Die Frau, die die Nouvelle Vague zum Vibrieren brachte
Jeanne Moreau zum
90. Geburtstag
von Alexandra Stäheli
In einem leichten Anflug von Pathos könnte man sie vielleicht als die drei geheimnisvollsten Parzen des französischen Avantgardekinos bezeichnen: La Deneuve, La Huppert und La Moreau haben, jede auf ihre Weise, einen je eigenen Schicksalsfaden in den vibrierenden Teppich des Autorenfilms eingewebt und diesen so in unverkennbarer Weise mitgeprägt. Alle drei sind durch ihr unnahbares, distanziertes, zuweilen fast unterkühltes Spiel zu Ikonen der Leinwand geworden. Alle drei haben Filmemacher wie Godard, Truffaut, Buñuel und Antonioni inspiriert, weil sie hinter ihrer oberflächlichen Glattheit doch das Senkblei des Ausdrucks in jedem Moment millimetergenau in die Seelentiefe der jeweiligen Charaktere hinabzuschicken wissen – bis in die schroffsten Abgründe hinein. Immer bleibt in diesem Oszillieren zwischen Tiefe und Oberfläche, Innen und Aussen auch eine schwer fassbare Leerstelle zurück, die der Betrachter mehr oder weniger bewusst füllt, füllen muss, um die manchmal unvermittelten Handlungen und abrupten Entscheidungen der Frauen auf der Leinwand zu verstehen. Es ist gerade diese rezipierende Mitarbeit am Seelenkleid der Figuren, die an das Lesen von Romanen erinnert und die dazu führt, dass uns gerade diese etwas mysteriösen Gestalten umso lebhafter in Erinnerung bleiben.
Bei Isabelle Huppert tut sich diese Leerstelle dort auf, wo eine berechnende Rationalität die weichen, nebligen Grenzen zum Wahnsinn berührt, während bei Catherine Deneuve unter der Maske undurchdringlicher Schönheit jederzeit mehr oder weniger gewaltsam eine verwundete Seele aufbrechen könnte. Bei Jeanne Moreau wiederum hat man den Eindruck, ihre Charaktere wurzeln in einem Bereich, der sich uns entzieht. Es ist, als wären all die Frauen, die sie auf der Leinwand verkörpert, von einer unsichtbaren Aureole umgeben, deren Fluidum aus einer anderen Zeit zu kommen scheint.
Als Jeanne Moreau vor 15 Jahren einmal in einem Interview gefragt wurde, wie viel Jeanne denn in all ihren Rollen stecke, da hatte sie energisch abgewinkt: «Oh, sehr wenig.» Pause. Und dann, um den Interviewpartner nicht vollständig im Regen stehen zu lassen: «Die Frau, die ich bin, ist von all ihren Rollen gefüttert worden – und im Gegenzug dazu wurden auch all diese Figuren von Jeanne Moreau genährt.» Das sei ein durchlässiger Prozess gewesen, jedoch, und da wurde sie ganz ernst, sie glaube, dass es jenseits unseres Bewusstseins etwas gebe, das nichts mit dem eigenen Leben zu tun habe – etwas sehr sehr Archaisches. Und dieses fliesse immer in die Rolle mit ein. «That’s what acting is about», erklärte sie mit dieser charmanten und resoluten Lebhaftigkeit, die sie auch in spätesten Jahren in ihren Auftritten noch behalten hatte: Seriöse Schauspieler ahmten nicht einfach das Leben nach, sondern sie berührten einen Bereich jenseits davon. Wie grosse Schriftsteller liessen auch gute Schauspieler Figuren in die Welt kommen, die jenseits der Buchdeckel bzw. der Leinwand ihre Existenz weiterführen wie gute Bekannte, die man lange nicht mehr gesehen hat – aber die man jederzeit anrufen könnte.
Jeanne Moreau hat in über 120 Filmproduktionen mitgewirkt und viele dieser ikonischen Figuren in die Welt entlassen, jede mit einer ganz eigenen Prägung, die jetzt schön, entrückt, schmollmundig durch unser kollektives Gedächtnis streunen. Es gäbe eigentlich nur einen einzigen roten Faden, der durch ihr schauspielerisches Werk führe, hatte Moreau einmal festgestellt, und das sei die Tatsache, dass sie fast ausschliesslich Frauen verkörpert habe, die sich am einen oder anderen Punkt in ihrem Leben den gegebenen Regeln widersetzen, nicht mehr gehorchen, auf ihre eigene innere Stimme zu hören beginnen – for better or worse.
