Liebe macht keine Ferien
von Barbara Schweizerhof
Italien sei kein Land, so heisst es in Billy Wilders «Avanti!», sondern ein Gefühl. Die Komödie von 1972 spielt auf Ischia und erzählt von einem Amerikaner und einer Britin, die kein Urlaub, sondern ein Todesfall hierher gebracht hat: Sein Vater und ihre Mutter sind auf der Insel zusammen in einem Auto verunglückt. Über Missverständnisse und Turbulenzen hinweg entdecken die erwachsenen Kinder nicht nur, dass ihre Elternteile ein Verhältnis miteinander hatten, sondern sie werden auch von der ganzen Umgebung, vom Hotelmanager über den Barmann bis zum Restaurantbesitzer, dazu angehalten, dem Glücksrezept des Paares auf die Spur zu kommen, das sich hier Jahr um Jahr heimlich traf: dem Italien-Gefühl eben. Und das heisst? Sonne, offenes Meer, laue Nächte, zirpende Grillen – und dolce far niente, süsses Nichtstun, das der Liebe endlich Raum gibt.
Zwar reklamieren die Briten als Avantgarde-Land der Industrialisierung für sich, den Strandurlaub als Gegenpol zur Arbeit erfunden zu haben, aber das Ideal davon hat sich im italienischen Klima gebildet, wo es heute noch gelebt wird. Wie nirgendwo anders gilt dort der blosse Aufenthalt in Meeresnähe als vollwertige Tätigkeit, die nicht erst durch Fitness- oder Entertainment-Angebote aufgewertet werden muss. Es reicht das Nichtstun, das Sonnenbaden, das reine Reduziertsein auf den Körper und seine unmittelbaren Bedürfnisse. Woraus sich ebenfalls wie natürlich ergibt: Das Konzept des Urlaubs am Meer mit seinen Riten des Sehens und Gesehenwerdens bei viel nackter Haut ist gleichzeitig ein wunderbarer Katalysator für erotische Abenteuer.
Wo einst ärmliche Fischer ihre bescheidenen Fänge einholten und ansonsten nichts zu holen war, schuf die Tourismus-Entwicklung des 20. Jahrhunderts ganz neue Räume der Ökonomie und der Interaktion. Zunächst war es ein Privileg der Reichen und Schönen, ihren sommerlichen Müssiggang an der italienischen oder französischen Riviera auszuleben. Die Mustervorlage dazu erkennt man in Filmen wie «Bonjour tristesse» (1958), «La piscine» (1969), im besagten «Avanti!» (1972), in der Gaunerkomödie «Dirty Rotten Scoundrels» (1988) und als letztes Echo noch in «A Bigger Splash» (2015), in dem Luca Guadagnino die Figuren- und Konfliktkonstellation von «La piscine» neu interpretiert. Der Alltag der privilegierten Sommerfrischler in all diesen Filmen ist sich erstaunlich ähnlich: Sie leben in herrschaftlichen Villen, die sie mieten oder besitzen, sie stehen spät auf, lassen sich von fleissigen einheimischen Angestellten ein Frühstück servieren, verbringen den Tag knapp bekleidet am Swimmingpool oder am Meer, mit Dösen oder Spazierengehen, um sich abends in Schale zu werfen und sich entweder auf einer Party zu tummeln, im Casino unter weitere Reiche und Schöne zu mischen oder auch, etwas romantischer, zu zweit auf der örtlichen Piazza zu tanzen. Es ist mehr Lifestyle als Urlaub. Die Sommer dieser Figuren sind nicht durch irgendwelche Arbeitgeber, sondern rein jahreszeitlich begrenzt. Wobei meist ein einschlagendes Ereignis oder gar Unglück ihrem Müssiggang ein früheres Ende setzt.
Wie sehr dieser Lifestyle zwischen Sonnenbad, Wasser-Ski und Glücksspiel in den 1960er-Jahren eine exklusive Angelegenheit der Reichen war, sieht man nicht zuletzt den James-Bond-Filmen dieser Zeit an. Die Riviera ist dabei dem britischen Spion fast schon zu primitiv, «zu touristisch», weshalb in der vielleicht berühmtesten Strandszene der Filmgeschichte Ursula Andress venusgleich dem karibischen Meer bei Nassau entsteigt. Ebenda beim Tiefseetauchen trifft Bond in «Thunderball» auf die schöne Domino (Claudine Auger), und die Yacht ihres Freundes, des Bösewichts Largo, liegt gleich nebenan. Inzwischen hat der Massentourismus längst auch die Bahamas erreicht, wie sich überhaupt das Gefüge der privilegierten Urlaubsorte und eines Jetsets, der sich dort trifft, über die letzten Jahrzehnte stark verändert hat. Sage niemand, dass die Bond-Filme nicht mit der Zeit gehen: Als Daniel Craigs 007 zu Beginn von «Skyfall» als Totgeglaubter untertaucht, tut er das nicht mehr als Playboy auf den Bahamas, sondern als «Traveller», gekleidet wie ein Rucksacktourist, im Süden der Türkei. Und statt hemmungslos hedonistisch wie einst Sean Connery die Sonne, die Drinks und die Frauen zu geniessen, lässt Craig seinen Bond eine unterschwellige, von Zynismus garnierte Melancholie empfinden.
