Casanova & Co.: Schauplatz Venedig

 

von Marina Schütz

 

«…In questa città succedono cose incredibili … »

Hugo Pratt: Corto Maltese. Favola di Venezia

 

Schon die Reise mit dem Zug nach Venedig ist etwas Besonderes. Spätestens wenn man in Mestre das Festland verlässt, spürt man ein vorfreudiges Kribbeln im Bauch, und wenn man dann aus der Bahnhofshalle der Stazione Santa Lucia tritt, ist man stets von Neuem überrascht und überwältigt von dem, was man sieht: Man traut seinen Augen nicht und staunt. Tiziano Scarpa, selbst Venezianer, spricht in «Venedig ist ein Fisch» von der ästhetischen Radioaktivität Venedigs, deren hoher Grad gefährlich werden kann, vergleichbar dem Stendhal-Syndrom (eine psychosomatische Störung infolge kultureller Reizüberflutung), das den französischen Autor Marie-Henri Beyle, genannt Stendhal, in Florenz befiel und auf den der Fachbegriff zurückgeht. Die Touristen in Venedig neutralisieren die ästhetische Radioaktivität, indem sie diese mittels Fotoapparat oder Videokamera bannen, während die Bewohner der Serenissima – «der Durchlauchtesten» –, so Scarpa weiter, durch das ständige Absorbieren von Schönheit ganz schlaff und selbst zu Serenissimi werden, was auch so viel wie «von krankhafter Gelassenheit», «betäubt» oder «wie in Trance» heissen kann.

 

Venedig ist eine Stadt der Sinne, vor allem eine Stadt des Auges, wie Joseph Brodsky in «Ufer der Verlorenen» schreibt. Durch die Reflexion des Wassers auf den Fassaden sind seine Lichtverhältnisse einzigartig, ein Fest für Malerei und Fotografie. Venedig ist auch eine Stadt der Gerüche – der angenehmen und weniger angenehmen – und durch ihre steinerne Architektur, die gepflasterten Gassen und Plätze und die gewölbten Mosaikböden in den Kirchen eine haptisch erfahrbare Stadt. In seinem dreibändigen Werk «The Stones of Venice» (1851–1853) beschrieb der englische Kunsthistoriker, Sozialphilosoph und Mitbegründer der Arts-and-Crafts-Bewegung, John Ruskin, minutiös die architektonischen Details der Stadt, die noch heute eine unerschöpfliche Fundgrube für Denkmalpflege und interessierte Venedig-Besucher sind. Wegen der beginnenden Industrialisierung und des zunehmenden Tourismus war bereits Ruskin in Sorge um die Stadt; 1846 notierte er: «Wie ein Stück Zucker im Tee, so schnell schmilzt Venedig dahin.»

 

Wie keine andere Stadt ist Venedig ein Sehnsuchtsort, eine Stadt mit Suchtpotenzial, ein architektonisches Wunderwerk aus Stein, in Form eines Fisches auf Millionen von Holzpfählen in den lehmigen Untergrund gerammt. Darum werden mit Venedig auch ganz bestimmte Emotionen und Bilder assoziiert, die sich als Leitmotive in Literatur und Kunst widerspiegeln. Die Allgegenwart des Wassers unterstreicht die Vergänglichkeit; in den oft nebligen Wintermonaten breitet sich eine melancholische Grundstimmung aus. Es ist die Zeit des Acqua alta, des in jüngster Zeit durch die Klimaveränderung vermehrt wiederkehrenden Hochwassers – poetisch eingefangen in der wunderbaren Traumsequenz in Paolo Sorrentinos «Youth», wo sich auf dem schmalen Steg über den überfluteten Markusplatz Michael Caine und eine Schönheitskönigin für einen kurzen Moment nahe kommen. In dieser, früher touristenfreien Zeit – heute dauert die Saison zwölf Monate – zeigt sich die dunkle Seite Venedigs, das Geheimnisvolle und Abgründige, das existentielle Unbehagen, das einen beschleichen kann, wenn man sich in der Dunkelheit im labyrinthischen Gewirr der Calli, Salizade und Campi verläuft. Auch die Strassen und Plätze haben hier besondere Bezeichnungen; die Stadtteile sind keine Viertel, sondern Sestieri (Sechstel). Das ist die verstörende Atmosphäre von Nicolas Roegs Film «Don’t Look Now», in dem eine blinde Seherin eine wichtige Rolle spielt. Der deutsche Verleihtitel «Wenn die Gondeln Trauer tragen» zielt am wesentlichen Gehalt des Films vorbei, ist doch das Sehen und Erkennen das eigentliche Thema. Mit einer aussergewöhnlichen Montagetechnik gelingt es Nicolas Roeg, die Zuschauer an einem undurchschaubaren Spiel zwischen Realität, Sinnlichem und Übersinnlichem teilnehmen zu lassen.

