Filmen, die vollständig in der Diaspora angesiedelt sind. So unterschiedlich diese erzählerisch und formal sind, haben sie doch eines gemeinsam: Es sind Spielfilmerstlinge, die dazu einladen, neue, vielversprechende Talente zu entdecken.

 

Gemeinsam ist diesen Filmen aber auch, dass sich ihre Protagonisten in der Heimat wie auch fern der Heimat fremd fühlen. Ein Höhepunkt ist das in Teheran spielende Sozialdrama «Red Nail Varnish» (Lak-e ghermez) von Seyyed Jamal Hatami. Ebenfalls im Iran angesiedelt ist Babak Bahrambeygis stimmiger «A Long Day» (Yek rooz-e tolani), in dem ein Kunstmaler während eines Besuches in seiner Heimat nach Strich und Faden übers Ohr gehauen wird. Neue Lebensentwürfe umzusetzen versuchen junge Iraner in Armenien und Schweden: «The Apricot Groves» (Baghestan-e zard alu) von Pouria Heidary Oureh und «The Descendants» (Farzandan) von Yaser Talebi. Das in der kalifornischen Diaspora angesiedelte Kammerspiel «Polaris» von Regisseurin Soudabeh Moradian schliesslich ist ein spannendes Psychodrama über Verletzungen, Unehrlichkeiten und unerfüllte Lebensträume.

 

Das Kinok ergänzt das Best of Iranian Film Festival Zurich mit zwei weiteren Filmen: dem Roadmovie «Avant la fin de l’été» der iranisch-schweizerischen Regisseurin Maryam Goormaghtigh, das an den Solothurner Filmtagen für den Schweizer Filmpreis nominiert wurde, und dem Animationsfilm «Tehran Taboo», dem Erstling des in Deutschland lebenden Ali Soozandeh. Der im Rotoskopie-Verfahren (mit realen Schauspielern gedrehte Szenen werden animationstechnisch «nachgezeichnet») hergestellte Film erzählt von drei Frauen und einem Mann inmitten des Teheraner Alltags, der von klaren Moralvorgaben geprägt ist. Dramaturgisch überhöht spiegelt der Film die urbane iranische Realität, in der alle Menschen Schlupflöcher finden, um das Leben nach ihren Wünschen zu gestalten – Schlupflöcher, die alle Iranerinnen und Iraner kennen.

 

Robert M. Richter ist Geschäftsführer von Cinélibre. Seit bald 30 Jahren ist er auf den iranischen Film spezialisiert, kuratierte Filmreihen für Kinos und Filmfestivals, publizierte in zahlreichen Medien und gilt als profunder Kenner des iranischen Films und seiner Geschichte.

 

Das Iranian Film Festival findet in Zusammenarbeit mit Cinélibre und dem Iranian Film Festival Zurich statt und wird mit zwei Premierenfilmen ergänzt.

 

Der Iran zählt zu den grossen Filmnationen der Welt. Regisseure wie Mohsen und Samira Makhmalbaf, Abbas Kiarostami, Bahman Ghobadi, Jafar Panahi, Rafi Pitts, Mohammad Rasoulof und Asghar Farhadi geniessen grosses Renommee. Ihre Werke sind an internationalen Festivals präsent und werden regelmässig mit wichtigen Preisen ausge-zeichnet. In den letzten Jahren kamen einige aufregende Werke junger, unbekannter Filmemacher in unsere Kinosäle. Sieben Erstlingswerke geben im März Einblick in das aktuelle Filmschaffen, in dem Migration, Entwurzelung und Neubeginn einige der zentralen Themen sind.