Womit man bei einem der oft in den Ferien- und Riviera-Filmen mitschwingenden Thema wäre: dem «Ennui», der Kehrseite der Müssiggangsmedaille. Otto Premingers Verfilmung von Françoise Sagans «Bonjour tristesse» bringt das mit seinen farbigen Rückblicken aus einer schwarz-weissen Pariser Gegenwartsebene auf eine sonnige Ferienzeit an der Côte d’Azur wunderbar zum Ausdruck. Dem Hellblau des Himmels und der Hemden, der Sonne, die sich als Honig-Ton auf der Haut von Jean Seberg und Deborah Kerr niederschlägt, dem allen unterliegt die momenthafte Aura der Unwiederbringlichkeit. Sagans Fabel handelt von einem Verlust der Unschuld, den die Ich-Erzählerin selbst herbeiführt, gerade weil sie so unbedingt daran festhalten möchte.
Obwohl «Bonjour tristesse» keine «expliziten» Szenen enthält, ist die erotische Spannung jedem Bild eingeschrieben. Die Figuren selbst machen ihre Körper zum Thema, loben ihre gegenseitige Fitness und Form. Hier sind es die Frauen, die miteinander konkurrieren, die jungen Schönheiten Elsa (Mylène Demongeot) und Cécile (Jean Seberg) mit der reiferen Ann (Deborah Kerr). In Jacques Derays «La piscine» dagegen verläuft die Frontlinie mehr zwischen den Männern, zwischen Alain Delons Jean-Paul und Maurice Ronets Harry: Sie neiden sich die Frau (Romy Schneider), die mal mit Harry etwas hatte, nun aber mit Jean-Paul lebt. Sie demütigen sich gegenseitig durch hingeworfene Bemerkungen über ihre Jobs und ihr Talent, über den Umfang ihrer Bäuche und ihr Trinkvermögen – und natürlich, mit schnellem Autofahren auf den gefährlichen Küstenstrassen. Zudem ist «La piscine» ein verblüffend freizügiger Film, nicht nur, was das Mass an entblösster Haut angeht, sondern auch, was die Natur der erotischen Verhältnisse betrifft. Da gibt es die Andeutungen von SM-Praktiken, die Jean-Paul und Marianne miteinander verbinden, während Jane Birkins hochgewachsene Teenagerin ihren Sexappeal nicht als Bikini-Schönheit, sondern im Gegenteil durch ihre schlaksige Ungelenkigkeit und ihr mädchenhaftes Gesicht entfaltet. Trotzdem ist klar, dass sie Romy Schneider unnahbarer, selbstbewusster Marianne nicht wirklich das Wasser reichen kann.
Im Vergleich mit der ausgestellten, absolut modernen Amoralität von «La piscine» wirkt Susanne Biers Liebeskomödie «Love Is All You Need» (2012) mit seinen Postkartenansichten von Hochzeitsplanungen an der Amalfi-Küste zunächst fast altbacken. Auf den zweiten Blick aber merkt man, dass das nostalgische, zitathafte Element der Kulisse gewollt ist. Zwar gibt es von ihrem ersten, unglücklichen Zusammentreffen an keinen Zweifel darüber, dass Trine Dyrholms Ida und Pierce Brosnans Philip zusammenfinden werden, einmal mehr liegt das Vergnügen im Beobachten des «Wie». Sie spielt die Mutter der Braut, doppelt gezeichnet von einer Brustkrebs-Behandlung und der Tatsache, dass ihr Mann zu einer Jüngeren davongelaufen ist. Er spielt den Vater des Bräutigams, den das Witwer-Dasein hat verbittern lassen. Der Zauber der Amalfi-Küste, besagtes «Italien-Gefühl», tut sein Übriges, und einmal mehr ist es eine Nacktbadeszene, die die Dinge zwischen ihnen so richtig ins Rollen bringt. Mit dem schönen, abweichenden Detail, dass es hier Idas von Krebs gezeichneter Körper, brustlos und mit kahlem Kopf, ist, der mit seiner offensiven Freizügigkeit Philip bezirzt.
