Filme, die Geschichte schrieben

Lazar Wechsler und die Praesens-Film-Produktion

 

von Martin Girod

 

Im Rückblick erscheint manches ganz einfach und zwingend. Wir wissen ja, wie die alten Konflikte ausgegangen sind. So halten wir es aus heutiger Sicht für fast selbstverständlich, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs nicht nur weitgehend verschont, sondern auch relativ demokratisch und liberal geblieben ist. Und dass sich im ideologischen Kampf um die Köpfe der Menschen eine eigenständige Filmproduktion entwickelte. Beides hätte aber leicht anders kommen können.

 

Ab Mitte 1940, nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich, war die Schweiz von den faschistischen Achsenmächten eingeschlossen. Die Radioansprache von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz vom 25. Juni – «Die Ereignisse marschieren schnell. Man muss sich ihrem Rhythmus anpassen.» – klang mit ihrer Aufforderung zu einer «Erneuerung» stark nach einem Einschwenken auf den nun in weiten Teilen Europas herrschenden faschistischen Kurs. Dass nicht nur offen mit dem Naziregime Sympathisierende, sondern weite Kreise unter den Schweizer Wirtschaftsführern, Offizieren, Juristen und Intellektuellen eine Anpassung an die Wünsche der benachbarten Machthaber befürworteten, belegt nicht zuletzt die – anfänglich geheime – «Eingabe der Zweihundert» vom November 1940 an den Bundesrat. Eine Anpassung, die insbesondere zur Knebelung der freien Presse und faschismuskritischer Stimmen im Kulturbereich geführt hätte.

 

Es steht ausser Zweifel, dass zu denen, die da hätten mundtot gemacht werden sollen, der Zürcher Filmproduzent Lazar Wechsler (1896–1981) mit seiner Firma Praesens-Film AG gehörte. Er und seine Mitstreiter – in erster Linie der Regisseur Leopold Lindtberg, der Drehbuchautor Richard Schweizer und der Kameramann Emil Berna – schufen in dieser Situation 1941 den «Geistige-Landesverteidigungs-Film» par excellence, den «Landammann Stauffacher». Dieser Film (der heute streckenweise etwas plakativ erscheinen mag) und sein Erfolg haben einen historisch zu nennenden Beitrag dazu geleistet, dass die Schweiz nicht auf die von den «Zweihundert» gewünschte Linie einschwenkte.

 

Es mutet deshalb heute fast unglaublich an, wie sehr Wechsler von offiziellen Schweizer Stellen behindert wurde, sodass schliesslich nur das persönliche Eingreifen von General Guisan den Drehbeginn von «Stauffacher» ermöglichte. Selbst ein dezidierter Verfechter nationalen Widerstands wie Hauptmann Hans Hausamann bekämpfte – nicht zuletzt aus Antisemitismus – das Projekt des «galizischen Juden Lazarus Wechsler» (Wechsler war seit 1923 Schweizer Bürger!) und des «Kommunisten Lindtberg vom Schauspielhaus Zürich».

 

Wer war dieser so angefeindete Wechsler? Seine verwitwete Mutter war 1914 mit zwei Söhnen aus russisch-polnischem Gebiet nach Zürich gekommen. Lazar machte an der ETH ein Ingenieurstudium und gründete 1924 eine Firma für die Produktion von Industrie- und Werbefilmen. Entscheidend wurde die Begegnung mit dem St.Galler Flugpionier Walter Mittelholzer, der seine grossen Flugreisen jeweils mit der Kamera dokumentierte. Die daraus montierten Filme sollten die ersten Verleih-Erfolge der jungen Praesens-Film werden. Daneben baute Wechsler ein solides Werbefilmgeschäft auf, indem er sich in den meisten grossen Schweizer Kinos das exklusive Recht für Filmwerbung sicherte.

