Alle Wege führen ins Kino
Von Randexistenzen, singenden Mafiosi und unerwarteten Freund- und Feindschaften im neuen italienischen Kino
von Alexandra Pütter
«Jennifer Beals! Jennifer Beals!» 25 Jahre ist es her, dass Nanni Moretti in Rom der Hauptdarstellerin von «Flashdance» begegnete, wie er in «Caro diario» zeigte. Das Wochenmagazin L’Espresso widmete diesen August dem Jubiläum von Morettis wohl bekanntestem Film sogar eine Titelgeschichte. Mehrere Autoren zogen Bilanz. Krimi-Autor Giuseppe Genna schildert, wie nach Morettis Vespa-Ausflug zum römischen Hochhauskomplex Spinaceto, den der Regisseur gar nicht so schlimm fand («per niente male»), Horrortourismus an den Stadtrand en vogue wurde.
In Antonio und Marco Manettis «Ammore e malavita» findet sich eine Szene, die diese Exkursionen an die Peripherie (hier ins neapolitanische Scampia) gekonnt karikiert, mit einem Führer, der aus der Fernsehserie «Gomorra» zitiert. Die neapolitanischen Brüder Manetti verwischen nicht nur die Grenzen zwischen Realität und «Reality» – dies kennen wir bereits aus Matteo Garrones gleichnamigem Film, der Big-Brother-Kandidat Luciano zweifeln liess, ob er es mit echten Personen oder Abgesandten der Show zu tun hatte –, sondern inszenieren ein selbstbewusstes Spiel mit Genrekonventionen. Mit überraschenden Musikeinlagen, viel neapolitanischem Lokalkolorit und gekonnt eingesetzten Gangsterklischees vollführt «Ammore e malavita» einen aberwitzigen Spagat zwischen Mafiafilm und Musical, zwischen Ernst und Parodie und gewinnt so dem beliebten Mafia-Genre überraschende und unterhaltsame Facetten ab.
Ebenfalls in der Region Kampanien angesiedelt ist Vincenzo Marras «L’equilibrio», in dem zwei Priester in einem heruntergekommenen Viertel täglich mit Leid und Ungerechtigkeit konfrontiert sind. Während sich der alte Priester mit den Verhältnissen arrangiert hat, muss der neue am Ende erkennen, dass seine guten Taten nur Gewalt ernten. Marra, der sich bereits in «Vento di terra» als Regisseur der leisen Töne erwies, zeigt auch in seinem neuen Film eine Welt, in der von der Obrigkeit keine Hilfe zu erwarten ist. Er beleuchtet die Probleme organisierte Kriminalität, soziale Ungerechtigkeit und Drogen lakonisch und unaufgeregt. Seine Gabe, komplexe Gefühle und soziale Zusammenhänge in streng komponierte Plansequenzen zu fassen, machen Marra zu einem der spannendsten Talente des italienischen Kinos.
Das Thema Stadtrandsiedlung findet sich auch in Riccardo Milanis «Come un gatto in tangenziale» wieder, in der zwei Welten aufeinanderprallen. Paola Cortellesi spielt dabei die Frau aus der multiethnischen Siedlung, Antonio Albanese den Präsidenten eines Think Tanks, der der EU zuarbeitet. In Massimiliano Brunos «Nessuno mi può giudicare» war die Schauspielerin noch der «Fish out of Water» gewesen, eine Klosettfabrikantenwitwe, die sich in einem ärmeren Viertel Roms zurechtfinden muss; hier spielt sie die genau gegenteilige Rolle. Wurden die sozialen Gegensätze in Massimiliano Brunos Film noch in einem Happy End versöhnt, wird die angebliche Toleranz gegenüber dem Anderen, vermeintlich Fremden, bei Riccardo Milani als gut klingende, aber leere Floskel enthüllt, wenn auch durch Lachen gemindert.
