Die Filme von Bernardo Bertolucci

Nach der Revolution

 

Von Gerhard Midding

 

Als Isabelle und Matthew nachts von ihrem Rendezvous heimkehren, machen sie eine Entdeckung, die ihnen den Atem verschlägt. Trümmer türmen sich mitten auf der Strasse zu einem grossen Haufen. Sie sind ein Überbleibsel von Chaos und Verheerung, deren Ursache die Protagonisten von Bernardo Bertoluccis «The Dreamers» aber vorerst nicht erraten.

 

Sie können nicht wissen, dass dies die Überreste von Barrikaden sind und in Frankreich in diesem Mai 1968 ein Generalstreik herrscht, den auch die Müllabfuhr befolgt. Die Revolte bleibt ein von Bertoluccis Helden ignorierter atmosphärischer Hintergrund, rote Fahnen sind in dem erotischen Kammerspiel nur ganz selten zu sehen. Ihre Wohnung haben Matt und Isabelle seit Wochen nicht mehr verlassen; fernzusehen verbietet sich, da ihre Leidenschaft exklusiv dem Kino gehört. Es wirkt wie eine ausgeschlagene Verantwortung, wenn man die grossen, historischen Ereignisse verpasst, weil man mit seinen eigenen, kleinen Problemen beschäftigt ist. Aber in «The Dreamers» werden Lebenslektionen im Kino gelernt.

 

Den Pariser Mai konnte der italienische Filmemacher nicht miterleben, weil er zu dieser Zeit in Rom drehte. Dennoch trägt sein Film das Gütesiegel persönlicher Erfahrungen. Als der Regisseur im Alter seiner Filmfiguren war, wurde der Sohn des Dichters und gelegentlichen Filmkritikers Attilo Bertolucci zum Stammgast der Cinémathèque française. In der Obhut des Filmmuseums erlebte er, wie in den 1960er-Jahren in Paris der Blick auf das Kino neu erfunden wurde. Bertolucci hätte ein Fresko der Studentenrevolte drehen können, entschied sich aber für eine intime Perspektive. Das ist eine Herausforderung, auf die sich dieser Regisseur immer wieder einlässt: vom Privaten so zu erzählen, dass das Politische zum Vorschein kommt. Das Kino ist für ihn ein Instrument, engagiert an der Welt teilzuhaben.

 

Konsequenter Wandel

Die Filmreihe setzt mit der zweiten Phase in Bertoluccis Schaffen ein, die 1970 mit «Il conformista» beginnt und gekennzeichnet ist durch eine Hinwendung zu visueller Opulenz und einer nachgerade opernhaften Melodramatik. Seine Filme entstehen fortan als internationale Koproduktionen, vor allem mit Frankreich und bald auch den grossen Hollywoodstudios. Von zeitgenössischen Kritikern wurde dieser Wandel als eine Abkehr von seinen experimentellen, selbstreflexiven Anfängen gewertet. Bertolucci wurde das Kalkül mit skandalträchtigen Stoffen vorgeworfen; ein vermeintlicher Makel, der «Ultimo tango a Parigi» bis zum heutigen Tag anhaftet. Und wie konnte der Regisseur sich treu bleiben, wo er doch nun mit amerikanischen Stars und amerikanischem Geld drehte?

 

Heute darf man diesen Umbruch mit grösserer Gelassenheit betrachten. Bertoluccis Filme sind ein leidenschaftliches Plädoyer für ein vitales europäisches Autorenkino – in den USA hat er, mit Ausnahme einer kurzen Sequenz zu Beginn von «La luna», nie gedreht. «Novecento» lässt sich als ein Prüfstein für die Beständigkeit des Filmemachers betrachten. Er ist ein Meisterwerk der filmischen Verwurzelung. Auf einzigartige Weise spiegelt er das Brauchtum, die volkstümliche Kultur und die politische Zerrissenheit seiner Heimatregion, der Emilia-Romagna, wider. Obwohl die Hauptfiguren von ausländischen Stars wie Gérard Depardieu, Robert De Niro, Burt Lancaster und Donald Sutherland verkörpert werden, stehen sie symptomatisch für die ländliche Klassengesellschaft. Zentral für die bewegte Chronik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Bertoluccis Auseinandersetzung mit dem Aufkommen des Faschismus, für das er – wie zuvor in «Strategia del ragno» und «Il conformista» – eine gleichsam psychosexuelle Herleitung findet. Es ist schon ein kühnes Schelmenstück, einem Hollywoodmajor wie Paramount mehrere Dollarmillionen abzuluchsen für ein dialektisches Epos, in dem so viele rote Fahnen geschwenkt werden!

