Arab Film Festival

 

von Rayelle Niemann

 

Viele der an den zahlreichen Filmfestivals von Marrakesch bis Doha gezeigten arabischen Produktionen, die dort ein grosses lokales wie internationales Publikum begeistern, gelangen weder dort noch hier in die regulären Kinos. Oft in kleinen und Eigenverleihen vertrieben, kommen sie meist in Programmkinos und thematischen Filmreihen zur Aufführung. Alle hier präsentierten Spiel- und Dokumentarfilme aus Ägypten, Jemen, dem Libanon, Marokko und Palästina sind nach dem sogenannten Arabischen Frühling entstanden. Unterschiedliche erzählerische Strategien geben uns Einblick in das Leben von Menschen, deren Biografien mit sozialen und historischen Normen ihres Landes verknüpft sind.

 

Ägypten

Zwischen dem 1976 in Kairo gegründeten und etablierten Cairo International Film Festival und dem 2013 gegründeten MASR Dot Bokra (Ägypten Punkt Morgen) liegt ein langer Weg. Letzteres ist das erste Online-Filmfestival, das sowohl Ägyptens professionellen Filmemacherinnen wie Amateurregisseuren eine Plattform für Kurzfilme aller Genres bietet. Die Initianten reagieren mit diesem Projekt auf das veränderte Sehverhalten des Publikums: Abseits von Filmfestivals und Kinos werden Produktionen immer häufiger auf Netflix und Youtube angeschaut. MASR Dot Bokra ermöglicht ägyptischen Filmen ein breites globales Publikum; zudem kommen den vielen Geschichten, die eine filmische Umsetzung suchen, durch die Preisgelder weitere finanzielle Förderungen zugute.

 

Mohamed Khan, einer der gefeiertsten Regisseure Ägyptens, drehte seine 24 Filme in erster Linie für ein lokales Publikum. Er ist mit «Factory Girl» in der hiesigen Filmreihe vertreten. Als er für «Klephty» (Der Hochstapler) 2004 erstmals in Ägypten mit digitaler Technik arbeitete, gelang ihm dank flexibler Kleinkamera ein Langspielfilm mit starken dokumentarischen Elementen. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen empfanden das als Provokation und glaubten das Ende des klassischen ägyptischen Films nahe. Nach seiner Ausbildung an der Londoner Filmschule kehrte Khan 1963 nach Kairo zurück und wurde zu einem konsequenten Vertreter des neorealistischen Films. Historische Ereignisse und Korruption interessierten ihn genauso wie Alltagsgeschichten der unterprivilegierten Schichten, der Arbeiterklasse und Spannungen zwischen den Geschlechtern. Ohne melodramatische Zuspitzungen setzte er Themen um, vermied die Arbeit im Studio und drehte an authentischen Schauplätzen. Starke Frauenrollen, die im Alltag ums Überleben und ihre Befreiung kämpfen, entwickelte Khan bereits 1989 in «Dreams of Hind and Camilia», einem seiner grössten Erfolge. Seine zweite Frau Wessam Soliman schrieb die Drehbücher für «Downtown Girls» (2005) und «Factory Girl» (2013). Im Juli 2016 starb Mohamed Khan im Alter von 73 Jahren; «Factory Girl» war sein zweitletzter Film.

 

Hala Khalil, deren Film «Nawara» im Kinok zu sehen ist, studierte an der Kairoer Filmschule und erhielt für ihren ersten Langspielfilm «The Best of Times» von 2004 internationale Auszeichnungen. Sie gehört zur jüngeren Generation der sowohl kommerziellen als auch unabhängigen ägyptischen Filmszene, für die eine scharfe Gesellschaftskritik und die Analyse traditioneller Geschlechterrollen selbstverständlich sind. Ihr Film «Nawara» erzählt von den unerfüllten Träumen der ägyptischen Revolution und der damit einhergehenden Unüberbrückbarkeit der verschiedenen sozialen Klassen.

