Roter Oktober: 100 Jahre Russische Revolution

Kino ist Revolutionskunst

 

Von Tatjana Simeunović und Clea Wanner

 

Nach langer Zeit ist sie wieder da – die Russische Revolution! Ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, das die Lebenswelten des 20. Jahrhunderts massgebend mitgeprägt hat.

 

Das dramatische Bild von der Erstürmung des Winterpalais in St. Petersburg haben wir alle vor Augen. Wir glauben solche Aufnahmen zu kennen, obwohl die Ereignisse filmisch nicht dokumentiert wurden. Grund dafür sind die eindrucksvollen Revolutionsfilme. Im engeren Sinne bezeichnen sie ein Genre des sowjetischen Kinos von 1918 bis circa 1935. Entstanden im Kontext der Avantgarde, vermittelten sie mit agitatorischem Antrieb soziale Inhalte und beeindruckten mit formästhetischer Innovation. Eine einzigartige künstlerische Dynamik, die unter der repressiven Doktrin des sozialistischen Realismus in den 1930er-Jahren verschwand.

 

Revolution reenacted

Der wohl berühmteste Revolutionsfilm ist Eisensteins monumentaler «Oktober» (1927). Das Auftragswerk zum zehnten Jahrestag der Revolution basiert auf Recherchen von Fotografien und Wochenschauen der Unruhen im Februar und Juli 1917. Obwohl nicht als Abbildung des realen Oktober-Putschs gedacht, sondern als verblüffendes Filmexperiment mit der neuen «intellektuellen Montage» konzipiert, wurde Eisensteins symbolische Rekonstruktion des Umsturzes mit über 10’000 Statisten vor dem Petrograder Winterpalast immer wieder als authentisches Dokument verwendet und als solches in späteren Filmen zitiert.

 

Historisch differenziert betrachtet, ist die Russische Revolution weniger ein einzelnes Ereignis als vielmehr ein langwieriger und widersprüchlicher Prozess, der 1905 mit der blutigen Niederschlagung der ersten revolutionären Massenbewegung seinen Anfang nahm. Erst unter dem existenziellen Druck des Ersten Weltkrieges und aus seinen Wirren entwickelten sich die Revolutionen von 1917: die erste im Februar, welche die Errichtung der Provisorischen Regierung zur Folge hatte, die zweite im Herbst nach Lenins Rückkehr aus dem Schweizer Exil, als die Bolschewiki die Macht ergriffen. Der Staatsstreich verlief nicht säuberlich nach Plan, sondern chaotisch in einer Reihe von spontanen Aktionen. Den Umsturz, eigentlich ein kurzer Putsch in der Nacht zum 26. Oktober (nach neuem Kalender zum 8. November), kanonisierten die Jubiläumsfilme aber als monumentale Revolution: Unter Lenins Führung stürmten vereinte Massen von Rotgardisten, Soldaten und Arbeiter in einer einzigen Nacht den Winterpalast. Das Kino wurde zum Ort der Geschichtsschreibung.

 

Die Erschaffung der neuen Welt

Es war eine politische und zugleich geistige Revolution, die bereits von Zeitgenossen als Epochenbruch wahrgenommen wurde. Insbesondere die Avantgarde sah in der Revolution die Befreiung ihrer künstlerischen Träume und Energien: Mit dem Auslöschen der alten Ordnung kam die Möglichkeit für die Schöpfung und Verbreitung fortschrittlicher Kunst. Allen voran der Film. Von der Parteispitze als Propagandainstrument gefördert, wurde er für viele Künstlerinnen und Künstler zum avantgardistischen Medium par excellence. Der grundlegende Anspruch, nicht nur eine neue Kunst zu schaffen, sondern ein Modell der neuen Gesellschaft, widerspiegelt sich auch im Ausruf des Futuristen Wladimir Majakowski: «Kino ist Träger der Bewegung, Kino ist Wagemut und Inbegriff der Welt!»