 

In «La luna» setzt Bertolucci diese Suchbewegungen in die eigene Kultur fort, zum Teil an denselben Drehorten. Wenn er seinen jugendlichen Helden neugierig die Kulissen der Operninszenierungen, in denen seine von Jill Clayburgh gespielte Mutter als Sängerin auftritt, erkunden lässt, gewährt er dem Zuschauer zugleich einen Blick in die Illusionsmaschinerie seiner eigenen Kunst. Stets verstrickt er sie in die Zwiesprache mit den anderen Künsten, der Architektur, Malerei, Literatur und der Musik. Die Reflexion über die Bedingungen des Kinos setzt er unablässig fort – etwa, wenn er Paul Bowles, den Autor der Romanvorlage von «The Sheltering Sky», aufmerksam zusehen lässt, wie sich seine literarischen Figuren verselbstständigen, neue Gestalt annehmen im Spiel der Darsteller John Malkovich und Debra Winger sowie durch den Blick der Kamera. Marx und Freud bleiben auch über die Wechselfälle seiner Karriere hinweg die Fundamente, auf denen sein Kino ruht. Bald jedoch dreht er nicht mehr nur vor der eigenen Tür, sondern bricht zu fernen Horizonten auf, nach China («The Last Emperor») und Marokko («The Sheltering Sky»). Bertolucci begeht keinen Verrat, wenn er sein Kino international ausrichtet, sondern erweitert entschlossen dessen erzählerischen Radius.

 

Im Licht der Kindheit

Kino heisst, sagt der Regisseur in Bezug auf den Anfang von «The Sheltering Sky», mit offenen Augen zu träumen. Immer wieder setzen seine Charaktere an, ihrem Gegenüber ihre Träume zu schildern. Selten gelingt es ihnen. Bertoluccis Kino jedoch steht diese Kraft der Vermittlung zu Gebot. Dabei besitzen die Träume stets die Zweideutigkeit von Sehnsucht und Erkenntnis.

 

Die Agilität der Kameraführung trägt dieser Doppeldeutigkeit emphatisch Rechnung. Lange Schwenks und Kranfahrten nehmen die Drehorte majestätisch in Besitz, schwelgen in den prächtigen Schauwerten der Dekors. Sie vermessen ein Ambiente voller Verlockungen, in dem die Figuren sich erst positionieren müssen. Sie sind Suchfahrten durch magische Welten. Oft folgen sie kindlicher Neugierde, wenn etwa der kleine Pu Yi in «The Last Emperor» den überwältigend farbenfrohen Prunk des Kaiserpalastes in Peking entdeckt. Die Vatersuche des Sohnes in «La luna» führt nicht nur in die Vergangenheit seiner Mutter (sowie in die eigene), sondern ist auch eine Schule der Wahrnehmung. Diesem Impuls des schaulustigen (Wieder-)Entdeckens gehorchen bei Bertolucci auch die Erwachsenen, etwa Robert De Niro bei der Heimkehr auf den Gutshof der Familie in «Novecento» oder das amerikanische Ehepaar in «The Sheltering Sky», das in Marokko eine fremde Welt erkunden und sich dabei selbst wiederfinden will.

