Ricordi e Stima

 

von Sophie Rudolph

 

Am Anfang steht oft die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Ökonomische oder politische Gründe führen am häufigsten dazu, dass Menschen sich entscheiden, ihr Heimatland zu verlassen und anderswo Arbeit und Sicherheit zu finden. Aktuell sind wir mit einer Massenflucht nach Europa konfrontiert, die tragische Dimensionen hat. Aber das Thema der Migration ist auch ein innereuropäisches.

 

Das Ausstellungsprojekt des Vereins Ricordi e Stima zeigt Fotografie und Oral History zur italienischen Migration nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980-er Jahre in der Schweiz. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Schweiz das wichtigste Zielland der italienischen Migration. Der wirtschaftliche Aufschwung der Schweiz ist massgeblich von den «Gastarbeitern» mitgetragen worden. Es ist aber nicht bei allen wirtschaftliche Not, die sie bewegt, in die Schweiz zu kommen. Einige sind einfach neugierig und abenteuerlustig oder folgen Familienangehörigen und Bekannten. 1975, auf dem Höhepunkt der Migration, lebt über eine halbe Million Italienerinnen und Italiener in der Schweiz. Dennoch wird ihr alltägliches Leben in der Schweiz von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die Ausstellung und die sie begleitende Filmreihe zeigen die Parallelgesellschaft, in der Italiener in der Schweiz lebten.

 

Unvergessen das Eingangszitat von Max Frisch zu «Siamo italiani»: «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.» Menschen, die ihre Kinder lieben, auf der Strasse singen und für die Schweizer neuartiges Gemüse in ihren Schrebergärten züchten: Zucchetti, Kürbis, Tomaten und Cicorino Rosso. Die Unternehmen, die die Italiener in die Schweiz holen, interessieren sich jedoch nur für ihre Arbeitskraft. Anständige Wohnverhältnisse werden für die Arbeiter nicht geschaffen, eiligst werden Baracken hochgezogen, in denen zeitweise bis zu 160 000 Saisonniers dürftig untergebracht werden, Familiennachzug ist verboten. Die Italienerinnen sind aber keineswegs nur passiv nachreisende Ehefrauen, es gibt viele Frauen, die kommen, um in der Schweiz zu arbeiten, vor allem in der Textil- und Bekleidungs- sowie in der Lebensmittelindustrie. Der Erwerbsanteil unter den italienischen Migrantinnen ist sehr hoch. Für die gleiche Arbeit bezahlen viele Unternehmen den zugezogenen Arbeitern und Arbeiterinnen jedoch geringere Löhne als Einheimischen. Vom Wahl- und Stimmrecht bleiben die italienischen Migrantinnen und Migranten ausgeschlossen, auch wenn viele Gesetzgebungen sie in ihrem täglichen Leben zentral beeinflussen. Die italienische Gemeinschaft baut in der Schweiz Sektionen italienischer Parteien auf. Die Parteien und die Colonie Libere Italiane fordern Mitbestimmungsrechte in der Schweiz. Insgesamt ist das Klima von Fremdenfeindlichkeit geprägt, die in der Schwarzenbach-Initiative zum Ausdruck kommt. 1970 wurde sie mit einer Mehrheit von 54% abgelehnt. Dennoch werden die politischen Initiativen von der Bundespolizei eifrig überwacht. Als die Parlamentarische Untersuchungskommission im November 1989 bekannt gibt, dass die Bundesregierung zwischen 1900 und 1989 über

900 000 Personen bespitzelt hat, sind darunter auch sehr viele Italiener.

 

Von der lokalen Spezifik der italienischen Migration in die Schweiz öffnet sich auch der Blick für die universale Problematik der Migration als gesellschaftliches Phänomen. Die Basis für die moderne Erfahrung der Migration ist Nationalismus und auf individueller Ebene die Staatsangehörigkeit. Staaten regeln die Durchlässigkeit der Grenzen, jeder Nationalstaat ist ein okkupiertes Gebiet, das polizeilich kontrolliert wird. «Die Italiener» (so der deutsche Titel von «Siamo italiani»), sobald sie einmal die Schweizer Grenze überschritten haben, okkupieren nun aber ihrerseits das gleiche Territorium wie «die Schweizer». Es kommt zu einer doppelten Besetzung. Die «reale» Schweiz teilt sich in multiple Projektionen auf, die durch die steigende Präsenz von «den Fremden» entstehen, weil jede/r eine andere Perspektive auf dasselbe Land mitbringt. So lässt sich mit Alexander Seiler fragen: Brauchen wir die Fremden, um noch eine Heimat zu haben? Und hat die abstrakte Vorstellung eines Vaterlandes überhaupt etwas mit Heimat zu tun? In seiner Rede «Das Eigene und das Fremde» am Forum Solidarität statt Fremdenhass in Zürich am 19. Oktober 1985 wendet er sich an die «Ausländerinnen und Ausländer, Schweizerinnen und Schweizer und Mitinsassen des Raumbootes Erde» und stellt fest: «Uns einen abkrampfen liegt uns besser als leben und zusammenleben». Ein Plädoyer für mehr Miteinander, das 30 Jahre später aktueller denn je ist. Versteht man Heimat als konkret sinnliche Erfahrung von Zugehörigkeit und Vertrautheit, dann braucht es dafür keinen Nationalismus. An erster Stelle steht die offene Begegnung mit dem Anderen. Eine Begegnung, die dazu einlädt, das Eigene mit anderen Augen zu betrachten anstatt sich gegenseitig zum Fremden zu machen. Denn auch aus der Perspektive der Migranten verändert sich die Heimat. Italien bleibt ein Sehnsuchtsland, aber eine Rückkehr ist nicht für alle möglich, und oft wollen die in der Schweiz geborenen Kinder hier bleiben. Es ist etwas Neues entstanden. Auch davon erzählen die Filme.

 

Sophie Rudolph, Kultur- und Medienwissenschaftlerin, hat mit einer Arbeit über die Filme von Alain Resnais promoviert und arbeitet zur Zeit als Lehrbeauftragte an der Universität St. Gallen.

 

Die Ausstellung «Ricordi e Stima – Fotografie und Oral History zur italienischen Migration» ist vom 5. März bis 31. Mai im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen zu sehen.

 

Unsere Filmreihe im April begleitet die Ausstellung «Ricordi e Stima. Fotografie und Oral History zur italienischen Migration» im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen. Mit Alexander J. Seilers «Siamo italiani» und «Il vento di settembre» sowie «Lo stagionale» von Alvaro Bizzarri sind drei Klassiker im Programm, die die prekären Lebensbedingungen der italienischen Migrantinnen und Migranten thematisieren. Die Komödie «Pane e cioccolata» zeigt den Saisonnierstatus aus italienischer Sicht. «Si pensava di restare poco» erzählt zwölf bewegende Geschichten zur Emigration aus dem Kanton Graubünden.