Viva il Cinema Italiano 2020!

Vom erprobten Krisenmodus zurück zur vitalen Cinephilie

 

von Daniel Winkler

 

Die Corona-Krise hat nur wenige Länder so herausgefordert wie Italien; nur Grossbritannien hat in Europa mehr Todesfälle zu beklagen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist Italien gut in den Spätsommer und Frühherbst 2020 gestartet, auch wenn die Zahlen aktuell wieder steigen. Krisen machen mitunter stark, und Italien hat nicht nur in Gesundheit, Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Kultur grosse Erfahrung im Umgang mit ihnen. Davon zeugen die Geschichte und Gegenwart des italienischen Kinos auf eindrückliche Weise, sei es in Form von Krisen der Filmindustrie oder Italiens, mancher Regionen und Städte, die in vielen Filmen Niederschlag finden. Man denke an die Dauerpräsenz von zum Teil genrekonstitutiven Themen, die um Migration und Armut, Korruption und Kriminalität kreisen, oder aber an die Vielzahl von Melodramen und Biopics, die von individuellen oder familiären Lebenskrisen erzählen.

 

Auch die Filme des diesjährigen Programms von «Cinema Italiano» kann man aus dem Blickwinkel der Krisenerzählung betrachten: Elio Germano, der im Februar 2020 den Silbernen Bären der Berlinale für die Darstellung des Antonio Ligabue im Biopic «Volevo nascondermi» von Giorgio Diritti (2020) erhielt, verkörpert eine solche Figur in der Krise. Das Leben Ligabues, 1899 geboren und 1965 gestorben, ist durch diverse Pflegefamilien und Psychiatrieaufenthalte geprägt; heute gilt er als wichtiger italienisch-schweizerischer Art-brut-Künstler. Auch «La scomparsa di mia madre» (2019), mit dem Beniamino Barrese das Leben seiner sich ihm immer wieder entziehenden Mutter Benedetta Barzini – ehemals Model, heute Modedesign-Dozentin und Feministin – ergründet, kann als Krisenerzählung verstanden werden. Drei andere aktuelle italienische Produktionen, die auf dem Programm stehen und von jungen Filmemachern stammen, machen die Krise stärker auf gesellschaftlicher Ebene deutlich, indem sie u.a. unterschiedliche Milieus aufeinandertreffen lassen: Phaim Bhuiyans römische Culture Clash Comedy «Bangla» von 2019 tut dies, indem sie das Leben im multiethnischen römischen Viertel Torpignattara und die erste Liebe des bengalischen Protagonisten Phaim, vom Regisseur selbst verkörpert, zu der charakterlich ganz anders veranlagten Römerin Asia in den Blick nimmt. Eine weitere Komödie, Fulvio Risuleos «Il colpo del cane» (2019), stellt hingegen die zwei Hundehüterinnen Marti und Rana ins Zentrum, denen alsbald die kleine, aber (wie ihre Besitzerin) äusserst edle französische Bulldogge gestohlen wird, sodass der Film als rasante Jagd durch Rom nicht zuletzt Milieudifferenzen deutlich macht. Das italienisch-schweizerische Spielfilmdebüt «Palazzo di giustizia» (2020) der Mailänder Dokumentarfilmerin Chiara Bellosi stand wie «Volevo nascondermi» auf dem Programm der Berlinale und war in der Reihe «Generation 14plus» zu sehen, die laut Veranstalter dem «internationalen Kino am Puls der Zeit» gewidmet ist. Der Film nimmt sich des Themas der Krise unter ganz anderen Vorzeichen an – anhand eines Prozesses um einen Raubüberfall an einer Tankstelle, bei dem ein Mensch ums Leben gekommen ist – und entfaltet so im und vor allem vor dem Gerichtssaal Momente der Krise.