 

Jemen

Mohammed Hamood Al-Hashimi gilt als Begründer des jemenitischen Kinos. Ab 1910 betrieb er ein mobiles Kino für Stummfilme, das Charlie Chaplin zu einer berühmten Figur im Land machte. Auf der arabischen Halbinsel war es sein Sohn Taha Hamood, der das erste Kino Hurricane, benannt nach einem britischen Flugzeug, in Aden eröffnete. In den 1950er- und 1960er-Jahren sahen Frauen und Männer in 49 gut besuchten Kinos im Norden und Süden Jemens internationale Produktionen. Selbst der in Ägypten zensurierte Film «Al-asfour» (Der Spatz) aus dem Jahre 1972 von Youssef Chahine, der die Korruption von Militär und Polizei während des Sechs-Tage-Krieges thematisiert, wurde während eines Festivals in Aden gezeigt. Während das sozialistische Regime in Südjemen Kunst unterstützte, einen Filmverband gründete und Filme zu niedrigen Preisen in den nun verstaatlichten Kinos zeigte, gingen nach der Wiedervereinigung die Filmhäuser in private, konservative Hände über. Kinos waren für ihre neuen Besitzer haram, religiös verboten, und galten als Geldverschwendung. Dies führte Mitte der 1990er-Jahre zur Schliessung vieler Kinos. Die grossen Räume wurden zu Multifunktions- und Hochzeitshallen sowie Shoppingmalls umgebaut. Nur drei Kinos blieben offen, in denen sich ein männliches Publikum der Arbeiterklasse Bollywood- und Hollywoodfilme oder Fussball-Live-Übertragungen ansah.

 

Auch Satellitenschüsseln und das Internet trugen dazu bei, dass die Glanzzeit des jemenitischen Kinos mehr und mehr erlosch. Der öffentliche Sektor unterstützt weder die verbleibenden Kinos noch lokale Filmproduktionen. Das veranlasst jemenitische Filmschaffende, Low-Budget-Kurzfilme zu drehen, die sie im Internet veröffentlichen. Dazu kommt, dass Jemen seit Jahren von Armut und Hungersnot gezeichnet ist. Fünfzig Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten, die Sicherheitslage ist prekär. Vor allem mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges 2013, der Einmischung u.a. Saudi-Arabiens, hat für viele Jemenitinnen und Jemeniten der alltägliche existentielle Kampf Priorität. Es sind daher Filmemacherinnen und Regisseure, die ausserhalb ihres Landes wohnen, die dem jemenitischen Leben in ihren Produktionen eine Stimme geben. «A New Day in Old Sana’a» des britischen Dramatikers und Regisseurs Bader Ben Hirsi war der erste jemenitische Film, der 2005 in Cannes gezeigt wurde. 2012 wurde der kurze Dokumentarfilm «Karama Has No Walls» (Die Würde kennt keine Grenzen) von Sara Ishaq, geboren in Edinburgh, für einen Oscar nominiert. Dieser Film porträtiert Jemenitinnen und Jemeniten, die 2011 an den Aufständen teilnahmen.

 

«I Am Nojoom, Aged 10 And Divorced», der erste Spielfilm von Khadija Al-Salami, gelangte als erster jemenitischer Spielfilm in die Vorwahl für die Oscar-Nominationen für den Besten Fremdsprachigen Film. Khadija Al-Salami hatte das Glück, mit 16 Jahren ein Filmstipendium in den USA zu bekommen. Sie lebt heute in Paris, realisierte 23 Dokumentarfilme und wurde u.a. mit dem Orden der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet. Unter schwierigen Bedingungen 2013 in Jemen gedreht, weist dieser Film nicht nur auf das Schicksal von jungen Mädchen in Jemen hin, wo 53 Prozent unter 18 Jahren verheiratet werden. Gemäss Statistiken der UN sind es weltweit jährlich 15 Millionen Mädchen, die wegen Armut, Krieg und mangelnder Ausbildung zu Frühehen gezwungen werden. Khadija Al-Salami hat eine Organisation in Jemen gegründet, die sich der Schulbildung und medizinischen Versorgung von 550 jungen Mädchen annimmt.

