
Sandrine Bonnaire
«Schauspielerin sein heisst präsent sein»
Sandrine Bonnaire ist eine Ausnahmeerscheinung unter den französischen Schauspielerinnen: ein eher kantiges Gesicht mit grossen, dunklen Augen und einem wunderbaren Lachen, oft spielt sie eher wortkarge Figuren. Ihre Lachgrübchen sind eines ihrer Markenzeichen, sie stehen in überraschendem Kontrast zu den verschlossenen und dunklen Seiten ihrer Filmrollen. Dem Wechsel zwischen Unschuld und Abgrund in ihrem Gesicht zuzusehen, ist ein Ereignis. Patrice Leconte, mit dem sie die Simenon-Verfilmung «Monsieur Hire» (1989) und «Confidences trop intimes» (2004) drehte, ist einer der Regisseure, der ihre ungeheure Wandlungsfähigkeit am Besten einzusetzen weiss: «Sandrine ist eine grosse Schauspielerin, weil sie ihre Rollen nicht intellektuell angeht. Ihr Arbeitsinstrument ist die Intuition; sie schöpft ihre Inspiration aus ihrer eigenen Erfahrung und nährt ihre Charaktere mit persönlichen Emotionen. Sie ist die Verkörperung von Ehrlichkeit und versteckt sich nie hinter einem Trick oder einer Maskerade – sie zieht keine Show ab. Sie ist eine ‹first-take›-Schauspielerin; von Anfang an ist sie hundertprozentig bei der Sache. Mit ihr zu arbeiten ist eine aussergewöhnliche Erfahrung, weil sie den Eindruck vermittelt, alles geschieht leicht und spontan. Sie ist einer der wunderbarsten Menschen, mit denen ich je gearbeitet habe.»
Ihre Karriere als Schauspielerin hört sich wie ein modernes Märchen an: 1967 geboren, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen zusammen mit zehn Geschwistern in Grigny, einem Vorort von Paris. Sie träumte davon, berühmt zu werden – aber als Sängerin oder Tänzerin, Kinofilme kannte sie nur aus dem Fernsehen. Der Vater einer Schulfreundin arbeitete bei einer Casting-Agentur und vermittelte den Bonnaire-Schwestern Statistenrollen, so für die Teenager-Komödie «La boum 2» (1982). Zum Casting für «À nos amours» (1983) von Maurice Pialat hatte sie eigentlich nur ihre Schwester Corinne begleitet. Pialat liess auch Sandrine vorsprechen und entdeckte sofort ihre natürliche Begabung; er wurde zum Mentor und zu einer Vaterfigur für die junge Schauspielerin. In « À nos amours» spielt sie praktisch sich selbst – eine fünfzehnjährige Schülerin aus der Banlieue, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht. Es war der sensationelle und erfolgreiche Start einer Schauspielkarriere, die keine Brüche aufweist. Sandrine Bonnaire wurde schlagartig berühmt. Neben zahlreichen Filmangeboten erhielt sie auch ihre erste Auszeichnung, den César als beste Nachwuchsschauspielerin. Zwei Jahre später folgte der zweite César als beste Hauptdarstellerin für ihre reife und beeindruckende Interpretation der Vagabundin Mona in «Sans toit ni loi» von Agnès Varda (1985).
Sandrine Bonnaire, die mit fünfzehn Jahren die Schule abgebrochen und nie eine Schauspielschule besucht hatte, wurde zur Muse des französischen Autorenkinos. Sie inspirierte Jacques Rivette zu einer neuen Jeanne d’Arc-Verfilmung, sein in allen Belangen aufwändigstes Filmepos, in zwei Teilen gedreht: «Jeanne la Pucelle 1 – Les batailles» und «Jeanne la Pucelle 2 – Les prisons» (1994). Über die fünfjährigen Dreharbeiten gab Sandrine Bonnaire 1994 ein Buch heraus mit dem Titel Le roman d’un tournage – Jeanne la Pucelle. 1998 inszenierte sie Rivette als tragische Heldin im zeitgenössisch umgesetzten Elektra-Mythos «Secret défense», als Rächerin ihres Vaters. Als «Duo infernal» zusammen mit Isabelle Huppert feierte sie einen ihrer grössten Erfolge in Claude Chabrols «La cérémonie» (1995). Als Dienstmädchen Sophie lässt sie sich mit der Postbotin Jeanne (Huppert) zu einer mörderischen Tat hinreissen. In den letzten Jahren hat Sandrine Bonnaire vor allem mit jüngeren Regisseuren zusammengearbeitet. In «La Joueuse» (2009) der deutsch-italienischen Regisseurin Caroline Bottaro spielt sie eine Putzfrau, die sich plötzlich für das Schachspiel interessiert, was ihr eine neue Welt und einen neuen Lebensinhalt öffnet. Für den französischen Regisseur Safy Nebbou stand sie bereits zweimal vor der Kamera: für das Familiendrama «Le cou de la girafe» (2004), wo es um eine späte Vergangenheitsbewältigung geht, und das Psychodrama mit überraschendem Ausgang «L’empreinte de l’ange» (2008).
2007 stand sie zum ersten Mal selbst hinter der Kamera für den Dokumentarfilm «Elle s’apelle Sabine» (2007), ein sensibles und engagiertes Porträt ihrer autistischen Schwester. Ihr erster Spielfilm «J’enrage de son absence» (2011) basiert auf den Lebenserinnerungen ihrer Mutter. William Hurt, der Vater ihrer ersten Tochter Jeanne, spielt die Hauptrolle. Bonnaire sagt dazu: «Die Regisseure, die mich inspiriert haben, waren diejenigen, deren Filme auf ihren eigenen Erfahrungen basieren. Pialat hat nur seine eigenen Geschichten verfilmt. Als Schauspielerin und jetzt auch Regisseurin kann ich mich nicht von meinen eigenen Geschichten lösen.»
Sandrine Bonnaire betrachtet sich selbst in jeder Beziehung privilegiert: «Wer aus einem solchen Milieu stammt, ist sich später im Leben seines Glücks bewusst». 2010 hat sie zusammen mit den beiden Journalisten Tiffy Morgue und Jean-Yves Gaillac eine Autobiographie in Gesprächsform herausgegeben, mit dem bezeichnenden Titel Le soleil me trace la route.
Die Sandrine-Bonnaire-Reihe wird im April fortgesetzt.