Amazing Grace

 

von Thilo Wydra

 

«Grace Kelly ist ein schneebedeckter Berg, und wenn der Schnee schmilzt, entdeckt man darunter einen glühenden Vulkan.» Alfred Hitchcock

 

Das erste Mal, dass Grace Kelly (1929–1982) in Alfred Hitchcocks «Rear Window» (1954) zu sehen ist, geschieht in Form eines Schattens: James Stewart sitzt mit Gipsbein im Rollstuhl in seinem New Yorker Apartment in Greenwich Village und ist eingenickt. Der Abend bricht an, Dämmerung, blue hour. Aus dem Hinterhof sind Geräusche und Stimmen zu hören, die Gesangsübungen einer Frau, ein Klavier spielt, Kindergeschrei kommt von der Passage, die vom Hof zur Strasse führt. Während sich plötzlich, wie aus dem Nichts, lautlos und in Zeitlupe, Grace Kellys Schatten über ihn legt, und Stewart, als spüre er ihr Sich-Annähern, die Augen öffnet und, noch ganz benommen, lächelt. Es sind Bilder wie aus einem Traum. Dabei dreht Hitchcock den Ton zurück, bis auf ein ganz leises, diffuses Grossstadtsummen nahezu nichts mehr aus dem Hof zu hören ist. Es ist, als habe sich ein Wattebausch um das Liebespaar gelegt, sodass einen Moment lang kein Laut zu stören vermag und die Bildabfolge einen umso hypnotischeren Sog entwickelt. Hitchcock zeigt das in einer farbintensiven Slow-Motion-Sequenz. Grace Kelly und James Stewart sind mit ihren Gesichtern jeweils einzeln im Close-up zu sehen. Kelly wird dabei erst aus der Perspektive Stewarts gezeigt, frontal, sich zu ihm hinunterbeugend und somit zu uns, dem beglückten Zuschauer. Dabei sieht sie beinahe direkt in die Kamera. Es sind Kameraeinstellungen, die pastosen Gemälden ihres elfenbeinfarbenen Gesichts gleichkommen. So malt Alfred Hitchcock Grace Kelly. Kein anderer Regisseur hat sie so gesehen, so erkannt.

 

Im Juni 1950 finden für Grace Kelly die ersten Dreharbeiten für einen Kino-Spielfilm statt: «Fourteen Hours» (1951). Sie hat in Henry Hathaways bis heute recht unbekanntem New Yorker Film noir nur einen kleinen Part und lediglich zwei Drehtage. Doch ist dies der Beginn einer vielversprechenden Schauspielkarriere, die 1956 nach nur sechs Jahren abrupt endet. «High Noon» (1952), in dem Grace Kelly ihren zweiten Leinwandauftritt hat, wird zu zeitlosem Kult: In Echtzeit und in realistischer Bildsprache wird die Geschichte um Marshal Will Kane (Gary Cooper) erzählt, der nur Momente nach seiner Eheschliessung mit der jungen Quäkerin Amy Fowler (Grace Kelly) erfährt, dass Frank Miller, ein gefährlicher Gangster, den er vor fünf Jahren ins Gefängnis brachte und der Rache schwor, wieder auf freiem Fuss ist. Miller ist mit dem Mittagszug in die Western-Kleinstadt Hadleyville unterwegs. Sein Ziel ist Will Kane, zur Mittagszeit wird er eintreffen. Zwei grosse Dialogszenen hat Grace Kelly in «High Noon», die ihre Rolle der jungen – zwar schüchternen, aber doch bestimmten – Quäkerin Amy Kane charakterisieren: Es ist eine Mischung aus Schüchternheit und Bestimmtheit, ein Alternieren zwischen Verhuschtem und Dezidiertem. Grace Kelly spielt in diesen Sequenzen ihren Part mit sichtbarer – und im amerikanischen Original angesichts ihrer bebenden Stimme hörbarer – Erregung. Trotz ihres noch jungen Alters hat sie bereits einiges erlebt und weiss genau, was sie will. Auch, was sie nicht will. Das trifft sowohl auf die Erfahrungen der Figur Amy als auch auf Grace Kelly zu.