 

Thomas Mann reiste 1896 mit 21 Jahren zum ersten Mal nach Venedig; seither liess ihn die «verführerisch todverbundene» Stadt nicht mehr los. Mit «Morte a Venezia» gelang Luchino Visconti eine kongeniale Verfilmung der gleichnamigen Novelle, eine subtile und suggestive Studie des Untergangs einer Epoche. Schon die Anfangssequenz von Aschenbachs Ankunft mit dem Schiff zu den Klängen von Gustav Mahlers Adagietto aus der 5. Sinfonie ist von Todesahnung erfüllt. Auch das Doppelgesichtige gehört zu Venedig, die Masken und der Karneval – ein ideales Versteckspiel für amouröse Abenteuer, wie Lasse Hallström in seinem opulenten «Casanova», der vollständig in Venedig gedreht wurde, genüsslich und mit Humor vorführt. Der jung verstorbene Heath Ledger ist mit seiner Natürlichkeit und dynamischen Art das pure Gegenteil zur Künstlichkeit und Tragik von «Fellinis Casanova» (1972) mit Donald Sutherland; zudem ist Ledgers Angebetete eine emanzipierte und kluge Venezianerin. Im 16. Jahrhundert war Venedig bekannt für seine Kurtisanen. «Dangerous Beauty», ein prachtvoll inszeniertes Biopic über die Dichterin und Kurtisane Veronica Franco, gibt einen Einblick in die damalige Welt, nimmt aber die historischen Details nicht sehr genau.

 

Venedig bietet auch die Möglichkeit für ein Leben im Verborgenen. Lord Byron zog sich temporär zu den Mönchen im Kloster San Lazzaro degli Armeni zurück und lernte die armenische Sprache; sein Beitrag zu Venedig ist u.a. das Schauspiel «I due Foscari», dem das Libretto zu Verdis Oper sowie ein Film aus dem Jahre 1942 von Enrico Fulchignoni zugrunde liegen, zu dem kein Geringerer als Michelangelo Antonioni das Drehbuch verfasste. Für die beiden Protagonistinnen in «Die Rote» und «Pane e tulipani» ist Venedig Ort der Selbstfindung, wobei Rosalba Barletta in letzterem Film die Reise dorthin eher unfreiwillig antritt.

 