 

Diese Beispiele machen deutlich, dass Krisenerzählungen aktuell besonders gefragt sind, berühren sie doch unseren Lebensalltag, der mehr oder weniger durch Normalitätsbrüche gekennzeichnet ist. Das gilt auch für die Welt des Kinos, denn Corona hat die gesamte urbane Vergnügungs- und Unterhaltungskultur in einen Ausnahmezustand versetzt. Die Kinos waren vielerorts über mehrere Monate hinweg geschlossen, Dreharbeiten mussten unterbrochen werden, und auch andere Produktions- und Distributionsabläufe waren stillgelegt. Auch heute kann vieles nur unter Auflagen und unter Zuhilfenahme digitaler oder hybrider Formate wieder vitalisiert werden. Von einer sonst mitunter scheel beäugten und nun heiss ersehnten Normalität sind nicht zuletzt die Herzkammern des Qualitätskinos, kleine Programmkinos und Retrospektiven, weit entfernt; Verzögerungen und Unsicherheiten prägen Existenz, Programmierung und Publikumsbesuch.

 

Die 77. Internationalen Filmfestspiele von Venedig führten dieses Oszillieren zwischen Normalitätsbruch und dem Ersehnen eines Unterhaltungsalltags plastisch vor Augen. Sie fanden diesen September reduziert und unter Auflage von Schutzmassnahmen statt. Als erstes grosses Filmfestival, das seit dem Ausbruch von Corona wieder vor Publikum abgehalten wurde, stand es paradigmatisch für einen Neubeginn der Filmkunst. Mit «Lacci» von Daniele Luchetti, einem mit Alba Rohrwacher und Luigi Lo Cascio prominent besetzten Drama, das beispielhaft für das krisengebeutelte Italien steht, wurde das Festival eröffnet. Die Adaption des gleichnamigen Generationenromans von Domenico Starnone aus dem Jahr 2014 schildert den Alltag und die Krisen einer Kleinfamilie zwischen Neapel und Rom, von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart.

 

Mediale Aufmerksamkeit erregte das Festival auch aufgrund seiner Programmierung, insbesondere der des Hauptprogramms «Venezia 77». Von den 18 Filmen im Wettbewerb um den Goldenen Löwen stammten nicht weniger als acht von Regisseurinnen, darunter Julia von Heinz, Jasmila Žbanić und Chloé Zhao, an deren US-Produktion «Nomadland» schliesslich die begehrte Trophäe ging. Neben Produktionen aus der ganzen Welt war auch Italien mit vier Filmen im Hauptprogramm prominent vertreten: mit «Miss Marx» von Susanna Nicchiarelli, einem italienisch-belgischen Biopic über Karl Marx’ jüngste Tochter Eleanor; mit «Notturno», dem neuen narrativen Dokumentarfilm von Gianfranco Rosi, einer italienisch-französisch-deutschen Koproduktion über Elend und Überlebensmut im Alltag der Menschen in syrischen Grenzzonen; mit «Le sorelle Macaluso», Emma Dantes Filmadaptation ihres erfolgreichen gleichnamigen sizilianischen Theaterstücks um sieben Schwestern, die anlässlich einer Beerdigung ihre Kindheitstraumata erneut durchleben; schliesslich mit «Padrenostro» von Claudio Noce, der mit der Coppa Volpi für den Besten Darsteller ausgezeichnet wurde. Vor dem Hintergrund des terroristischen Anschlags auf seinen eigenen Vater im Jahr 1976 erzählt der Regisseur exemplarisch von der Heroisierung einer Vaterfigur.

 