 

«‹Mogambo› hatte drei Dinge, die mich interessierten: John Ford, Clark Gable und eine Reise nach Afrika, die mich keinen Pfennig kostete. Wenn ‹Mogambo› in Arizona gedreht worden wäre, hätte ich die Rolle nicht angenommen», sagte Grace Kelly einmal. Die Dreharbeiten zu diesem John-Ford-Film dauern vier lange Monate, die Aussenaufnahmen finden in Ostafrika statt, in den in den 1950er-Jahren noch überwiegend britischen Kolonien. Hier, im New Stanley Hotel in Nairobi, begegnen sich alle. Grace Kelly ist mit ihren 23 Jahren die mit Abstand jüngste innerhalb des Ensembles; Ava Gardner und Clark Gable kennen sich bereits. Kellys Garderobe in ‹Mogambo› besteht aus kurzärmeligen Blusen und langen Röcken, aus Hosen und Safari-Jacken: Es hat durchaus seinen Reiz, wie sie in dieser hellen, manchmal an eine kakifarbene Uniform erinnernde Montur auftritt. Die spätere monegassische Fürstin im flotten Afrika-Look in einer Ménage-à-trois.

 

«Dial M for Murder» (1954), die Adaption des gleichnamigen Broadway-Theaterstücks von Bühnenautor Frederick Knott («Wait Until Dark», 1966), entsteht im August und September 1953. Eine Dreiecksgeschichte als hermetisches Kammerspiel, ein beinahe unfilmischer Theaterfilm. Eine Frau zwischen zwei Männern. Grace Kelly spielt die vermögende Margot Wendice, die in London mit Ehemann Tony lebt, einem mittellosen ehemaligen Tennisspieler. Der US-Kriminalschriftsteller Mark Halliday ist ihr Liebhaber. Tony weiss dies. Er will sie umbringen lassen, da er fürchtet, dass Margot sich scheiden lassen könnte, um Mark zu heiraten. Als Grace Kelly Hitchcock bei der Wahl des Nachthemds für die nächtliche Telefonsequenz vorschlägt, anstelle des von ihm geplanten schweren Samt-Morgenrocks, der das Licht so schön reflektiert, ein dünnes, helles Nachthemd zu nehmen, hält man am Set des Meisters die Luft an. Korrekturvorschläge einer jungen, neuen Schauspielerin, die nach nur zwei Nebenrollen in ihrer ersten, ausgereiften Hauptrolle zu sehen ist, das gab es bislang noch nicht. Doch Hitchcock willigt ein. Ein paradigmatischer Vorgang in ihrer lebenslangen Beziehung. Die Muse und ihr Mentor bleiben bis zu Hitchcocks Tod 1980 einander eng verbunden.

 

«The Country Girl» (1954) nimmt in Grace Kellys Karriere eine Sonderstellung ein: Das von Regisseur George Seaton in Schwarz-Weiss inszenierte Drama wird ihr den verdienten Academy Award einbringen. Am 30. März 1955 findet in Los Angeles die 27. Verleihung der Oscars statt: Grace Kelly trägt ein bodenlanges, kristallblaues Abendkleid aus französischem Satin, das an jenes Kleid erinnert, das sie in «To Catch a Thief» am Abend trägt, als sie Cary Grant im Hotel Carlton überraschend küsst. Neben weissen Perlohrringen trägt sie ihre weissen, ärmellangen Handschuhe, die ihr bis zum Ellbogen reichen, eines ihrer Markenzeichen. Ihre Danksagung zählt zu den kürzesten in der Oscar-Geschichte. 20 Sekunden nur benötigt sie, zwei Sätze nur spricht sie, als sie am Mikrofon steht. Zwei Sätze, die ihrem bescheidenen, zurückhaltenden Wesen entsprechen: «Die Freude dieses Momentes hält mich davon ab zu sagen, was ich wirklich empfinde. Ich kann nur mit meinem ganzen Herzen all jenen Danke sagen, die dies möglich gemacht haben. Danke.» Nach ihrem Abgang von der Bühne bricht sie in Tränen aus, die sie zuvor unterdrückte. Später, in einem ganz anderen Leben in Monaco, wird sie nach ebendiesem Prinzip leben: Haltung bewahren, koste es, was es wolle.

