Vom Zug der Bilder. Der Film und die Eisenbahn.

 

von Johannes Binotto

 

Sie wird immer wieder gerne erzählt, jene Legende, dass die Kinogeschichte mit den Aufnahmen eines in den Bahnhof einfahrenden Zugs angefangen habe, bei dessen Anblick das Publikum derart in Angst geraten sei, überrollt zu werden, dass es aufsprang und aus dem Saal stürzte. Es ist eine schöne Geschichte, nur stimmt sie leider nicht. Einen engen Zusammenhang zwischen Kino und Eisenbahn gibt es gleichwohl, und dieser geht sogar noch tiefer als die falsche Anekdote: Die Ingenieurskunst, die in der Maschine der Lokomotive steckt, ist dieselbe, die auch in der Mechanik der Filmapparate steckt. Und die durch das Fahren sich verändernde Wahrnehmung, welche die ersten Zugreisenden erlebten, setzt sich im Bilderreigen des Kinos fort. Mediziner des 19. Jahrhunderts warnten denn auch davor, dass der menschliche Organismus das Fahren in der Eisenbahn gar nicht auszuhalten vermöge. Dieselben Vorbehalte gibt es auch beim neuen Medium Film, das alsbald im Verdacht steht, ein Rauschgift zu sein, das die Nerven angreift. Aus heutiger Perspektive mögen derartige Ängste absurd erscheinen. Tatsächlich aber machen sie klar, wie sehr Bahn und Kino einst das Maximum dessen darstellten, was man an Beschleunigung am eigenen Leib erfahren kann. Doch wenn wir uns von einem Film mitreissen lassen, dann verspüren wir auch heute noch etwas von jenem Bewegungsdrang, der den bahn- und kinoskeptischen Physiologen von einst solche Sorgen machte.

 

«Die Filme bewegen sich vorwärts wie Züge in der Nacht», schwärmt denn auch François Truffaut als Regisseur seinem Lieblingsschauspieler Jean-Pierre Léaud in «La nuit américaine» vor. Wer schon einmal einen Filmstreifen in der Hand gehalten hat, der versteht den Vergleich sofort. Wie auf dem Rangierbahnhof werden im Schnitt die Bilder zu Szenen aufgereiht, die man später über die Gleise des Projektors rattern lässt, mit uns als seinen Passagieren. Auch deswegen ist die eingangs erwähnte Legende von der Angst über den einfahrenden Zug so irreführend: Im Kino schauen wir nämlich den Zügen nicht nur von aussen zu, sondern sitzen immer schon in ihnen drin. Wir sinken in die Fauteuils des Kinos wie in einen Sitz im Erste-Klasse-Abteil, lassen uns von der Fahrt der Bilder davontragen und sehen auf der Leinwand wie aus einem Waggonfenster die Welt und ihre Geschichten vorüberziehen.

 

Wenn im Kino die Eisenbahn zum Thema gemacht wird, ist dies umso bedeutsamer. Ob beabsichtigt oder nicht, weisen die entsprechenden Filme damit immer auch auf das eigene Medium hin und darauf, wie sehr die Kinoarbeit mit der Rangierkunst und das Filmschauen mit dem Zugfahren verwandt sind. In Jean Renoirs «La bête humaine» ist denn auch die Lokomotive, auf der unser Protagonist, der Zugführer Jacques Lantier, arbeitet, nicht bloss physisches Fortbewegungsmittel, sondern zugleich psychologisches Prinzip, das den ganzen Film antreibt. Lantiers Gefährt ist ein Triebwagen im konkret-bahntechnischen wie auch im übertragenen Sinn: ein Sinnbild für jene Triebhaftigkeit, die sämtliche Figuren unwiderstehlich dazu zwingt zu begehren und zu morden. Der Triebwagen der Eisenbahn, das muss Lantier einsehen, wird nicht von ihm gefahren, sondern er von ihm, genauso wie er auch als Figur über den Lauf der Filmhandlung keine Kontrolle hat, sondern von dieser mitgeschleift wird, so lange, bis die Notbremse gezogen und damit der Film zu Ende sein wird. Und so ist es auch in Youssef Chahines «Cairo Station» nur logisch, dass ausgerechnet in einem Bahnhof die Lust mit den Figuren durchgeht. So wie der Bahnhof ein paradoxer Ort ist, weil er nie das Ziel, sondern immer nur eine Durchgangsstation ist, so träumen auch die Menschen, die hier Zeitungen und Limonade an die Reisenden verkaufen, aus ihrem Leben auszubrechen und abreisen zu können. Das ist auch der vergebliche Traum der Gleisarbeiter in Ken Loachs Sozialdrama «The Navigators», die miterleben müssen, wie die Privatisierung der britischen Bahn sie mehr und mehr ihrer Existenzgrundlage beraubt. Während sie verzweifelt versuchen, mit dem neuen Kurs mitzuhalten und auf den sich davonmachenden Zug aufzuspringen, riskieren sie damit nur, buchstäblich unter die Räder zu geraten. Auch die Eisenbahnereltern in Edwin Beelers eindrücklichem Dokumentarfilm «Gramper und Bosse» sehen, wie die neuen Züge ohne sie weiterfahren. Für jene Berufe, auf die sie einst so stolz sein konnten, gibt es im Bahnbetrieb von heute keine Verwendung mehr. Von der Modernisierung abgehängt, landet man auf dem Abstellgleis.

