Art Is Life – Joanna Hogg

von Esther Buss

 

Um was es in der Kunst und im Kino wirklich gehen sollte: Darüber wird in beiden Teilen von «The Souvenir», Joanna Hoggs filmischer Erinnerung an ihre Studienzeit Anfang der 1980er-Jahre, immer wieder gesprochen und teils auch kontrovers diskutiert. Soll man sein privilegiertes Umfeld verlassen und sich, wie die Fotografin und Filmstudentin Julie (Honor Swinton Byrne, Tilda Swintons Tochter) es anfangs vorhat, den prekären Lebensverhältnissen in einer nordenglischen Industriestadt zuwenden? Oder ist es nicht vielleicht zwingender, dem deprimierenden Nieselregen, der in gefühlt jedem britischen Film der Thatcher-Ära zu sehen ist, ein Musical entgegenzuschmettern, also ein Zuviel an Form, Farbe, Musik und Bewegung? Bringt einen der dokumentarische Realismus näher an die Wirklichkeit oder geht es vielmehr darum, innere Erfahrungen sichtbar zu machen – «life as it is experienced within this soft machine»?

 

In «The Souvenir: Part II» (2021) sitzt Julie, Hoggs Alter Ego, einmal ihren Filmdozenten gegenüber, um ihnen die Idee für ihren Abschlussfilm vorzustellen. Die vier Männer blättern ratlos in ihrem Drehbuch, welches, allein das irritiert, mit einer roten Schleife zusammengebunden ist. Das Skript sei unprofessionell, unklar und nicht präzise durchdacht, habe mit «Art Is Life» ja nicht einmal einen richtigen Titel. Frustriert fragen sie sich, wohin denn die Welt verschwunden sei, deren Abbildung die Studentin damals noch zu ihrer dringendsten Aufgabe erklärt hatte. Ebendiese Julie sagt jetzt: «I don’t want to show life as it plays out in real time. I want to show life as I imagined it. That’s what cinema is all about.»

 

Joanna Hoggs eigenwillige, aber nur schwer zu fassende Handschrift, für deren Beschreibung ein Filmkurator einmal das Adjektiv «hoggian» erfunden hat, findet sich inmitten dieser Stimmen wieder. Schliesslich leben Hoggs Filme von Wirklichkeitspartikeln ebenso wie von der Imagination, von der Kunst (Malerei, Fotografie, Filmgeschichte) wie von der «soft machine» des eigenen Ichs. Ihre Geschichten sind im Herkunftsmilieu der Filmemacherin – der britischen «upper middle class» – situiert, aber mit einem Bewusstsein für die damit verbundenen Klassenprivilegien erzählt.

 

Das prägendste Element in Hoggs überschaubarem Werk – es umfasst bisher fünf Langfilme – ist sicherlich die Bedeutung des Raums. Tatsächlich gibt es kaum eine Filmemacherin, die ein so umfassendes, tiefes und präzises Verständnis von Raum hat. Das können Landschaften sein wie die unberührte Natur auf einer entlegenen Insel im äussersten Südwesten Grossbritanniens Archipelago», 2010), das in Kensington im Westen Londons gelegene modernistische Haus eines Künstlerpaars Exhibition», 2013) oder das nach Hoggs Erinnerung «original» rekonstruierte Apartment in «The Souvenir». Das können das steife Interieur eines bourgeoisen Wohnzimmers und das schmale Bett unter einer Dachschräge sein, ein breites Fensterbrett, auf das man sich ausgestreckt hinlegen kann, oder der Arbeitsraum einer Performancekünstlerin. Hogg setzt in diese Räume Menschen bzw. Körper hinein und erforscht aus bestimmt, aber nie ausgestellt weiblicher Perspektive, wie diese mit ihrer Umgebung zusammenwirken. Wie sie sich darin bewegen oder im Gegenteil: wie sie darin erstarren, eingekapselt in sich selbst, abgetrennt von den anderen, der sozialen Gruppe, dem Lebenspartner, aber auch dem Selbst und seinen Bedürfnissen. Hoggs Filme vermessen immer auch Distanzen zwischen Menschen, die, um mit dem Titel ihres Debüts zu sprechen, «unrelated» sind, also beziehungslos und unverwandt. Und nicht zuletzt meint Raum auch einen metaphorischen «room of one’s own» – in einer Beziehung, einem Familiengefüge, im Feld der künstlerischen Produktion.

 

Dass dieser Raum zunächst einmal gefunden und errungen werden muss, zeigt nicht nur Hoggs aktueller Film, sondern auch ihr eigener Werdegang, der sie erst über Umwege zum Autorenkino führte. Im Anschluss an den Abschlussfilm «Caprice» (mit einer damals noch unbekannten «Matilda» Swinton in der Hauptrolle), auf den «The Souvenir: Part II» in einer raffinierten Umschreibung Bezug nimmt, folgte nicht etwa «Unrelated» (2007), sondern die langjährige Arbeit als Regisseurin von Musikvideos und Fernsehserien London’s Burning», «Casualty» sowie «London Bridge»). Erst nach fast zwanzig Jahren beschloss Hogg, inzwischen weit über vierzig, eigene Filme zu machen. Darin sollte alles möglich sein, was im Fernsehen verboten war. «Unrelated», mit wenig Geld und auf High-Definition-Video entstanden, ist die Geschichte einer nicht mehr jungen Frau, die sich nach Verbindung und Lebendigkeit sehnt. Hogg etabliert in diesem Film Arbeitsmethoden, die sie bis heute weitgehend beibehalten hat. So etwa die Beschränkung auf einen zentralen Schauplatz, improvisierte Dialoge und den Verzicht auf ein konventionelles Drehbuch. Auch Themen wie Isolation, unerfüllte Mutterschaft und weibliche Sexualität werden etabliert, regelrecht spezialisiert hat sich Hogg überdies auf unterdrückte Spannungen und Kommunikationsverfehlungen, die sie gleichermassen beklemmend, peinlich berührend und mitunter auch komisch in Szene zu setzen weiss. Auch das formale Vokabular der folgenden Arbeiten ist im Debüt bereits gesetzt: lange, unbewegte Einstellungen, weit geöffnete Bildkompositionen, die die Figuren bisweilen zu verschlingen drohen, und die ausgefeilte Arbeit mit Off-Dialogen und -Tönen. Ein heftiger Streit, der für die schockgefrorene Gesellschaft nur aus einem Fenster zu hören ist, lebt von der Spannung aus intimer Nähe und Distanz, Gefühlsexplosion und körperlicher Starre.