 

«To Catch a Thief» (1954) mag filmhistorisch einer der meist unterschätzten Hitchcock-Filme sein. Zu Unrecht, denn die nur vordergründig leichte Mixtur aus Thriller, Komödie und Romanze, die von einer prickelnden Melancholie durchzogen und bis in die Nebenrollen namhaft besetzt ist, birgt hintergründig genügend Sujets, die so leichtgewichtig nicht sind. In «To Catch a Thief» ist nichts so, wie es auf Anhieb scheint. Vieles ist Täuschung, Fälschung, Vexierspiel. Es geht, wie so oft in Hitchcocks Werk, um Identitäten, um echte und falsche, um doppelte und wechselnde. Auf Schwarz-Weiss-Fotografien, die am Set von «To Catch a Thief» entstanden, ist zu sehen, wie Hitchcock der sitzenden Grace Kelly eine Teetasse reicht, wie er Kerzen auf seiner Geburtstagstorte ausbläst, während er Kelly, die zu seiner Linken direkt neben ihm steht und dem Geschehen zusieht, an der Hand hält. Momente, die trotz des öffentlichen Charakters am Set etwas Vertrautes haben. Diese Fotos illustrieren das ausnehmend gute Verhältnis zwischen Lieblingsregisseur und Lieblingsschauspielerin, das Grace Kelly mit folgenden Worten charakterisierte: «Ich empfinde eine solche Zuneigung zu ihm und seiner Frau, dass er nichts falsch machen kann.»

 

«I want to be a queen», sagt Grace Kelly in der Rolle der Prinzessin Alexandra in Charles Vidors Historienfilm «The Swan» (1956). Ein paradigmatischer Satz. Mehrere der elf Filme, die sie im Laufe ihrer kurzen Karriere drehte, spiegeln auf beinahe schicksalhafte Weise Ereignisse ihres eigenen Lebens: Immer wieder muss sie sich zwischen Verpflichtung oder Gefühl entscheiden, oder zwischen zwei Männern. Immer wieder gilt es, Haltung zu bewahren, sich einer Moral verpflichtet zu sehen, Verantwortung zu übernehmen. Immer wieder auch die Thematik, vor einer existentiellen Weggabelung zu stehen, die sowohl moralische als auch gesellschaftliche Folgen mit sich bringt. «The Swan» antizipiert wie kein anderer Film Grace Kellys späteres Leben als Fürstin von Monaco.

 

Als sie ihren elften und letzten Kinofilm dreht, Charles Walters’ «High Society» (1956), liegt die Verlobung mit Fürst Rainier III. von Monaco bereits hinter ihr, die «Märchenhochzeit des Jahrhunderts» im April noch vor ihr. Die Dreharbeiten liegen genau dazwischen und dauern von Januar bis März 1956. Drei Monate später, am 18. und 19. April, wird Grace Kelly in Monaco erst standesamtlich, dann kirchlich getraut.

 

Ihr Verhältnis zu Hollywood war von Beginn an ambivalent. Sie fühlte sich an der amerikanischen West Coast nie wohl, konnte sich mit der Künstlichkeit dieses Ortes nur schlecht arrangieren. Doch Hollywood hat Grace Kelly, ungeachtet ihrer Distanz, so manch Gutes eingebracht: Elf Kinofilme, die über Jahrzehnte hinweg bis heute ihren Ruhm begründen und zu ihrer anhaltenden Ikonisierung und Legendenbildung beitragen; einen Oscar für eine ihrer eindringlichsten Darstellungen in einem bezwingenden Schwarz-Weiss-Drama; und die dreimalige Zusammenarbeit und langjährige Freundschaft mit dem Master of Suspense, Sir Alfred Hitchcock. Das alles, es ist ein grosses Glück, wird bleiben von der wunderbaren Schauspielerin Grace Kelly.

 

Thilo Wydra ist Autor, Ausstellungskurator und Kultur-Journalist. Er schreibt für verschiedene Medien wie Der Tagesspiegel, FAZ und Filmecho/Filmwoche und ist Autor zahlreicher Filmbücher und Biografien, u.a. «Grace Kelly – Filmstills» (2014), «Grace. Die Biografie» (2012), «Hitchcock’s Blondes» (2018), «Alfred Hitchcock» (2010), «Romy Schneider» (2008) und «Margarethe von Trotta» (2000).

 

Grace Kelly setzt unserem Dezemberprogramm Glanzlichter auf. Keine andere Schauspielerin hat in Hollywood eine solch rasante Karriere gemacht wie Kelly, die im November 2019 90 Jahre alt geworden wäre. In nur elf Filmen hat sie sich in den Filmolymp gespielt, innerhalb von zwei Jahren wurde sie dank ihres eleganten Sexappeals Alfred Hitchcocks wichtigste Darstellerin. Ihm hat sie ihre schönsten Filme zu verdanken; in «To Catch a Thief» brachte Hitchcock ihr Star-Image zur Vollendung. Wie keine andere seiner Darstellerinnen verkörperte Grace Kelly seine Phantasie einer aristokratisch zurückhaltenden, aber leidenschaftlichen Heroine.