 

Libanon

Libanon ist neben Ägypten das einzige Land in der arabischen Region, das eine frühe nationale Kino- und Filmindustrie aufweist. Während des französischen Mandats 1919–1943 erfreuten sich Lichtspielhäuser, in denen auch ausländische Produktionen gezeigt wurden, grosser Beliebtheit. Jordano Pidutti, ein italienischer Regisseur, der in Beirut lebte, drehte 1930 den Stummfilm «Die Abenteuer von Elias Mabrouk». Die Aufführung war ein solcher Erfolg, dass kurz darauf mit «Die Abenteuer des Abu Abed» eine weitere Folge produziert wurde. «Die Ruinen von Baalbek» war 1933 der erste libanesische Tonfilm auf Arabisch mit französischen Untertiteln. Dokumentarfilme wurden von den Franzosen stark zensuriert. Nach der Unabhängigkeit 1943 wurden das Landleben und die Folklore für den Dokumentar- und Spielfilm wiederentdeckt.

 

In den 1950ern gewann der libanesische Film auch im Ausland an Bedeutung. Nicht zuletzt führte das Aufblühen von Beirut als östliche mediterrane Wirtschaftsmetropole dazu, dass Filmstudios mit neuesten technischen Equipments aufgebaut werden konnten. Der Libanon entwickelte sich zu einer Alternative zu den Studios in Kairo. In den 1960er-Jahren wurden viele ägyptische Filme im Libanon realisiert, da es unter Gamal Abdel Nasser keine freie Meinungsäusserung gab. 1971 fand in Beirut das erste Arabische Filmfestival mit vielen neuen Produktionen statt, u.a. über den palästinensischen Befreiungskampf. Bis Mitte der Siebzigerjahre florierte der Filmmarkt auch für ausländische Produktionen im Libanon. Während des Bürgerkrieges zwischen 1975 und 1990 drehten libanesische Regisseurinnen und Regisseure eine bedeutende Anzahl von Filmen, die mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurden. Die Dokumentar- und Spielfilme handeln von Gewalt, Vertreibung und dem Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Bis heute werden die nachhaltigen Auswirkungen des Bürgerkrieges auf das gesellschaftliche und private Leben sowohl im libanesischen Film als auch in anderen Kunstrichtungen thematisiert. Auch die Auseinandersetzung mit einer konservativen Wertegesellschaft wird in den Drehbüchern häufig thematisiert.

 

Im Kinok sind zwei aktuelle libanesische Koproduktionen zu sehen. «Al-wadi» aus dem Jahre 2014 des Regisseurs Ghassan Salhab befasst sich mit den nachhaltigen Auswirkungen des Bürgerkrieges auf das gesellschaftliche und private Leben, Themen, die heute nach wie vor sowohl im libanesischen Film als auch in anderen Kunstrichtungen reflektiert werden. Auch die Auseinandersetzung mit einer konservativen Wertegesellschaft wird in den Drehbüchern häufig behandelt. Assad Fouladkar zeigt in «Halal Love» von 2015 lustvoll den Spagat zwischen religiösen Traditionen und Gefühlen, die ausgelebt werden wollen.

 

Marokko

Schon die ersten Filme, die zwischen 1895 und 1910 in Marokko entstanden, wurden von Ausländern, mehrheitlich vom Unternehmen Lumière der französischen Filmpioniere, gedreht. Der Blick von aussen generierte Bilder stereotyper Vorstellungen von etwas Fremdem, in denen Einheimische zu Statisten in einer Landschaft wurden. Diese orientalistische Vereinnahmung reduzierte das marokkanische Leben auf primitive Exotik. Der französischen Kolonialmacht war es zwischen 1912 und 1956 ein Anliegen, dieses Bild von Marokko aufrechtzuerhalten, um die Besetzung zu rechtfertigen. In ihren afrikanischen Kolonien etablierte sie 1934 ein Dekret, das jungen Afrikanerinnen und Afrikanern verbot, ihre eigenen Länder zu filmen. Weitere Gesetze stellten die marokkanische Filmindustrie unter die Kontrolle und Zensur der Franzosen. Unter diesen Vorzeichen entstand 1944 das Centre Cinématographique Marocain, das für die Finanzierung und Verbreitung von «marokkanischen» Filmen zuständig war.