Auffällig ist, wie viele Protagonisten des italienischen Kinos – und auch in dieser Reihe – sich genötigt sehen, wegzugehen. Emigration war immer schon ein Thema in Italien und im italienischen Kino. Emanuele Crialese etwa behandelt dies im 2006 entstandenen «Nuovomondo» mit traumhafter Symbolik, aber auch detailliertem Realismus, wenn er die Demütigungen zeigt, denen die Auswanderer auf Ellis Island ausgesetzt waren, womit er eine neue Aktualität erreichte. Wie sehr Italien mittlerweile selbst Sehnsuchtsziel oder vielmehr Durchgangsland für Migranten geworden ist, zeigt Salvatore Allocca in «Taranta on the Road», in dem Musiker zwei Migranten aufgabeln. Der Film verbindet die Flüchtlingsthematik mit einem Roadmovie und erinnert so an «Basilicata Coast to Coast» von Rocco Papaleo, der in einer früheren Cinema-Italiano-Reihe zu sehen war. Allocca zeigt im Mikrokosmos eines Tourbusses, wie Momente von gegenseitiger Akzeptanz und Selbstlosigkeit sowohl den tunesischen Flüchtlingen als auch den italienischen Musikern Augenblicke des Glücks bescheren.
Bemerkenswert ist, wie sich in den vergangenen Jahren Regisseurinnen zu starken Stimmen im italienischen Kino entwickelt haben, unter ihnen Alice Rohrwacher, Cristina und Francesca Comencini, Valeria Bruni Tedeschi oder Laura Bispuri. Die Fluidität von Geschlechtszuordnungen und die Migration sind Themen in Bispuris «Vergine giurata», in der die Protagonistin Hana ihre Identität als Frau aufgeben und sich in den Schäfer Mark verwandeln muss, damit sie in ihrer Heimat Albanien von den Männer akzeptiert wird und unbehelligt leben kann. Doch auch sie emigriert nach Italien, in dem sie ihre Schwester und verlorene Teile ihrer selbst wiederfindet. Hauptdarstellerin Alba Rohrwacher, die Hana verkörperte, und Regisseurin Laura Bispuri haben für «Figlia mia» erneut zusammengefunden. Mit von der Partie war auch Valeria Golino, eine der wenigen italienischen Schauspielerinnen, die auch als Regisseurin arbeitet. Sie und ihre Hauptdarstellerin Jasmine Trinca aus dem präzise und unsentimental inszenierten «Miele» über eine junge Sterbehelferin, die Menschen von ihren Leiden erlöst, bringen dieses Jahr in Italien mit «Euforia» eine neue Zusammenarbeit heraus, in dem Tod und Sterben wiederum eine zentrale Rolle spielen.
Der Tod ist in Francesco Brunis «Tutto quello che vuoi» ebenfalls gegenwärtig. Neuentdeckung Andrea Carpenzano – eines der vielen Talente des italienischen Kinos, das ohne Schauspielausbildung auskommt – ist Alessandro, der bezahlte Gesellschafter des gebrechlichen Poeten Giorgio. Erst tauschen sie Geld gegen Gesellschaft, dann Poesie gegen Fürsorge. Aber wie lange mag das dauern? Auffällig ist hier wieder eine der Stärken des italienischen Kinos: die Darstellung von Freundschaften. Nicht nur die sich langsam entwickelnde zwischen Alessandro und Giorgio, sondern auch die zwischen Alessandro und seinen gleichaltrigen Freunden, quasi upgedateten «Vitelloni», in Anlehnung an Federico Fellinis Müssiggänger von 1953.
Als nichts weniger als «das Gesicht des italienischen Autorenfilms» hat epd film im Juni die bereits erwähnte Alba Rohrwacher bezeichnet. Gerade war sie in Alice Rohrwachers «Lazzaro felice» zu sehen, der dritten Zusammenarbeit mit ihrer Schwester. Die Geschichte eines guten Menschen (Adriano Tardiolo, auch er eine Neuentdeckung ohne Schauspielausbildung) und der Wölfe um ihn herum zeigt Ausbeutung in diversen Spielarten, mal trügerisch pittoresk, mal deprimierend real. Auch diese Mischung des Realen mit dem Magischen ist eine Spezialität des italienischen Kinos.
Alexandra Pütter hat Filmkritiken in Deutschland, Österreich und Montenegro veröffentlicht und war Mitglied mehrerer Jurys der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique. Ihre Liebe zum italienischen Kino stammt noch aus Kindertagen.