 

Der Siegeszug des Tonfilms liess ab 1930 die Herstellungskosten für Filme ansteigen, zugleich erschwerte die Sprachabhängigkeit den internationalen Vertrieb. Wechsler fand 1933 für seinen ersten Kinospielfilm jene Antwort darauf, die bis heute einen guten Teil der Schweizer Spielfilmproduktion prägt: Statt auf Auslandserlöse setzte er mit populären, ein breites Publikum ansprechenden Themen aus der Schweiz und Dialektdialogen auf eine möglichst starke Verwertung im Inland. Er produzierte mit «Wie d’Warret würkt» den ersten langen, schweizerdeutsch gesprochenen Spielfilm. Zwei Schauspieler, Heinrich Gretler und Emil Hegetschweiler, wurden damit zu Stars, von deren Popularität die Praesens-Produktionen viele Jahre zehren sollten.

 

Die Konzentration auf das auch akustisch unverwechselbar Schweizerische stand nicht zuletzt in gewolltem Kontrast zu den grossdeutschen Schalmeien, die seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erklangen. So war es nur folgerichtig, dass die Praesens im Sommer 1938 angesichts der zunehmenden Kriegsgefahr einen Dialektfilm über die Zeit der Grenzbesetzung 1914 bis 1918 drehte: «Füsilier Wipf». Einige Monate, bevor Bundesrat Philipp Etter in seiner Kulturbotschaft vom 9. Dezember 1938 die «Geistige Landesverteidigung» zum offiziellen Programm erhob, «fängt ‹Füsilier Wipf› präzis den Zeitgeist ein» und «stellt den Schweizer genau so dar, wie er sich 1939 gerne sehen will» (Hervé Dumont). Entsprechend gross war der Erfolg. Mit der ebenfalls im Ersten Weltkrieg spielenden «Gilberte de Courgenay» unter der Regie von Franz Schnyder doppelte Wechsler zwei Jahre später nach und machte Anne-Marie Blanc zum Star.

 

Von da an produzierte die Praesens-Film mit schöner Regelmässigkeit ein bis zwei lange Spielfilme pro Jahr, neben aktuellen Stoffen auch Verfilmungen nach Schweizer Autoren wie Gottfried Keller und C. F. Meyer. Zu letzteren gehörte, wenn auch noch nicht kanonisiert, Friedrich Glauser mit seinem Kriminalroman «Wachtmeister Studer», dessen Hauptfigur unter der Regie von Leopold Lindtberg durch Heinrich Gretler eine ideale Verkörperung erfuhr.

 

Gegen Kriegsende entwickelten Produzent Wechsler, Drehbuchautor Richard Schweizer und Regisseur Lindtberg dann zusammen jenen legendären humanitären Touch, der für einige der grössten, auch internationalen Erfolge der Praesens sorgen sollte: die Geschichte des temporär zur Erholung in der Schweiz beherbergten Ferienkindes «Marie-Louise», das Flüchtlingsdrama «Die letzte Chance» und den Nachkriegsfilm über Kriegswaisen «Die Gezeichneten» alias «The Search». Nicht mehr die politischen Strategien stehen da im Mittelpunkt, sondern die ganz konkreten, schmerzlichen Auswirkungen des Krieges auf die Menschen. Die Wechsler noch immer argwöhnisch beobachtende offizielle Schweiz musste widerstrebend zur Kenntnis nehmen, dass er mit seinen Filmen nicht nur das Publikum im Inland rührte, sondern zudem im Ausland zu der – nach dem Krieg dringend benötigten – Verbesserung des Schweizer Images beitrug. Auch Johanna Spyris berühmte Kindergeschichte «Heidi», für deren Verfilmung Wechsler den Italiener Luigi Comencini gewann, passte bestens in diesen Rahmen; der Film wurde zum internationalen Hit.