Die spektakuläre Schönheit Venedigs zeigt sich auch in der riesigen Anzahl von Filmen aller Genres, die hier gedreht wurden. Für die ehemalige Direktorin des Filmfestivals von Locarno, Irene Bignardi, haben Venedig und das Kino eine spezielle Beziehung; die Stadt ist nie nur Hintergrund der Handlung und wird nie zufällig als Schauplatz eingesetzt, sondern spielt in ihrer Einmaligkeit immer auch eine tragende Rolle. Neben «Morte a Venezia» gibt es eine Reihe weiterer bedeutender Literaturverfilmungen, so mehrere Shakespeare-Adaptionen. Erwähnt seien hier «The Tragedy of Othello: The Moor of Venice» von und mit Orson Welles (1951) sowie «The Merchant of Venice» (2004) von Michael Radford mit Al Pacino in der Rolle des Shylock; diverse Adaptionen von Henry-James-Romanen wie «The Aspern Papers» und «The Wings of the Dove» (1997) von Iain Softley mit Helena Bonham Carter. Venedig dient oft auch als Schauplatz des Action-Kinos: beispielsweise in den beiden James-Bond-Filmen «Moonraker» (1979) und «Casino Royale» (2006) sowie in Gary Grays «The Italian Job» (2003) und Steven Spielbergs «Indiana Jones and the Last Crusade» (1989): Das Grab eines Gralsritters befindet sich in der Lagunenstadt. In «Everyone Says I Love You» joggt Woody Allen mit Julia Roberts durch Venedig (1996). Nicht zu kurz kommen auch die Comic-Fans mit dem Animationsfilm «Corto Maltese – Corte sconta detta arcana» (2002). Und mit «Herr der Diebe» (2005), der Verfilmung des Jugendbuchs von Cornelia Funke, ist auch für das jüngere Publikum gesorgt.

 

Keine Stadt wurde wohl so viel gemalt und fotografiert wie Venedig. Auch die Heldin in David Leans «Summertime», gespielt von Katharine Hepburn, hat die Kamera immer bei sich, um möglichst alles vom «Traum meines Lebens» – so der deutsche Verleihtitel – festzuhalten. Die Liste liesse sich mit Dokumentarfilmen ergänzen, mit Porträts über die zahlreichen berühmten Einwohner und Besucher der Stadt wie beispielsweise «Peggy Guggenheim – Ein Leben für die Kunst» (2016). Die schillernde Sammlerin wurde oft belächelt, doch ihre Stiftung im Palazzo Venier dei Leoni gehört zu den fünf meistbesuchten Museen der Welt. Grossen Erfolg hatten auch die TV-Adaptionen der Krimis der amerikanischen Bestsellerautorin Donna Leon um Commissario Brunetti; in Buchform liegt bereits Band 27 vor. Es soll Leute geben, die sich die Serie nur wegen Venedig anschauen.

 

Die neuere Geschichte der Stadt ist eng mit der Geschichte des Films verknüpft. Als die Gebrüder Lumière ihre Kameraleute auf die Jagd nach spektakulären Bildern in die Welt hinausschickten, kamen sie auch nach Venedig. Dort gelang Alexandre Promio 1896 der erste travelling shot der Filmgeschichte: Für sein «Panorama du Grand Canal vu d’un bateau» platzierte er die Kamera auf einer Gondel und fing so die vorbeiziehenden Palazzi und Kirchen ein. Mit der «Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia» auf dem Lido beherbergt Venedig das älteste Filmfestival der Welt und gehört mit Cannes und Berlin zu den drei weltweit wichtigsten Festivals. Als neue Sektion der Biennale für zeitgenössische Kunst, die seit 1895 veranstaltet wird, wurde 1932 das Filmfestival zum ersten Mal durchgeführt. Die Mostra kann als Anerkennung des Films als Kunstgattung gelten, dahinter stand aber auch die Überlegung, den Tourismus und die Wirtschaft wieder anzukurbeln, die infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 am Boden lagen. Seitdem wurden erfolgreich weitere Sparten hinzugefügt: Seit 1980 findet die Architekturbiennale alternierend zur Kunstbiennale statt.

