Im Spiegel

CH 2019, 82 min, DCP, Dialekt/d, ab 12 Jahren
Regie: Matthias Affolter
Mitw.: Markus Elhady, Arold Huber, Urs Saurer, Lilian Senn, Anna Tschannen

Anna Tschannen betreibt seit zwölf Jahren einen mobilen Coiffeursalon, in welchem sie obdachlosen Menschen unentgeltlich oder für einen symbolischen Betrag die Haare schneidet. Die Basler Coiffeuse, Maskenbildnerin und Tanzperformerin wollte, dass das, was sie in all der Zeit beim Haareschneiden erlebt und gehört hatte, weitererzählt wird und trat mit diesem Wunsch an den befreundeten Journalisten und Dokumentarfilmer Matthias Affolter heran. Der 1976 in Basel geborene Regisseur, der seit über zehn Jahren als freischaffender Autor vor allem für das Fernsehen SRF tätig ist und 2014 mit seinem ersten langen Kinodokumentarfilm «Berge im Kopf» einen beachtlichen Erfolg feierte, war von Anna Tschannens Idee begeistert. Herausgekommen ist ein einfühlsames Porträt von vier obdachlosen Männern und Frauen, das den Skandal der Obdachlosigkeit im reichsten Land der Welt so eindringlich wie unaufgeregt zeigt. Für die starken Bilder zeichnet der Ostschweizer Kameramann und Regisseur Ramòn Giger («Karma Shadub») verantwortlich. Bei seiner Premiere an den letzten Solothurner Filmtagen erregte der Film grosse Aufmerksamkeit. Katja Zellweger schrieb im Filmbulletin: «Der Film und seine Macher tragen Sorge zu ihren Protagonisten und geben deren Bedürfnissen genügend Raum. ‹Den Spiegel hinhalten› – zugegebenermassen eine abgenutzte Metapher – ist in diesem Fall gar zweideutig: Indem die Protagonisten ihr eigenes Spiegelbild betrachten, richten sie und die Filmemacher das eigentliche Augenmerk auf eine hässliche Fratze unserer Sozialstaatsmoral, die Hilfe und Unterstützung predigt, aber Scham und Stigmatisierung verbreitet. Wie sonst lässt sich erklären, dass der schon alternde Urs mit schlaksigem, ausgezehrtem Körper nur das Prinzip ‹schaffe, schaffe, schaffe› kennt und bereit ist, nach Kamerun auszuwandern, um dort eine Arbeit als Erdnuss- und Bananenpflücker zu ergattern? Für ihn ist dies allemal besser, als auf Sozialhilfe oder die Spitex angewiesen zu sein. Auch bei den anderen Protagonisten drückt diese moralische Haltung durch: Obdachlosigkeit ist selbstverschuldet und darum ist Hilfe beanspruchen verpönt. Was von Kampfgeist zeugt, aber eben auch von einer neoliberalen Moral.»