 

Es wäre aber falsch, die Geschichte der Praesens-Film und ihres Chefs Lazar Wechsler als reine Erfolgsstory zu sehen. Der Industrielle Walter Boveri, der von 1944 an während 15 Jahren als Verwaltungsratspräsident mit Wechsler klarkommen und oft sein ganzes politisches und ökonomisches Gewicht für die Firma in die Waagschale werfen musste, hat 1966 – in einer Festschrift zu Wechslers 70. Geburtstag! – sehr nuancierte Töne gefunden: «Sein künstlerisches Urteil war eher unsicher, Organisationstalent konnte man ihm bestimmt nicht zusprechen, und was seine Finanzgebarung anbelangte, erwies sie sich häufig als deplorabel. Aber ohne ihn kam trotz alledem nie ein Film zustande. Nur er konnte die Gruppe seiner Mitarbeiter zusammenhalten (…). Auf irgendeine unerklärliche Art vermochte er seine Umgebung anzutreiben und zu begeistern, selbst wenn es nur auf dem Weg des Widerspruchs gelang.»

 

Im Rückblick lässt sich vermuten, dass auch der äussere Druck der Jahre vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich zum Gelingen der Fusion unterschiedlichster, ja gegensätzlicher kreativer Menschen beigetragen hat. 1953 produzierte Wechsler mit «Unser Dorf» eine Geschichte um das Pestalozzi-Kinderdorf, doch der Versuch, das humanitäre, die Völkerverständigung propagierende Erfolgsrezept zu wiederholen, scheiterte. Der Kalte Krieg hatte Einzug gehalten, sogar in die wohlgemeinte Story und erst recht in die Köpfe des Publikums. Und die einst «trotz alledem» zusammenwirkende Equipe verkrachte sich heillos, auch wenn das dem neorealistisch inspirierten Film nur streckenweise anzumerken ist.

 

Wechsler klammerte sich weiterhin an seine bewährten Rezepte – die Zugkraft bekannter literarischer Autoren (Gotthelf, Dürrenmatt) und die Rührung mittels Kinderfiguren – und verzeichnete damit noch den einen oder anderen Erfolg. Auch hatte er die kleine Genugtuung, 1959 die ins Schlingern geratene Konkurrenzfirma Gloria-Film zu übernehmen und damit das gefällige Dialektmärchen «Hinter den sieben Gleisen», ein Projekt von Kurt Früh, der einst als Regieassistent bei der Praesens angefangen hatte. Doch die Zeit der Filmproduktion à la Wechsler war vorbei; es begann sich der Nachwuchs zu regen, der als «Neuer Schweizer Film» bekannt werden sollte und vom Produzentenkino Wechslerscher Prägung nichts wissen wollte – zumindest für einige rebellische Jugendjahre.

 

Gegen alle Widerstände ist es Wechsler, Schweizer, Lindtberg und Co. gelungen, eine kontinuierliche Produktion von erstaunlichem Niveau aufzubauen, die auch international Beachtung fand. Mit ihren Filmen haben sie das erste ernst zu nehmende Kapitel in der Geschichte des Schweizer Films geschrieben.

Martin Girod war Co-Leiter des Filmpodiums der Stadt Zürich. Seit seiner Pensionierung ist er als freier Filmjournalist und Programmkurator tätig.

 

Die Filmreihe begleitet die Ausstellung «Close-up – Eine Schweizer Filmgeschichte» zum 100-Jahr-Jubiläum von Praesens-Film im Landesmuseum Zürich, die noch bis 21. April zu sehen ist.

 

Die Zürcher Praesens-Film AG, die älteste  Filmproduktion der Schweiz, feiert heuer ihr 100-jähriges Bestehen. 1924 von Lazar Wechsler und dem St.Galler Luftfahrtpionier Walter Mittelholzer gegründet, ziert bis heute eine von zwei Flugzeugflügeln beschwingte Filmspule das Firmenlogo des Traditionsunternehmens, das einige der wichtigsten und beliebtesten Filme der Schweizer Geschichte hervorbrachte. Ihre Bedeutung ging weit über die Landesgrenzen hinaus. Auch international fanden Praesens-Produktionen Anerkennung, wovon vier Oscars zeugen. Wir gratulieren Praesens-Film zum Jubiläum und laden ein, einige ihrer schönsten Produktionen wiederzuentdecken.
Schliessen Mo 19.08. < >
16h30
The Biggest Little Farm
18h20
Compañeros (La noche de 12 años)
20h45 Premierenfilm
Le daim