«We’ll always have Paris»

 

von Marina Schütz

 

Keine Metropole der Welt ist so untrennbar mit dem Film verbunden wie Paris. Nachdem Louis Daguerre 1839 sein fotografisches Verfahren patentieren liess, gerieten 56 Jahre später die Bilder durch den Kinematografen der Brüder Louis und Auguste Lumière in Bewegung: Das Kino war geboren. Die erste öffentliche Filmvorführung mit zahlendem Publikum fand am 28. Dezember 1895 im Kellergeschoss des Grand Café am Boulevard des Capucines statt. In der Filmgeschichte gelten die Brüder Lumière als Urväter des Dokumentarfilms, während ihr Zeitgenosse, der Zauberkünstler Georges Méliès, dem Martin Scorsese in «Hugo» (2011) eine wunderbare Hommage ausrichtete, als Erster das Potenzial des Kinos erkannte, durch filmische Abstraktionstechnik fantastische Welten zu kreieren und das Publikum zu verzaubern. Um die Jahrhundertwende stiegen geschäftstüchtige Unternehmer wie Léon Gaumont und Charles Pathé in den Filmmarkt ein, und das Kino wurde zur Unterhaltungsindustrie. Vor dem Ersten Weltkrieg war Frankreich die weltweit führende Filmnation, danach wurde es von Hollywood abgelöst.

 

Inhaltlich und ästhetisch erneuert wurde das Kino in den 1960er-Jahren wiederum in Paris: durch das Autorenkino der Nouvelle Vague, vertreten durch eine neue Generation von Filmemachern mit der Kerngruppe um François Truffaut, Éric Rohmer, Claude Chabrol, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard. Alle fünf hatten vorher als Filmkritiker für die Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma gearbeitet und waren leidenschaftliche Kinogänger; als Autodidakten hatten sie sich ihre Filmbildung in den Kinosälen der Cinémathèque française angeeignet. Sie drehten auf der Strasse oder in Cafés, mitten unter Passanten, «um das Leben dort zu filmen, wo es stattfindet» (Jean-Luc Godard), mit einem kleinen Team und für ein Drittel des sonst üblichen Budgets. Paris wurde als lebendige Metropole neu entdeckt, in den Quartieren, die man kannte, weg von den Postkartenansichten Hollywoods und den stickigen Ateliers der französischen Studios. Technische Neuerungen wie handlichere Kameras, lichtempfindlichere Filme und leichte Tonaufnahmegeräte ermöglichten das Filmen vor Ort.

 

Jean-Luc Godards «À bout de souffle» (1960) wurde durch seine moderne Ästhetik und die neue Montagetechnik zum Kultfilm einer ganzen Epoche. Das Bild von Jean Seberg mit der Herald Tribune unter dem Arm und dem schlaksigen Jean-Paul Belmondo, mit schiefem Hut und Zigarette im Mund, auf den Champs-Élysées flanierend, hat Kinogeschichte geschrieben und ist seither untrennbar mit Paris verbunden. Zum erweiterten Kreis der Nouvelle Vague gehört auch die im März dieses Jahres verstorbene Agnès Varda. Ihr gelang mit «Cléo de 5 à 7» eine subjektiv-sensible und zugleich nüchtern-dokumentarische Studie zweier Stunden im Leben einer Chansonsängerin, die bis zu ihrem Arzttermin rastlos durch das Montparnasse-Viertel streift. Louis Malle wollte zu keiner Gruppe gehören, doch arbeitete er in «Zazie dans le métro» ähnlich, indem er die traditionellen Erzählstrukturen durch Zeitraffer- und Trickaufnahmen, burleske Slapstick-Einlagen und absurde Wiederholungen auflöste – und das alles in knallbunten Farben.

 

Durch die Generation der Nouvelle Vague, die ihr Leben weitgehend in den Kinosälen verbrachte und Debatten von existentieller Bedeutung über Regisseure und Filme führte, wurde das cineastische Paris zum ersten Mal öffentlich wahrgenommen und dem Kino als differenziert-anspruchsvoller Kunst mit einer aktiven und kritischen Rezeptionshaltung begegnet. Schon die ersten Cineasten, die sich in der Pariser Künstlerszene der Zwanziger- und Dreissigerjahre bewegten, hatten von einem Begegnungsort für den Film geträumt, wie es die Salons für die Literaten und die Ateliers für die Künstler waren. Der Legende nach gründete der Regisseur und Filmkritiker Louis Delluc 1920 den ersten Ciné-Club nach der Überlegung: «Es gibt einen Touring-Club – warum nicht auch einen Ciné-Club?», worauf er an einem bestimmten Wochentag einen Kinosaal mietete und ausgewählte Filme vorführte.

 

Paris mit seinen Sehenswürdigkeiten, den romantischen Quartieren und dem berühmten Savoir-vivre bedient das Hollywood-Kino mit allen möglichen Klischees, das meist strapazierte ist wohl jenes von Paris als «Stadt der Liebe». Ernst Lubitsch, der mehrere Filme in Paris drehte, formulierte es so: «Es gibt das Paramount-Paris, das MGM-Paris und Paris in Frankreich. Das Paramount-Paris ist das pariserischste der drei.» Es war aber die Warner-Produktion «Casablanca» (1942), die diesen Mythos für alle Zeit zementierte mit dem berühmten Satz, den Rick (Humphrey Bogart) zu Ilsa (Ingrid Bergman) sagt, als die Stunde der endgültigen Trennung naht: «We’ll always have Paris» (Uns bleibt immer Paris). Damit werden das absolute (Liebes)Glück und die Sehnsucht irdisch verortet – in Paris.

