
Petite nature
Regie: Samuel Theis
Darst.: Aliocha Reinert, Antoine Reinartz, Mélissa Olexa, Izïa Higelin, Jade Schwartz, Ilario Gallo, Abdel Benchendikh, Romande Esch, Jonathan Zito, Thierry Luddecke u.a.
Der zehnjährige Johnny lebt mit seiner Mutter Sonia und seinen zwei Geschwistern in einer Sozialwohnung im lothringischen Forbach, einer Kleinstadt nahe der deutschen Grenze. Johnnys Mutter Sonia ist alleinerziehend, alle Kinder haben andere Väter. Erst kürzlich ist die Familie hierhergezogen, weil wieder einmal eine Beziehung der Mutter mit Getöse zu Bruch gegangen ist. Sonias karger Lohn als Kiosk-Angestellte reicht kaum für das Lebensnotwendigste, zumal ihr aktueller Lebenspartner, der arbeitslose Ylies, nicht viel zum Wohl der prekarisierten Patchwork-Familie beitragen kann. In dieser rauen Umgebung bleibt der sensible Blondschopf Johnny in seiner Entwicklung weitgehend auf sich allein gestellt. In der Sozialsiedlung und der Schule wird er wegen seines mädchenhaften Aussehens verspottet, was seine Mutter auch mal zu handfestem Eingreifen veranlasst, doch der neue Lehrer erkennt Johnnys Interesse an Poesie und Kunst und beginnt den talentierten Jungen zu fördern. Dieser himmelt daraufhin den Lehrer immer mehr an. Als sich dessen Lebensgefährtin Nora, eine Museumskuratorin, gutgemeint in Johnnys Leben einmischt, nimmt eine fatale Verkettung von Grenzüberschreitungen und Missverständnissen ihren Lauf. Der zweite Spielfilm des Regisseurs und Drehbuchautors Samuel Theis ist eine verstörende Coming-of-Age- und Coming-Out-Geschichte, wie man sie in dieser Intensität noch selten gesehen hat, was wohl auch damit zu tun hat, dass Theis hier seine eigene Kindheit verarbeitet und mit dem charismatischen zwölfjährigen Aliocha Reinert ein grandioses kindliches Alter Ego gefunden hat. Theis hatte in seinem Erstling «Party Girl», der 2014 in Cannes mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet wurde, das Leben seiner Mutter, einer Nachtclubtänzerin, ins Zentrum gestellt. Über seinen neuen Film, der an den autofiktionalen Roman «Das Ende von Eddy» des französischen Autors Édouard Louis erinnert, sagt er: «Ich habe ständig versucht, mich an den Moment zu erinnern, in dem mir bewusst geworden war, dass ich weggehen wollte. ‹Petite nature› entstand mit dieser Frage: An welchem Punkt im Leben eines Kindes entsteht der Wunsch nach Emanzipation?»