 

Seine Einzigartigkeit ist für Venedig Segen und Fluch zugleich. In seiner ganzen Geschichte hat die Stadt nur einmal einen mit heute vergleichbaren Bevölkerungseinbruch erlebt. Nach der Pestepidemie 1630 sank die Einwohnerzahl von 141’625 auf ca. 98’000; es vergingen fast 150 Jahre, bis sich Venedig davon erholt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten noch 175’000 Einwohner in Venedig, im Jahr 2000 waren es ca. 66’000. Heute ist die Zahl mit rund 55’000 Einwohner auf ein Rekordtief gesunken. Die Aktion einer Bürgerinitiative macht auf die dramatische Situation aufmerksam; bei der Apotheke Morelli am Campo San Bartolomeo wurde ein Leuchtzählwerk installiert, das Tag für Tag die kontinuierlich abnehmende Zahl der Einwohner dokumentiert.

 

Der heute 77-jährige Archäologe und Kunsthistoriker Salvatore Settis, das «kulturelle Gewissen Italiens», schreibt in «Wenn Venedig stirbt. Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte»: «Geht man von der Stadt als idealtypischer Form der menschlichen Gemeinschaft aus, so ist Venedig heute, nicht nur in Italien, das herausragende Symbol für die Verdichtung dieser Bedeutungen, steht aber auch emblematisch für ihren Untergang. Sollte Venedig sterben, wird dies nicht der Grausamkeit eines Feindes geschuldet sein oder dem Eindringen eines Eroberers. Es wird vor allem durch ein Vergessen der eigenen Identität geschehen. (…) Es bedeutet das fehlende Bewusstsein für etwas, das immer notwendiger wird, nämlich die ganz spezifische Rolle einer Stadt im Vergleich zu all den anderen, ihre Einzigartigkeit und Verschiedenheit – Eigenschaften, die Venedig in höherem Mass besitzt als jede andere Stadt auf der Welt.» In seinem Dokumentarfilm «Das Venedig Prinzip» lässt Andreas Pichler Venezianerinnen und Venezianer zu Wort kommen. Obwohl der Film bereits 2012 in die Kinos kam, sind seine Aussagen immer noch gültig – ausser, dass laut Beschluss der italienischen Regierung ab 2019 die grossen Kreuzfahrtschiffe nicht mehr in das historische Zentrum fahren dürfen, aber immer noch in die Lagune, was das Problem nicht wirklich löst. Seither haben sich Bürgerinitiativen gebildet, die sich mit ihrem Protest gegen die Kreuzfahrtschiffe und die desolate Wohnungssituation immer mehr Gehör verschaffen. Zum Schluss nochmals der Kunsthistoriker Salvatore Settis: «Es genügt nicht, allein auf Schönheit zu bauen und von ihr eine wundersame selbstauslösende Rettung zu erwarten und uns damit von jeglicher Verantwortung loszusprechen. Schönheit muss im Gegenteil von den Lebenden Tag für Tag gepflegt werden, wenn wir etwas von ihr erhalten wollen. Die Schönheit wird nichts und niemanden retten, sofern es uns nicht gelingen wird, die Schönheit zu retten und mit ihr die Kultur, die Geschichte, die Erinnerung, die Ökonomie, kurz, das Leben.»

 

Marina Schütz studierte Film- und Kunstwissenschaft in Zürich. Seit 2014 ist sie für das Kinokprogramm mitverantwortlich. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich nicht nur in den Ferien mit Venedig, sondern sammelt auch Literatur und Filme über die Lagunenstadt und fährt so oft wie möglich dorthin.

 

Unseren Februarschwerpunkt widmen wir einer der schönsten Städte der Welt: Venedig. Wie keine andere Stadt ist Venedig ein Sehnsuchtsort, eine Stadt voller Geschichten und Geheimnisse, eine Stadt der Sinne. Von der Stumm-filmzeit bis heute ist Venedig einzigartiger Schauplatz für Filme aller Genres wie die Literatur-verfilmungen «Morte a Venezia» und «Die Rote», den verstörenden Psychothriller «Don’t Look Now», Komödien wie «Pane e tulipani» und «Casanova». Der Dokumentar-film «Das Venedig Prinzip» erinnert daran, wie sehr die Lagunenstadt durch den Massentourismus bedroht ist, der die Venezianer aus ihrer Stadt vertreibt.