Das ist der grosse Charme, der von Dyrholms Ida in «Love Is All You Need» ausgeht: ihre Unverstelltheit, ihr Wille zur Ehrlichkeit. Nicht immer geht das Entblössen der Körper am Strand damit einher. Im Gegenteil, die Sommer- und Feriensituation ist genauso oft Anlass für Verwandlungen und Verkleidungen. Sowohl Billy Wilders unnachahmlicher «Some Like It Hot» (1959) als auch die Gaunerkomödie «Dirty Rotten Scoundrels» (1988) stellen jenen anderen Aspekt der Urlaubsatmosphäre heraus: Sie verführt zum Vorgaukeln falscher Identitäten. Wo sich viele Fremde begegnen, wo sich gesellschaftliche Schichten und Nationen mischen, sind die Möglichkeiten, sich entweder als Millionär oder als pfennigloser Rollstuhlfahrer auszugeben, schier unbegrenzt.
Das schönste Element der Sommer-Filme aber ist, dass sie hauptsächlich von jener besonders privilegierten Art des Reichtums handeln, nämlich vom Zeithaben. Selbst der immer aktionsbereite James Bond findet zwischen dem Erledigen feindlicher Agenten Gelegenheit, mit Domino nach Seesternen zu tauchen. Jacques Deray zeigt in «La piscine», wie das Schauen auf den oder die anderen, heimlich oder offen, ganze Tage füllen kann. Der italienische Regisseur Luca Guadagnino verschiebt in seinem Remake «A Bigger Splash» die Akzente, indem er Ralph Fiennes in der Harry-Rolle als jemanden zeigt, der das Nichtstun nicht aushält und permanent Aktion fordert.
Noch besser hat Guadagnino das spezielle Zeitgefühl der Ferien mit seinem Hin und Her zwischen Langeweile und Spannung, Dösen und Aktionismus in seinem Männerliebesfilm «Call Me by Your Name» (2017) auf den Punkt gebracht. Immer wieder kehrt der 17-jährige Elio (Timothée Chalamet) in sein verdunkeltes Zimmer zurück und lauscht den Geräuschen der Villa, in der er zusammen mit seinen Eltern den Sommer verbringt. Durch die hölzernen Fensterläden hindurch versucht er Blicke auf den älteren Doktoranden Oliver (Armie Hammer) zu erhaschen, der ein Interesse in ihm geweckt hat, das ihn selbst irritiert. Unterdessen vergehen ganze Nachmittage in Untätigkeit, mit ein bisschen Lesen, ein bisschen Ballspielen, ein bisschen Baden. Der Luxus des Zeithabens vergrössert dabei die kleinen Momente, die es zwischen Elio und Oliver gibt, den Griff an den Nacken, den kurzen Blickwechsel am Frühstückstisch, den Blick auf den Körper des anderen. «Call Me by Your Name» spielt in den 1980er-Jahren, der Zeit vor dem Internet und den Smartphones, und gibt so auch Anstoss darüber nachzudenken, wie die digitale Revolution und ihre Geräte unser Gefühl für Musse verändert haben.
Aber Zeit haben geht auch heute noch; man muss nur den Raum dafür schaffen. Hans Weingartner gibt ihn in «303» seinen Figuren in Form eines Vans, in dem er sie quer durch Europa fahren lässt. In intensiven Unterhaltungen lernen sich Jan (Anton Spieker) und Jule (Mala Emde) kennen, während sie durch das moderne, grenzenlose Europa tuckern. Mehr braucht es manchmal nicht für einen spannenden Film. Weingartner hat ein für fast alle Sommerfilme gültiges Zitat aus Rainer Maria Rilkes «Schmargendorfer Tagebuch» vorangestellt: «Dies ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.»
Barbara Schweizerhof hat Theaterwissenschaft, Slawistik und osteuropäische Geschichte an der Freien Universität in Berlin studiert und war im Anschluss im Verlagswesen und als freie Autorin tätig. Im Jahr 2000 wurde sie Kulturredakteurin der Wochenzeitung «Freitag»; seit 2007 arbeitet sie als Redakteurin der Monatszeitschrift «epd Film» in Frankfurt am Main. Darüber hinaus schreibt sie als freie Autorin unter anderem für die «Taz», den «Freitag» und die «Berliner Morgenpost» über Filme und TV-Serien.