Viele Wellen – ein Meer

 

von Fabian Tietke

 

Ende der 1990er-, Anfang der 2000er-Jahre erregte das italienische Kino Aufmerksamkeit, nachdem es in den Jahren davor etwas aus dem Blickfeld geraten war. Matteo Garrone, Paolo Sorrentino, Marco Tullio Giordana und Paolo Virzì sorgten auf internationalen Festivals für Erfolge, während Regisseure wie Sergio Rubini, Alessandro Piva und Edoardo Winspeare dem Kino Süditaliens neues Leben einhauchten. Das Aufleben in Folge der Reorganisation der Filmförderung in den 1990er-Jahren äusserte sich jedoch zunächst nur als kurzes Aufzucken.

 

Heute, fast zwanzig Jahre später, stellt man fasziniert fest, dass die Strahlkraft des italienischen Kinos seit bald einer Dekade ungebrochen bleibt, ohne dass sich eine sogenannte Neue Welle herauskristallisiert hätte, wie dies in den letzten Jahrzehnten beispielsweise beim dänischen, griechischen oder rumänischen Filmschaffen der Fall war. Im italienischen Kino steht eine Vielzahl von Positionen nebeneinander, die jede für sich Ansehnliches hervorbringt. Die zahlreichen Stimmen etablierter Filmemacher wie Garrone oder Sorrentino über Alice Rohrwacher, Gianfranco Rosi oder Jonas Carpignano und immer neue Shooting Stars erzeugen eine Vielfalt, die dem italienischen Filmschaffen in den 1990er-Jahren fehlte, zumindest in jenem Kino, das professionell produziert und international rezipiert wurde.

 

Einige der interessantesten Entwicklungen weisen die Komödien der letzten Jahre auf – einerseits, weil sich diese notwendigerweise ins Verhältnis zur überbordenden italienischen Tradition des Genres setzen, andererseits weil Komödien, die allzu spezifische lokale Themen aufgreifen, sich notorisch schlecht vermarkten lassen. Lange waren deshalb Paolo Virzìs bürgerliche Arthouse-Komödien das Mass der Dinge. Doch diese Zeiten sind vorbei. Aktuell ist die italienische Komödie so vielseitig wie lange nicht mehr. Das gilt insbesondere auch für etwas schrillere Formen wie etwa Gennaro Nunziantes Komödien «Quo vado?» und «Il vegetale», die um die Dauerkrise des italienischen Arbeitsmarktes kreisen. Die Brüder Manetti haben mit «Song ’e Napule» und «Ammore e malavita» die Mafiakomödie neu belebt, mit anderen Genres wie dem Musical gekreuzt und eine Erfolgsmischung gefunden. Die anhaltende Präsenz des italienischen Südens im Mainstreamfilm ist ein Novum im italienischen Kino.

 

So weichgespült bisweilen die Form sein mag: Gesellschaftliche Themen sind in den Komödien Italiens wieder virulent. So hat Alessandro Genovesi mit «10 giorni senza mamma» den bislang erfolgreichsten italienischen Film des Jahres gedreht. Die extrem berechenbare Handlung: ein Paar mit drei Kindern, die Frau fährt in Urlaub, der Mann muss plötzlich den Haushalt schmeissen, die Katastrophe droht, die Versöhnung der Familie folgt. Der Erfolg des Films wird uns voraussichtlich nächstes Jahr den Nachfolgefilm «10 giorni con Babbo Natale» einbringen. Im Hinblick auf die propagierten Geschlechterbilder war die italienische Komödie zwar schon in den 1950er-Jahren weiter, aber immerhin nimmt Genovesi diese überhaupt einmal wieder in den Blick.

 

Auch Riccardo Milani hat eine Erfolgssträhne. Nachdem er jahrelang vorrangig für das italienische Fernsehen gearbeitet hat, realisiert er seit etwa sechs Jahren kontinuierlich erfolgreiche Kinokomödien. «Come un gatto in tangenziale» (Wie eine Katze auf der Autobahn) von 2017 nimmt die Klassengegensätze innerhalb der italienischen Gesellschaft und die vermeintliche Liberalität der urbanen Elite aufs Korn. Als Giovannis Tochter Agnese mit einem schwarzen Freund aus den römischen Vorstädten vor ihm steht, verliert der gut bezahlte Angestellte einer Denkfabrik die Fassung und alle seine Grundsätze werden Makulatur. In seinem aktuellen Film «Ma cosa ci dice il cervello» zeigt Milani das Doppelleben einer alleinerziehenden Mutter zwischen ihrer langweiligen Fassade als Angestellte des Finanzministeriums und ihrem wirklichen Job beim Geheimdienst. Es liegt nahe, den Film unter anderem als Parabel auf alleinerziehende Mütter als Heldinnen des Alltags zu lesen. «Ma cosa ci dice il cervello» beweist einmal mehr, dass Milani einer der hellsichtigeren populären Regisseure des italienischen Kinos ist, was die Wahl der Themen angeht.

 

Seit einiger Zeit greifen Komödienregisseure vermehrt auf etablierte Komikerinnen und Komiker zurück, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Gennaro Nunziante beispielsweise arbeitete in seinen Erfolgskomödien «Quo vado?», «Sole a catinelle», «Che bella giornata» und «Cado dalle nubi» wiederholt mit dem apulischen Komiker und Schauspieler Checco Zalone zusammen. Riccardo Milani hat in Paola Cortellesi eine wandlungsfähige Protagonistin gefunden, die über ein gutes komödiantisches Timing verfügt und sowohl in seinem vorherigen Film «Come un gatto in tangenziale» als auch in «Ma cosa ci dice il cervello» in der Hauptrolle zu sehen ist. Cortellesi spielt die über den alltäglichen Wahnsinn auf Italiens Strassen entsetzte Beamtin ebenso überzeugend wie die souveräne Geheimdienstfrau. Eines jedoch fällt in Milanis Komödien auf: Die Filme sind zwar bis in die Nebenrollen exzellent besetzt, den Nebenfiguren wird jedoch nicht immer das nötige Leben eingehaucht und das Potential ihrer Darsteller nicht voll ausgeschöpft.

