Visages villages

FR 2017, 89 min, DCP, F/d
Regie: Agnès Varda
Mitw.: Agnès Varda, JR, Jean-Paul Beaujon, Amaury Bossy, Yves Boulen, Jeannine Carpentier, Marie Douvet, Claude Ferchal, Claude Flaert, Vincent Gils u.a.

Neun Jahre nach ihrem letzten Film, «Les plages d’Agnès», zieht Agnès Varda in einem Lieferwagen mit eingebautem Foto- und Drucklabor gemeinsam mit dem 1983 in Paris geborenen Fotografen und Street-Art-Künstler JR durch das ländliche Frankreich. Auf diese Kürzestformel lässt sich dieser bezaubernde Dokumentarfilm bringen, der 2017 in Cannes begeisterte und im vergangenen März für den Oscar nominiert war. Der Künstler JR (Juste Ridicule) – seinen wirklichen Namen hält er geheim – wurde durch Fotografien von Banlieue-Bewohnern bekannt, die er als grossflächige Poster in Paris und der spanischen Hafenstadt Cartagena anbrachte, in Gegenden, in denen alte Gebäude abgerissen wurden, um Bürohochhäusern Platz zu machen. Dieses Vorgehen wählt er auch in «Visages villages», wobei er und Agnès Varda ihre Modelle stets durch Zufallsbegegnungen finden, so etwa eine Ziegenbäuerin oder die letzte Bewohnerin einer Abbruchsiedlung, die sich weigert, ihr Heim zu verlassen. Dabei bleiben Agnès Varda und JR stets auf Augenhöhe mit den einfachen Menschen, die sie inszenieren. Die Ende Mai 90 Jahre alt gewordene Agnès Varda, die Vorreiterin der Nouvelle Vague, verknüpft in ihrem neuesten Film so leichthändig Avantgarde und Augenblick, Realität und Abstraktion, Vorführung und Wahrhaftigkeit, wie nur sie es vermag. Leichtherzigkeit und leise Melancholie gehen eine zauberhafte Liaison ein, ähnlich wie die der Regisseurin mit dem über 50 Jahre jüngeren Künstler. David Ehrlich meinte auf Indiewire: «Agnès Varda sieht vielleicht nicht mehr so gut wie früher, aber ihre kreative Vision war nie klarer als hier. Und wenn dieser bewegende, witzige, lebensbejahende Film ihr letzter sein wird, dann nur wegen ihrer schlechten Sehkraft oder wegen der unerklärlichen Schwierigkeiten mit der Finanzierung – und sicher nicht, weil ihr die Dinge ausgehen, die sie sagen könnte, oder die neuen Wege, sie zu sagen. Agnès Varda ist fast 90, und sollte dies ihr letzter Film sein, dann ist er eines der überwältigendsten filmischen Vermächtnisse der Kinogeschichte, vergleichbar mit Abbas Kiarostamis ‹Like Someone in Love› oder Hayao Miyazakis ‹The Wind Rises›. Aber so wie es von Kiarostami noch einen letzten, nicht-narrativen Film gibt und Miyazaki angeblich auch noch an einem anderen Film gearbeitet hat, wird sich auch bei Agnès Varda zeigen: Geht es um wirklich grosse Künstler, ist das Ende nie wirklich das Ende.»