 

«Unrelated» ist ausserdem der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit mit Tom Hiddleston, den Hogg für das Kino entdeckte. Die Besetzung mit professionellen Schauspieler:innen wie Hiddleston und Tilda Swinton mischt Hogg in all ihren Filmen mit Laien: Künstler:innen wie die Punk-Musikerin Viv Albertine oder Liam Gillick, der in «Exhibition» eine Version seiner selbst spielt, aber auch die «echte» Köchin und der «echte» Landschaftsmaler in «Archipelago». Die Arbeit mit Laien führt nicht nur einen Naturalismus in die Filme ein, der sich zu ihrem konzeptuellen Rahmen in ein produktives Spannungsverhältnis setzt: Auch die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion finden sich so verwischt.

 

In «Archipelago», Hoggs einziger Arbeit mit einem männlichen Protagonisten (obgleich eher ein Abbild der Hogg’schen Frauenfiguren), gerät ein Familientreffen auf einer der vielen Isles of Scilly zum klaustrophobischen Kammerspiel. Gefühle wie Eifersucht und Anerkennungsdefizite manifestieren sich als schwelende und nur punktuell eskalierende Spannungs- und Unruheherde, dabei entzieht Hogg dem Film konsequent den Boden des psychologischen Realismus. Mit ihrer scharfsinnigen Beobachtung von Distinktionsformen der gehobenen Mittelklasse zeigt sich die Filmemacherin auch als kritische Beobachterin ihrer eigenen Klasse – eine Zuschreibung, der sie selbst indes mit Distanz gegenübersteht.

 

In «Exhibition» ist der Raum, ein vom britischen Architekten James Melvin erbautes Wohnhaus, eine eigenständige Figur innerhalb einer «Dreierbeziehung». Für das darin lebende Paar D und H hat es sich mit den Jahren zu einer insularen Behausung entwickelt, Schutzraum nach aussen und Seismograf seines Innenlebens. Wie ein Recorder zeichnet das Haus die Schwingungen und Dynamiken auf, die innerhalb der Beziehung herrschen und sich in die künstlerische Arbeit fortsetzen. Diese besonders für die Künstlerin D komplizierten Prozesse bringt Hogg im komplexen Zusammenspiel von Bewegung und Sound zum Ausdruck. Aussengeräusche wie Polizeisirenen, Verkehrs- und Baustellenlärm, das Auf- und Zuziehen der Schiebetüren, die polternden Schritte auf der Wendeltreppe und das Getröte der Sprechanlage, über die D und H kommunizieren, werden zu einer vielschichtigen, rhythmischen Choreografie orchestriert. Aber auch die visuelle Durchlässigkeit macht das Haus zu einem fragilen Organismus. Glasfassaden ermöglichen einen freien Blick nach draussen, werden bei Dunkelheit aber auch zu Spiegeln und stellen das Paar auf eine gut beleuchtete Bühne. Das Haus wird zur titelgebenden Ausstellung, es lädt zu Exhibitionismus ebenso ein wie zu Schaulust. Doch auch in «Exhibition» ist der Raum, um den am stärksten gerungen wird, die kreative Sphäre. Einmal mehr erweist sich die Kunst als rettende und heilende Kraft.

 

Am Ende von «The Souvenir: Part II» hat Julie ihre künstlerische Stimme gefunden und gleichzeitig ein Stück Trauerarbeit hinter sich gebracht. In ihrem Abschlussfilm findet sich mit teils fantastischen Mitteln der Verlust von Anthony verarbeitet, eine gefährliche Liebe, die den ersten Teil von «The Souvenir» bestimmt und selbst Anteile von Fiktion und Mystery hat. Hogg lässt das Medium Kino mit der Autofiktion in eins fallen, sie zeigt, dass Erinnerungsbilder immer filmisch gedacht werden, Filmbilder sind. Die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Imagination kondensiert sich in einer einfachen Gleichung: Art is life.

 

Esther Buss ist freischaffende Film- und Kunstkritikerin und als Lektorin und künstlerische Beraterin tätig. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

 

Sie gilt als eine der wichtigsten Vertreter:innen des britischen Kinos und eine der herausragenden «female voices» der letzten Dekade: Joanna Hogg. Seit ihrem Debüt sorgt sie auf Festivals regelmässig für Furore. Ihre Themen sind die komplexen Beziehungen zwischen Kunst und Leben, individuelle Lebensentwürfe, die Dynamik von Familienkonstellationen, künstlerische Kreativität und emotionale Bindungen an Orte. So auch in ihrem grossartigen Doppelwerk «The Souvenir» und «The Souvenir: Part II», einem kunstvoll komponierten Selbstporträt der Filmemacherin als junge Frau, mit Tilda Swinton und deren Tochter Honor Swinton Byrne in der Hauptrolle.