 

Diesen Erzählstil hat Bertolucci in der Zusammenarbeit mit dem Kameramann Vittorio Storaro perfektioniert. Bei Storaro wird das Licht lebendig, es bringt die Räume und Figuren zum Vibrieren. Oft ist es von expressiver Farbigkeit. Aus welchen Quellen es stammt, ist meist nachvollziehbar, aber sein Effekt lässt die Gebote des Realismus weit hinter sich. Es entführt den Zuschauer. Das orangefarbene, fast rote Licht, welches in die Wohnungen der Landarbeiter und der Gutsbesitzer aus «Novecento» fällt, leuchtet auch im Hotel in Tanger wieder auf, in dem sich Debra Winger in «The Sheltering Sky» zuerst verschanzt und dann in der Wüste, als sie sich endlich öffnet für die fremdartige Atmosphäre Nordafrikas. Es ist das Dämmerlicht, das noch einmal aufglüht vor Sonnenuntergang. Es ist so warm und magisch, dass es nur aus einer Kindheitserinnerung stammen kann, die Kameramann und Regisseur teilen.

 

Ein freier Blick

Die Bewegung von innen nach aussen, die Debra Winger vollzieht, ist allen Figuren Bertoluccis aufgegeben. Das zeigt sich allein schon in den vielen Autofahrten in seinem Werk, in denen zwei gegensätzliche, oft feindselige Sphären zusammengefasst sind. Im Kern handeln seine Filme von der Überwindung einer klaustrophobischen Enge. Das gilt für Kammerspiele wie «Ultimo tango a Parigi» ebenso wie für die ausgreifenden Epen «Novecento» und «The Last Emperor». Bertoluccis Kino artikuliert sich im Wechselspiel von Intimität und Öffentlichkeit. Sein jüngster Film «Io e te» führt dies in Reinform vor Augen. Er erzählt, durchaus in Anklängen an «La luna», von einem Drogenentzug. Der menschenscheue 14-jährige Lorenzo verbirgt sich im Keller seines Elternhauses, obwohl er eigentlich mit der Schulklasse in die Skifreizeit fahren müsste. Plötzlich taucht seine drogensüchtige Halbschwester Olivia auf, die er anfangs nur als Störenfried wahrnimmt. Lorenzos Versteck ist kein Gefängnis, sondern eine Wunderkammer. Bertolucci filmt es so, dass es in jeder Sequenz ein neues Antlitz erhält. Es wird zum Terrain seelischer Orientierungsreisen, ein Kampfplatz.

 

Die Leichtfüssigkeit, zu der er hier findet, ist einer schweren Krankheit abgetrotzt, die ihn seit Jahren an den Rollstuhl fesselt. Ein Alterswerk muss man den Film deshalb nicht nennen. Allzu unbändig mutet die Freude des Regisseurs an, nach zehnjähriger Pause wieder drehen zu können. Aus der drangvollen Enge dieser geschwisterlichen Zwangsgemeinschaft entsteht eine heilsame Nähe. Am Ende trennen sie sich. Lorenzo nimmt ihr das Versprechen ab, nie wieder Drogen zu nehmen. Olivia gibt ihm auf, sich nicht mehr zu verstecken. Das klare Licht des Morgens, in dem sich ihre Wege trennen, räumt den Zweifel nicht aus. Die Zuversicht auch nicht.

 

Gerhard Midding ist freier Filmjournalist. Er arbeitet für Tageszeitungen, Fachzeitschriften und Rundfunk und hat als Autor, Herausgeber oder Übersetzer an zahlreichen Filmbüchern mitgewirkt. Er lebt in Berlin.

 

Der zweite Teil der Bernardo-Bertolucci-Reihe mit «La luna», «The Last Emperor», «The Sheltering Sky», «The Dreamers» und «Io et te» folgt im Juni.

 

Unsere Filmreihe ist einem der ganz grossen Kinomagier des 20. Jahrhunderts gewidmet: Bernardo Bertolucci. Er ist einer der stilistisch einflussreichsten Regisseure – auch für das Hollywoodkino – und ein Meister der epischen Kinoerzählung. Bereits mit fünfzehn Jahren drehte er erste Kurzfilme; für Pier Paolo Pasolini arbeitete er bei «Accattone» als Regieassistent. Für Bertolucci sind Kommunismus und die stilistische Opulenz der Oper keine Widersprüche. Seine Filme sind voller Geheimnisse, Mehrdeutigkeiten und Paradoxa; sie stiessen beim Publikum auf grosse Bewunderung, aber auch auf leidenschaftliche Ablehnung. Die Reihe wird im Juni fortgesetzt.