Ouistreham

FR 2021, 107 Min., DCP, F/d, ab 12 Jahren
Regie: Emmanuel Carrère
Darst.: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Evelyne Porée, Patricia Prieur, Emily Madeleine, Didier Pupin, Steve Papagiannis, Louise Pociecka, Aude Ruyter u.a.

Für die Recherche zu ihrem neuen Buch geht die bekannte Schriftstellerin Marianne Winckler ungewöhnliche Wege: Um authentisch über prekäre Arbeitsverhältnisse in Frankreich schreiben zu können, lässt sie ihr privilegiertes Pariser Dasein hinter sich und taucht inkognito für einige Monate in Caen unter. Sie erfindet sich eine alternative Vergangenheit als nach zwanzig Ehejahren verlassene Hausfrau, die plötzlich vor dem Nichts steht, und heuert bald als Reinigungskraft in einer Putzkolonne an, die für die Fähre zwischen Ouistreham und Portsmouth zuständig ist. Im Akkord werden da Toiletten geputzt und Betten gemacht. Nur jeweils vier Minuten Zeit bleiben für die 230 Kabinen, ehe das Schiff pünktlich wieder ablegt. Neben Knochenarbeit, täglicher Entwürdigung und sozialer Unsichtbarkeit lernt Marianne dabei auch die tiefe Solidarität zwischen ihren Kolleginnen kennen, die angesichts der unbarmherzigen Arbeitsbedingungen wie eine Familie zusammenhalten und «die Neue» herzlich aufnehmen. Trotz eines latent schlechten Gewissens ob ihrer invasiven Vorgaukelei baut Marianne schon bald echte Bindungen zu ihnen auf, insbesondere zu Christèle, einer jungen, alleinerziehenden Mutter, die sie insgeheim zur Protagonistin ihres neuen Buches erkoren hat. Aus gegenseitiger Hilfe entsteht Freundschaft, aus Freundschaft Vertrauen. Doch irgendwann kommt der Moment, da Marianne ihre wahre Identität offenlegen muss … Basierend auf dem Bestseller «Le Quai de Ouistreham» (auf Deutsch unter dem wenig charmanten Titel «Putze – Mein Leben im Dreck» erschienen), für das die französische Enthüllungsjournalistin Florence Aubenas sechs Monate in die Rolle einer ungelernten Arbeitslosen schlüpfte, rückt Regisseur Emmanuel Carrère die Unsichtbaren am Rande der Gesellschaft in den Mittelpunkt – im doppelten Sinne. Neben der wunderbar bescheiden agierenden Juliette Binoche als Marianne erobern die Frauen von Ouistreham die Leinwand und die Herzen: allesamt überwältigende Laiendarstellerinnen, die eine mehr oder weniger fiktive Version ihrer selbst verkörpern. «Ein Wunder des sozialen Kinos in der Tradition eines Ken Loach», schreibt Caroline Vié in 20 Minutes.