Da ist natürlich zunächst einmal die unberechenbare, wild liebende Catherine aus François Truffauts «Jules et Jim» (1962), deren Begehren irrlichternd zwischen den Männern hin und her schweift, in Kauf nehmend, dass sie durch ihre Sprunghaftigkeit alles zerstört. Da ist die melancholische Lidia aus Michelangelo Antonionis «La notte» (1961), die am Ende einer ereignisreichen und doch auch leeren Nacht erkennen muss, dass sie ihren Mann verlassen wird. Und da ist in späten Jahren auch eine so feinfühlige wie egozentrische Marguerite Duras, die Jeanne Moreau in Josée Dayans «Cet amour-là» (2001) mit einer launischen Kampfeslust gibt.
Auch wenn Moreau zwischen all diesen entschlossenen Leinwandfrauen und ihrer eigenen Person keine Verbindungen ziehen mochte, eine nicht unbedeutende biografische Parallele mag dennoch aufblitzen: Auch Jeanne Moreau musste sich als junges Mädchen ihren eigenen Lebensweg als Schauspielerin hart erkämpfen. Am 23. Januar 1928 als Tochter einer britischen Tänzerin und eines französischen Gastronomen in Paris geboren, hatte sie früh schon ihre Liebe zum Theater entdeckt – und in sich auch ein gewisses schauspielerisches Talent erkannt. Dieser Spur der Leidenschaft unbeirrt folgend, studierte sie am Konservatorium und später an der Académie française, auch als der Vater keinerlei Verständnis für ihre Passion zeigte und sie schliesslich wegen ihrer ersten Bühnenrollen in «Le Cid» und «Prinz Friedrich von Homburg» kurzerhand aus der Familie warf. Für ihn, der eine Tänzerin geheiratet hatte, schien das Theater, erstaunlich genug, um nichts besser als ein Bordell zu sein. Es dauerte eine ganze Weile, mehrere Engagements und einige Auszeichnungen, bis er auf seine Tochter schliesslich doch noch stolz sein konnte. Dabei hatte sich die stets risikobereite Moreau schon in den Fünfzigerjahren den Ruf erarbeitet, eine der besten Schauspielerinnen ihrer Generation zu sein.
Ihre Karriere auf der Leinwand begann, nach einigen viel beachteten Rollen wie etwa in Jean Beckers «Touchez pas au grisbi» (1953), mit Louis Malles «Ascenseur pour l’échafaud» (1957). Zum Star wurde sie nur ein Jahr später mit dem Ehedrama «Les amants» (1958), ebenfalls unter der Regie von Malle, das bei seiner Premiere einen veritablen Skandal auslöste, weil eine vernachlässigte Ehefrau und Mutter letztlich aus ihrem engen, grauen Leben ausbricht, um mit einem jungen Studenten in eine ungewisse, aber verheissungsvolle Zukunft zu entschwinden. Es folgten vielfach ausgezeichnete Hauptrollen in Filmen von Antonioni, Truffaut, Buñuel, Fassbinder und Wenders, wobei Moreau bis zuletzt auch immer wieder sowohl als Schauspielerin als auch als Sängerin auf die Bühne zurückkehrte.
Im Jahr 2007 schliesslich wurde sie, 79-jährig, mit einem der höchsten Verdienstorden des französischen Staates, dem Ordre national du Mérite, ausgezeichnet. Doch so weit der Himmel auch wurde, an dem La Moreau als immer hellerer Stern glänzte, die herbe Schönheit mit der rauen Stimme hatte die Bodenhaftung ihr ganzes Leben lang nicht verloren: Auf der Leinwand konnte sie überirdisch erscheinen, in ihren Auftritten in Shows und Interviews hingegen blieb sie als ganz normale, energiegeladene, charmante und schlagfertige Französin erlebbar, die sich gerne auch zu gewöhnlichen «détails de la vie» äusserte – immer klug, immer humorvoll und in ihrer ganz eigenen Art bescheiden.
Am 23. Januar wäre Jeanne Moreau, die im vergangenen Juli starb, 90 Jahre alt geworden.
Alexandra Stäheli studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Redaktorin für verschiedene Zeitungen und unterrichtete an Kunsthochschulen. Seit einigen Jahren ist sie im Bereich Kunstförderung der Christoph Merian Stiftung tätig und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in den Bereichen Film und Belletristik.