 

Bis heute hinterlassen die kolonialen Einflüsse ihre Spuren in den Filmproduktionen. Das Ringen um den eigenen Blick, den Blick von innen, beschäftigt viele marokkanische Filmschaffende. Nicht immer bedeuten soziale Themen auch eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die beiden hier gezeigten marokkanischen Filme sind autobiografisch geprägt. Mohamed Amin Benamraoui hat mit «Adios Carmen» den ersten Film in der Sprache der Berber gedreht und eröffnet damit ein weiteres, tabuisiertes Feld: die Einflussnahme in den spanischen Enklaven Marokkos. Mohamed Mouftakir realisierte mit «L’orchestre des aveugles» eine Gesellschaftskomödie, die in unterschiedliche soziale Milieus eintaucht.

 

Palästina

Dunia (Welt) hiess das erste Kino, das 1941 in Ramallah seinen Betrieb aufnahm. Besucher kamen mit Bussen und Eseln aus benachbarten Dörfern und Städten zu den Vorstellungen. Während der Nakba 1948, der Flucht und Vertreibung von etwa 700’000 arabischen Palästinenserinnen und Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina, blieb das Kino geschlossen. Zwischen 1951 und 1955 gaben die neuen jordanischen Behörden die Erlaubnis für drei weitere Kinos in Ramallah. Türkische, ägyptische, amerikanische und französische Produktionen unterhielten das Publikum; der Besuch der Filmtheater gehörte zu den wichtigsten sozialen und kulturellen Aktivitäten. Mit der israelischen Besatzung 1967 und der Verbreitung des Fernsehens nahm das goldene Zeitalter der Kinos ein Ende. Die erste Intifada Ende der 1980er-Jahre brachte den zweiten Tiefpunkt durch die Schliessung und teilweise Zerstörung der Lichtspielhäuser. Videokassetten hielten Einzug in private Haushalte. Das Al Kasaba Theatre and Cinematheque (Die Festung), einst 1970 in Jerusalem gegründet, zog 2000 in das renovierte Al Jameel Kino in Ramallah ein und verfügt seither über die technischen und künstlerischen Möglichkeiten, Filme wie auch Theater zu produzieren und zu zeigen.

 

2004 wurde das erste palästinensische Filmfestival in Ramallah abgehalten. Das jüngste Projekt dieser Art, die Days of Cinema, wird seit 2013 von FilmLab: Palestine organisiert. Die Filmfestivals, an denen internationale und lokale Produktionen gezeigt werden, sind von der jeweiligen politischen Lage und den israelischen Behörden abhängig. Da es nach wie vor schwierig ist, sich in Palästina von A nach B zu bewegen, reisen die Programme oft von Ort zu Ort. Dies zeigt auch der Film «Speed Sisters» von Amber Fares, obwohl es darin «nur» um Frauen geht, die Autorennen fahren.

 

Rayelle Niemann ist freie Kuratorin und wohnt in Zürich. Seit 2008 kuratiert sie zusammen mit Erik Dettwiler die Onlineplattform www.citysharing.ch. Von 2003 bis 2012 lebte sie in Kairo und realisierte u.a. Projekte in Syrien, Jordanien und Ägypten. In Ausstellungen, Diskussions- und Vortragsreihen der letzten Jahre standen neue Bilderproduktionen vor allem aus Syrien im Fokus sowie die Schweizer und europäische Flüchtlings- und Asylpolitik.

 

Eine Auswahl der Filme des 3rd Arab Film Festival Zurich ist dank der Kooperation von Cinélibre, des Vereins International Arabic Film Festival Zurich IAFFZ und des Filmpodiums Zürich in weiteren Kinos zu sehen.

 

Was ist aus dem Arabischen Frühling geworden? Sechs Jahre nach dem Aufbruch in den arabischen Ländern hat die anfängliche Euphorie allgemeiner Ernüchterung Platz gemacht. Krieg, Terror, Gewalt und Flüchtlingswellen haben die hoffnungsvolle Stimmung abgelöst, die nach Beginn des Aufstandes im Dezember 2010 in Tunesien auch Ägypten, Jemen, Syrien und Libyen ergriffen hatte. Der Traum einer modernen arabischen Gesellschaft ist geplatzt. Und doch: Das Kino zeigt, dass nichts beim Alten geblieben ist. Die Werke arabischer Filmschaffender vermitteln eine nie dagewesene Vitalität, das unabhängige Filmschaffen blüht.