 

Um solche Kehrseiten der Bahn und darum, dass auf den Bahnschienen nicht nur technologischer Fortschritt, sondern auch barbarische Gewalt transportiert werden kann, weiss freilich, wer die düstere Geschichte der Bahn während des Zweiten Weltkriegs kennt. In Filmen wie Jiří Menzels «Scharf beobachtete Züge» oder René Cléments unmittelbar nach Kriegsende entstandenem «La bataille du rail» sind es die Munitionszüge der Nazis, die von den widerstandskämpferischen Bahnarbeitern sabotiert werden. Die Vernichtungszüge in die Konzentrationslager indes, die hat leider niemand aufgehalten.

 

Heiterer ist da der wohl berühmteste Bahnfilm überhaupt, Buster Keatons Meisterwerk «The General», wobei auch dort im Hintergrund die Gewalt lauert, denn schliesslich spielt die Stummfilmkomödie im Amerikanischen Bürgerkrieg mit Keaton als Zugführer Johnnie, der seine von den Nordstaatlern gekaperte Lokomotive zurückzukriegen versucht. Auch was die Produktionsbedingungen dieses Films angeht, auf den Keaton so stolz war wie auf keinen zweiten, steckt in dieser Komödie weitaus mehr Gefahr, als man vielleicht denken könnte: Die ikonisch gewordene Szene, in der der von Liebeskummer niedergedrückte Keaton auf der Kuppelstange der anfahrenden Lokomotive sitzt und diese sich langsam, geradezu melancholisch und damit passend zu seinem Gemütszustand auf und nieder bewegt, war eine der gefährlichsten seiner ganzen Karriere. Hätten nämlich die Räder beim Anfahren durchgedreht, wäre der Komiker davongeschleudert und erschlagen worden. So führt auch und gerade dieser Film des wohl grössten Kontrollfreaks der Filmgeschichte vor, was insgesamt alle Bahnfilme andeuten, nämlich dass man die Maschine des Zugs niemals ganz beherrscht, sondern ihr immer auch ausgeliefert ist, auf Gedeih und Verderb. Darin liegt ihre Faszination wie auch ihre Gefahr. Daran wird man denken müssen, wenn man in den kommenden Wochen am Bahnhof Kinok in einen dieser Filme einsteigt, um sich davontragen zu lassen mit dem Zug der Bilder.

 

Johannes Binotto ist Kultur- und Medienwissenschaftler an der Hochschule Luzern – Design & Kunst und der Universität Zürich. Er lehrt, schreibt und forscht zur Geschichte und Theorie des Films sowie zu dessen Schnittstellen zu anderen Künsten und Theorien. Seine Webseite lautet www.schnittstellen.me.

 

Die Zugsfilmreihe wird anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des SEV, Gewerkschaft des Verkehrspersonals, gezeigt.

 

Die Eisenbahn und das Kino haben viel gemeinsam. François Truffaut schwärmte einst: «Filme bewegen sich vorwärts wie Züge in der Nacht». Der Blick aus dem Zugabteil ist mit dem Blick auf die Leinwand vergleichbar: Vor dem Zugfenster und auf der Leinwand zieht die Welt vorbei. Von der Faszination des Kinos für die Eisenbahn künden unzählige Filme. Die mächtige Maschine bot schon immer grosses Potenzial an Aktion und Aufregung, ist sie doch bewegte Plattform für drama-tisches Geschehen.  In unserer Filmreihe rücken wir für einmal nicht die Zugreisenden, sondern die Eisenbahner in den Blick. Steigen Sie ein und fahren Sie mit!