 

Die Umwälzungen von 1905 und 1917 sowie einzelne Ereignisse waren die tragenden Motive in den Montagefilmen von Sergei Eisenstein («Panzerkreuzer Potemkin», «Oktober»), Wsewolod Pudowkin («Mutter», «Das Ende von St. Petersburg»), Esfir Schub («Der Fall der Dynastie Romanow») und Alexander Dowschenko («Arsenal»). Aber auch zeitgenössische Bezüge, der neue Alltag und der gesellschaftliche Aufbau in den Städten, kamen im Kino der jungen Sowjetunion nicht zu kurz. Wohnungsnot und die Tücken der Liebe brachten Alltagskonflikte und Komik in die Kinosäle, so in Boris Barnets lyrischer Komödie «Das Mädchen mit der Hutschachtel» oder in Abram Rooms Dreiecksdrama «Bett und Sofa». Nicht zuletzt war der Film aber auch die Projektionsfläche für sozialistische Utopien und fantastische Zukunftsvisionen. Dass der erste Science Fiction der Filmgeschichte, «Aëlita, die Marskönigin» (1924) von Jakow Protasanow, in Moskau entstand, ist kein Zufall.

 

Im Sinne der sozialistischen Revolution ist der Film kein schöpferisches Werk oder gar Geniestreich des Einzelnen, sondern ein kollektives Produkt. Diesem Credo folgend wurden die Studios zu Werkstätten und Fabriken, die Künstler zu Ingenieuren; von Schauspielerinnen und Stars war nicht mehr die Rede. Die Masse wurde zum neuen Helden.

 

Praxis und Theorie stets verbindend, entwickelten die Filmarbeiter zwischen 1924 und 1929 bedeutende ästhetische Konzepte, bei denen die Kameratechnik und die Montage im Zentrum standen. Das Paradebeispiel ist Dsiga Wertows Grossstadtfilm «Der Mann mit der Kamera» (1929), in dem Bilder verschiedener sowjetischer Städte maschinell zerteilt sich zu einer neuen filmischen Welt zusammensetzen. Wertow erklärte das menschliche Auge für unvollkommen. Erst das «Kino-Auge» kann das Leben sichtbar machen und auf diese Weise die Wirklichkeit entschlüsseln.

 

Auch Lew Kuleschows Methode fusste auf der Gestaltung einer neuen Realität aus Fragmenten. Noch während des Bürgerkrieges, als sich die Filmproduktion in einem maroden Zustand befand, experimentierte Kuleschow mit alten Filmaufnahmen und entdeckte als erster die Montage als System ästhetischer Wirkung. In seinem Langfilmdebüt «Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Land der Bolschewiki» (1924) kombiniert er das Abenteuersujet eines Westerns mit dokumentarischen Aufnahmen Moskaus. So wurde revolutionäres Pathos zugleich hochstilisiert und ironisch ausgespielt.

 

Obwohl sich die Positionen der wichtigsten Vertreterinnen und Vertreter des sowjetischen Avantgardefilms stark unterschieden, sprachen alle der Zuschauerwahrnehmung eine entscheidende Rolle zu. Allen voran Sergei Eisenstein, der bereits in «Streik» (1925) seine Theorie der Attraktion künstlerisch umsetzte: Eine bestimmte Folge filmischer Reize soll beim Zuschauer Erschütterungen auslösen und auf diese Weise das menschliche Erleben und Bewusstsein steuern. Die Montage ist nicht bloss dramaturgisches Mittel, sie ist Ausdruck der revolutionären Beziehung zur Welt.

 