Trotz der Tatsache, dass Filmproduktion und -vertrieb im Jahr 2020 unter erschwerten Bedingungen arbeiten, zeigte eine ganze Reihe von Filmen in anderen Programmschienen die vitale Kreativität des Filmlands Italien: Ausser Konkurrenz liefen neben dem Eröffnungsfilm die Spielfilme «Assandira» des Sarden Salvatore Mereu und «Lasciami andare» des toskanischen Regisseurs Stefano Mordini. Daneben machte ein breites Spektrum an Dokumentarfilmen die Vitalität dieses Sektors in Italien quer durch die Regionen deutlich. Hier waren unter anderem Filme zu sehen, die grosse Namen der italienischen Nachkriegskultur Revue passieren lassen wie «La verità su ‹La dolce vita›» von Giuseppe Pedersoli über Federico Fellinis längst mythischen Rom-Film oder «Paolo Conte, Via con me» von Giorgio Verdelli über die Karriere des Ausnahmemusikers. Ganz anders gelagert ist die Dokumentation «Molecole» des Filmemachers und Aktivisten Andrea Segre, der seit Langem in Rom lebt, aber im Zuge des Lockdowns bei seinem Vater in Venedig festsass. Eigentlich wollte er sich mit zwei Projekten den venezianischen Dauerthemen Tourismus und Hochwasser widmen, doch der Zeitenlauf wollte es anders, sodass «Molecole» entstand – rund um das Leben und die Leute der fast leeren Stadt, das Wasser und die sich erholende Natur der Lagune.

 

Ein wahres Feuerwerk für italophile Cineastinnen und Cineasten entfaltete sich nicht zuletzt in den Sonderveranstaltungen oder den «Notti veneziane», wo ganz verschiedene Formate zu entdecken waren: u.a. Alessandro Rossellinis Filmclan-Dokumentation «The Rossellinis» und Elisabetta Sgarbis Punkband-Porträt «Extraliscio – Punk da balera» oder aber zwei sehr unterschiedlich gelagerte Roadmovies, Giorgia Farinas «Guida romantica a posti perduti» über die reisefreudige romantische Bloggerin Allegra sowie Flavia Mastrellas und Antonio Rezzas «Samp» über den gleichnamigen Berufskiller. Nicht zu vergessen die Kurzfilme: Edoardo Natolis «Solitaire», ein Stop-Motion-Animationsfilm über einen einsamen 85-jährigen Mann in seiner Dachwohnung im Pariser Künstlerviertel Montmartre, oder «En ce moment», in dem uns die Fotografin Serena Vittorini zurück in den Corona-Alltag führt, indem sie dokumentiert, wie sie mit ihrer neuen Liebe Ophélie den Lockdown in ihrer Brüsseler Wohnung zu überstehen versucht.

 

Angesichts dieser Fülle an spannenden Werken darf man gespannt sein, welche italienischen Filme in den nächsten Monaten ins Kino kommen oder Eingang in die nächste Ausgabe von «Cinema Italiano» finden. Aber erst einmal gilt: Ein Hoch auf die vitale Kreativität des italienischen Kinos in Zeiten der Krise! Viva il Cinema Italiano 2020!

 

Daniel Winkler arbeitet am Institut für Romanistik der Universität Wien und ist Autor von «Marseille! Eine Metropole im filmischen Blick» (Schüren, 2013) sowie Mitherausgeber zweier Bände zum italienischen Kino: «Nuovo Cinema Italia» (Böhlau, 2010) und «The Cinemas of Italian Migration» (CSP, 2013). Er ist zudem Mitherausgeber von «Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart» (Stauffenburg Verlag), die sich der Vermittlung von italienischer Kultur annimmt. Aktuelle Themenhefte widmen sich dem «Gegenwartstheater», «Matera und der Basilikata», «Italien und Österreich» und «Corona und anderen Krisen» (zibaldone.univie.ac.at).

 

Mit unserer Reihe «Cinema Italiano» laden wir im November zum Blick über die Landesgrenze und rücken das Filmschaffen unseres südlichen Nachbarn in den Fokus.  Die diesjährige Auswahl mit Werken überwiegend junger Regisseure zeugt von der anhaltenden Vitalität und Diversität im aktuellen italienischen Autorenkino. Die «commedia all’italiana» wird mit frischen Akzenten revitalisiert, das Gerichtsdrama wird zur beobachtenden Sozialstudie, der Mafiafilm zum Kammerspiel. Zudem erwartet Sie die Vorpremiere des lang ersehnten Films «Volevo nascondermi» über den Künstler Antonio Ligabue.