 

Dabei sind gerade die hervorragenden Darstellerinnen und Darsteller einer der Hauptgründe für den Erfolg italienischer Filme. Das zeigt sich in den Filmen jüngerer Regisseure. Ein Beispiel dafür ist Dario Albertinis Spielfilmdebüt «Manuel» über einen jungen Mann, der sich den Weg aus einem Kinderheim bahnt und für seine inhaftierte Mutter bürgen muss. Auch in Bonifacio Angius’ «Ovunque proteggimi» sind die beiden Hauptrollen mit Alessandro Gazale und der sardischen Schauspielerin Francesca Niedda hervorragend besetzt. Gazale und Niedda spielen Alessandro und Francesca, zwei Aussenseiter, die um ihren Platz in der Gesellschaft ringen. Alessandro erzählt zu Beginn des Films, dass sein Vater ihm als Kind das Gitarrespielen und Singen beibrachte. Als er in eine Krise stürzt, bleibt Singen ein wichtiger Teil seiner Identität, auch wenn er nicht mehr als Sänger auftreten kann.

 

Mit dem Verweis auf die Musik greift Angius’ Film eines der Elemente auf, die sich immer wieder im Kino des italienischen Südens finden. Die Regionalisierung der italienischen Filmförderung seit den 1990er-Jahren hat zu einer stärkeren Sichtbarkeit des Südens geführt. Diese bedient sich häufig populärer Traditionen als Schauwert wie etwa der pizzica, einem apulischen Volkstanz, oder der neapolitanischen Liedtradition. Doch während dieses Aufgreifen lokaler Traditionen bisweilen in den Kitsch kippt, integriert Angius diese Elemente beiläufig in seinen Film – ähnlich wie andere Regisseure des süditalienischen Kinos der Jahrtausendwende wie beispielsweise Sergio Rubini oder Alessandro Piva.

 

Nach wie vor ist Rai Cinema, die Filmproduktion des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Italiens wichtigste Produktionsfirma neben der Mediaset-Tochter Medusa. Beide sind Universalisten und setzen auf eine grosse Spannbreite der Produktionen: So realisierte Rai Cinema in letzter Zeit Matteo Roveres düsteres, episches Drama «Il primo re» über die mythischen Rom-Gründer Romulus und Remus, Marco Bellocchios Mafiafilm «Il traditore» über Tommaso Buscetta, den legendären Kronzeugen Giovanni Falcones, die Jack-London-Verfilmung «Martin Eden» von Pietro Marcello, die unlängst auf den Filmfestivals von Venedig und Toronto reüssierte, sowie Roberto Andòs «Una storia senza nome». Ausgehend von einer wahren Begebenheit aus den 1960er-Jahren verwebt Andò in seinem Film mehrere Ebenen von Realität und Fiktion. Andòs Film beweist, wie stark die Kontinuitäten in der Produktionslandschaft des italienischen Kinos sind: «Una storia senza nome» wurde von Angelo Barbagallo, dem langjährigen Produzenten von Nanni Moretti und Mitbegründer von dessen Produktionsfirma Sacher Film, produziert.

 

Blickt man auf die grossen Ländererfolge in der Festivalwelt der letzten Jahre, wie etwa Südkorea oder Rumänien, bekommt man den Eindruck, die fehlende Neue Welle und die differierenden Positionen im italienischen Kino müssten eine breite Vermarktung im Ausland schwierig machen. Doch gerade wegen dieser Bandbreite an Themen und Formen sind italienische Filme auf unzähligen Festivals dauerpräsent. Mittelfristig könnte es sich sogar als Vorzug erweisen, dass es keine zusammenhängende Neue Welle gibt. Während Wellen im Festivalbetrieb früher oder später verebben, taucht aus einem Meer von guten Filmen oft die eine oder andere Perle auf. Aktuell macht jedenfalls jede Auswahl von neuen Werken aus Italien grosse Lust darauf, diese Kinolandschaft weiter zu erkunden.

 

Fabian Tietke ist freier Filmkritiker, Programmgestalter und Vorstandsmitglied von CineGraph Babelsberg e.V.; er schreibt für Print- und Onlinemedien wie Perlentaucher, taz, Cargo und Filmdienst. Sein Interesse gilt Film und sozialen Bewegungen, der italienischen, nordafrikanischen und chinesischen Filmproduktion und -geschichte sowie dem globalen Animationsfilm. Zudem kuratiert er Filmreihen, u.a. mit der Gruppe «The Canine Condition», zuletzt «Sehnsucht nach dem Regen – Neues chinesisches Kino 2009–2015» und «Splendid Isolation – Hong Kong Cinema 1949–1997».

 

Seit Jahren gehört der November dem italienischen Kino. Die diesjährige Auswahl beweist erneut, dass es neben bekannten italienischen Regisseurinnen und Regisseuren eine beachtliche Zahl junger, vielversprechender Talente gibt. Der Blick auf das Italien der Gegenwart ist kritisch; einer Gesellschaft, die von Egoismus, Respektlosigkeit und Mauscheleien geprägt ist, wird der Spiegel vorgehalten. Erzählt wird ohne Larmoyanz oder Bitterkeit, sondern mit den Mitteln der Komödie: witzig, ironisch, überraschend, aber auch mit Empathie für die sozial Schwächeren. Wir wünschen viel Vergnügen bei der filmischen Erkundung unseres Nachbarn.