 

Zwischen den beiden Weltkriegen brach die erste US-amerikanische Welle über Paris herein und beeinflusste vor allem die Literaturszene der Stadt, zu deren Zentrum sich bald die erste englischsprachige Leihbücherei und Buchhandlung Shakespeare and Company entwickelte, 1919 von Sylvia Beach gegründet. Richard Linklater erweist ihr in «Before Sunset» Reverenz und lässt Julie Delpy und Ethan Hawke in der 1951 wiedereröffneten Buchhandlung zum zweiten Mal aufeinandertreffen. Woody Allens «Midnight in Paris» ist eine einzige Hommage an das Paris der Zwanzigerjahre, als Ernest Hemingway dort – und mit ihm viele andere Künstler und Schriftstellerinnen– «ein Fest fürs Leben feierte».

 

Die zweite Welle aus den USA erreichte Paris unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Cafés am Boulevard Saint-Germain trafen sich die kreativsten Köpfe und wagten, radikal anders zu denken und zu leben – mit Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Der Existentialismus war die Philosophie und das Lebensgefühl der Stunde, der Jazz die Musik dazu. 1947 eröffnete Juliette Gréco in einem verrauchten Kellerlokal einen der ersten legendären Jazzclubs von Paris: «Le Tabou», auch «Höhle der Existentialisten» genannt. Martin Ritt wirft in «Paris Blues» (1961) einen Blick auf diese lebendige Szene; zugleich thematisiert er die damalige Situation afroamerikanischer Musiker und Schriftsteller, die in Paris nicht rassistischer Diskriminierung ausgesetzt waren wie in den USA.

 

2003 erschien in der arte-edition die Publikation Paris im Film. Filmografie einer Stadt von Rüdiger Dirk und Claudius Sowa, mit einem grossen Filmregister und Hinweisen auf die Drehorte. Im einleitenden Text kommen sie zum Schluss, dass es nicht so sehr die Stadtkulisse mit ihren Sehenswürdigkeiten ist, die den Erfolg eines Films garantiert, sondern die Menschen, die eine Stadt bevölkern: «Wer sehen möchte, was die Nachbarschaft macht, geht ins Kino. Der Erfahrung, dass das normale Leben einfach oder, im Gegenteil, hoch komplex ist, will man nicht aus dem Weg gehen. Das Glück des Spaziergängers deckt sich auf wunderbare Weise mit dem des Kinogängers. Die Pariser Strassen scheinen noch immer voller Zeichen und Mysterien zu sein. Jede noch so banal aussehende Hausfassade scheint aufklappbar, lebendig und schön. (…) Das Kino beseelt Plätze, Häuser und Strassen.»

 

So ist Cédric Klapischs «Chacun cherche son chat» eine gelungene Studie über das nachbarliche Leben im 11. Arrondissement und eine Liebeserklärung an Paris und seine Bewohner. Zugleich erfährt man, dass das atmosphärische Quartier mit seinen lauschigen Hinterhöfen, Cafés und Bars von Zerstörung bedroht ist. Dagegen zeigt der weltweit erfolgreichste Paris-Film «Le fabouleux destin d’Amélie Poulain» das Montmartre-Quartier, eines der am meisten von Touristen überschwemmten Viertel, überhöht und als verspielte Design-Märchenwelt samt verzauberter Prinzessin. Ganz unterschiedliche Geschichten aus achtzehn Arrondissements erzählen die achtzehn Kurzfilme internationaler Regisseurinnen und Regisseure im Episodenfilm «Paris, je t’aime», die sich alle auf ihre Art vom besonderen Charakter der verschiedenen Stadtteile inspirieren lassen.

 

Eine Paris-Filmreihe ist ambitioniert und kann nie repräsentativ sein, zu gross ist die Anzahl der Filme. Mit Ausnahme von «The Hunchback of Notre Dame», der als Hommage an die Kathedrale Notre-Dame gedacht ist, die am Abend des 15. April durch einen Grossbrand teilweise zerstört wurde, sind alle Filme nach 1960 entstanden. Paris war und ist bis heute eine Stadt der Cineasten und der Cinephilen geblieben. Die Fotografin Bettina Grossenbacher schreibt im Vorwort zu ihrem Buch Les visiteurs du soir. Pariser Projektionen: «Ich glaube, dass die Faszination für Paris nicht zu trennen ist von der Liebe zum Kino. Paris ist die Hauptstadt der Reflexion des Kinos, und zwar im doppelten Sinn: Es ist der Ort, an dem immer wieder über das Kino nachgedacht wird, und es ist der Ort, an dem das Kino über sich selbst nachdenkt.»

 

Marina Schütz studierte Film- und Kunstwissenschaft in Zürich und ist seit 2014 für das Kinok-Programm mitverantwortlich. Paris begeistert sie immer wieder als einzigartige Stadt und als Ort lebendiger Kinokultur.

 

Einem der beliebtesten und reizvollsten Filmschauplätze ist unsere Sommerreihe gewidmet: Paris. In keiner anderen Stadt der Welt, nicht einmal in New York, wurden in der Kinogeschichte so viele Filme inszeniert wie in der Seine-Metropole. Jeder der zwölf Filme ist auf seine Art eine Hommage an die Stadt mit ihren charakteristischen Quartieren, ihrer Architektur, ihrer unvergleichlichen Atmosphäre und vor allem ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Paris und das Kino sind untrennbar verbunden, von den Anfängen bis heute. Wer über Filme nachdenkt und an deren Notwendigkeit glaubt, entdeckt in und durch Paris die Seele des Kinos.