«Ninotschka» oder West trifft Ost

So euphorisch oder auch feindlich die Haltung des Westens gegenüber der kommunistischen Internationalen war, das sowjetische Kino feierte in den USA und Europa einen stürmischen Erfolg. Gerade in der Zwischenkriegszeit war die Sowjetunion für Westeuropa ein «Fluchtpunkt» ideologischer Art. Künstlerinnen, Journalisten und Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, André Gide oder die Schweizerin Ella Maillart bereisten die Sowjetunion und berichteten von ihren Erfahrungen. Die Faszination für das unbekannte Land der Sowjets schlug sich schnell im Kino nieder, auf der Leinwand traf Ost auf West und umgekehrt. Beispielsweise in der Komödie «Ninotschka» von Ernst Lubitsch (1939). Ein neues Frauenbild verkörpernd, erstaunt die linientreue Genossin Ninotschka (Greta Garbo) ihren westlichen Verehrer, etwa wenn sie kühl von den Errungenschaften ihrer Heimat berichtet: «The last mass trials were a great success. There are going to be fewer but better Russians.» Zwar weniger ironisch, dafür opulenter wird die Russische Revolution samt luxuriösen Roben und prächtigen Kulissen vor dem Hintergrund einer Liebesgeschichte im Epos «Doktor Schiwago» (David Lean, USA 1965) erzählt.

 

50. Jubiläum: Revolution mit menschlichem Antlitz

Zum Revolutionsfilm gehören auch Werke, die den russischen Bürgerkrieg von 1918 bis 1922 thematisieren. Trotz der katastrophalen Bilanz des zerstörerischen Bruderkampfes der «Roten» gegen die «Weissen» manifestierte sich dieser Krieg als Fortsetzung der Oktoberrevolution und auf diese Weise auch als Teil des Gründungsmythos der Sowjetunion. Die Darstellung des heroischen Kampfs war oftmals Garant für hohe Besucherzahlen: beispielsweise bei der ersten sowjetischen Kinder-Abenteuerserie «Die roten Teufelchen» (1923) oder dem sowjetischen Erfolgsfilm «Tschapajew» (1934). Realistischere Varianten hingegen, welche die Schattenseiten des Krieges ins Zentrum stellen, waren seltener und erschienen erst im Zuge der Entstalinisierung während oder nach der «Tauwetter»-Ära, etwa zum 50. Jahrestag der Revolution: Der Jubiläumsfilm «Die Kommissarin« (1967) von Alexander Askoldow lieferte ein surreales und unheroisches Bild der Kriegszeit. Der Mystifikation der Revolution nicht entsprechend, landete der Film im Regal und durfte erst in der Perestrojka-Zeit 1987 gezeigt werden.

 

100 Jahre danach

Die grosse Bandbreite an Epochen, Genres, Stilmitteln und Erzählweisen zeugt von der Bedeutung des Revolutionsfilms im Osten und Westen der letzten hundert Jahre. Während im Westen das Jubiläum Anlass für eine kritische Auseinandersetzung und vielfältige künstlerische Produktionen ist, gedenkt das heutige Russland kaum der Revolution. Vielmehr wird der Revolutionsmythos samt der Führerfigur Lenins und des Klassenkampfes vermieden. Die Idee vom mächtigen Nationalstaat und die Erinnerung an das vergangene Imperium prägen den aktuellen, auch filmischen Diskurs.

 

Tatjana Simeunović und Clea Wanner sind Slawistinnen und Filmwissenschaftlerinnen am Slavischen Seminar der Universität Basel. Ihre Schwerpunkte sind das russisch-sowjetische und postjugoslawische Kino. Sie kuratieren und moderieren regelmässig Filmreihen und schreiben filmkritische Texte.

 

In der Erfreulichen Universität im Palace findet im Oktober ebenfalls eine Veranstaltungsreihe zum 100-Jahr-Jubiläum der Russischen Revolution statt, siehe www.palace.sg.

 

Hundert Jahre sind es her, seit die Oktoberrevolution 1917 die Welt erschütterte. Die Russische Revolution veränderte den Osten und Westen tiefgreifend  und hinterliess in der Kunst und im Film Spuren. Lenins Ausspruch von 1922, «… dass für uns von allen Künsten die Filmkunst die wichtigste ist», wurde von Regisseuren begeistert aufgegriffen. Die sowjetischen Filme der 1920er-Jahre wirken auch heute noch so frisch und unverbraucht wie anno dazumal. Sergei Eisenstein, Dsiga Wertow und Lew Kuleschow haben die Filmsprache revolutioniert und stehen für ein künstlerisch und politisch bedeutsames Kino.