Total Kaurismäki Show Digitally Remastered

 

Rauchen statt reden. Die Filme von Aki Kaurismäki

 

von Thomas Bodmer

 

Wer die unaufgeregt-spröde Welt des Melancholikers Aki Kaurismäki mit ihren wortkargen Figuren (wieder-)entdecken möchte, hat dank der vorliegenden Retrospektive Gelegenheit, sich das kürzlich restaurierte und digitalisierte Gesamtwerk des lakonisch-charismatischen Filmemachers zu Gemüte zu führen. Die «Total Kaurismäki Show» umfasst insgesamt siebzehn Spiel- und Dokumentar- sowie zehn Kurzfilme, die so gut gealtert sind, dass man sie sich immer wieder ansehen will. Im Januar zeigen wir den ersten Teil der Retrospektive, im Februar folgt der zweite.

 

Volle dreizehn Minuten dauert es, bis die Hauptfigur von «The Match Factory Girl» (Tulitikkutehtaan tyttö, 1989/90) etwas sagt. Das ist selbst bei einem so wortkargen Drehbuchautor und Regisseur wie Aki Kaurismäki ein Rekord. Dafür haben wir genau verfolgen können, wie der Stamm einer Espe zu Streichhölzern verarbeitet wurde. Und was sagt Iris, das Mädchen aus der Streichholzfabrik, als sie endlich einen Satz von sich gibt? «Ein kleines Bier.»

 

Diesen dürren Worten zum Trotz haben wir in den dreizehn Minuten schon eine Menge über Iris erfahren, denn Aki Kaurismäki kann so gut mit Bildern erzählen wie kaum ein Regisseur unserer Zeit. So sehen wir Iris, wenn sie nach Hause kommt, das Abendessen zubereiten für die Mutter und den Stiefvater, die beide kein Wort reden, während die ganze Zeit der Fernseher läuft. Iris geht zu einer Abendveranstaltung, wo sie als Einzige nie zum Tanz aufgefordert wird. Und auf einem Regal hat sie viele Kitschromane stehen, dank derer sie sich in eine andere Welt flüchten kann.

 

Fast ebenso wichtig wie die Bildkomposition ist bei Kaurismäki die Musik. In «The Match Factory Girl» setzt er sie gern kommentierend ein, oft mit beissender Ironie. So ertönt in einer Szene, nachdem Iris von ihrem Verführer gedemütigt und von ihrer Mutter zum Geburtstag mit einem zerlesenen «Angélique»-Roman abgespeist wurde, ein finnischer Schlager mit dem Text «Du hast das gewisse Etwas».

 

Doch wer ist dieser Aki Kaurismäki? Wie kam er dazu, Filme zu drehen, in denen wenig passiert, doch die man immer wieder sehen will? Jahrelang wollte er als Biografie nur Folgendes gedruckt sehen: «Geboren 1957, aber …» Das ist nicht nur ein weiterer Beleg für seine Maulfaulheit, sondern auch eine Hommage an eines seiner grössten Vorbilder, den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu (1903–1963), der 1932 einen Film mit dem deutschen Titel «Ich wurde geboren, aber …» drehte.

Aki Kaurismäki wurde in der südfinnischen Stadt Orimattila geboren als eines von vier Kindern einer Kosmetikerin und eines Handelsreisenden. Mit sechzehn Jahren hatte er, der bis dahin nur kommerzielle Filme gesehen hatte, ein Erweckungserlebnis. In einem Filmklub sah er ein Doppelprogramm mit Robert Flahertys Eskimofilm «Nanook of the North» (1922) und Luis Buñuels «L’âge d’or» (1930). «Leck mich, auch das ist also Kino», sagte er sich angesichts dieses surrealistischen Meisterwerks. Von diesem Moment an, so erzählte er 1990, habe er sich ernsthaft mit Film beschäftigt und Kritiken zu schreiben begonnen.

 

In Tampere studierte er Publizistik, Soziologie und Sozialpsychologie, doch nach zwei Jahren packte er seine Habe in zwei Plastiktüten und fuhr nach Helsinki. Da er pro Tag drei bis sechs Filme sehen wollte, konnte er nur bestimmte Jobs annehmen. Dazu gehörten: Briefträger, Bauarbeiter, Anstreicher, Tellerwäscher, Heizer und Arbeiter in einer Papierfabrik. Dort wartete er, der immer schon alles Mechanische geliebt hatte, eine der riesigen Maschinen, wie man sie am Schluss seines Films «Hamlet Goes Business» («Hamlet liikemaailmassa», 1987) sieht.

 

Als er sich an der Finnischen Filmschule um einen Studienplatz bewarb, wurde er abgelehnt mit der Begründung, er sei «zu zynisch». Dennoch schrieb er ein Drehbuch mit dem Titel «The Liar» («Valehtelija», 1981). Daraus wurde der Abschlussfilm seines zwei Jahre älteren Bruders Mika, der an der Filmhochschule München studiert hatte. Aki spielte darin einen Schnorrer, und er imitierte dafür den nervösen Stil seines grossen Vorbilds Jean-Pierre Léaud. Das sollte sich neun Jahre später als sehr nützlich erweisen, als Aki in London «I Hired a Contract Killer» (1990) drehte. Léaud hatte seit Langem keine Hauptrolle gespielt und war vor Nervosität wie gelähmt. «Ich habe mich vor ihn gestellt und ihn aus früheren Zeiten nachgemacht. Danach hat er mich nachgemacht und so zu sich zurückgefunden», erzählt Kaurismäki im für Fans unentbehrlichen Buch «Kaurismäki über Kaurismäki» von Peter von Bagh (Alexander Verlag, Berlin 2014).

Dank Mika konnte Aki auf verschiedenen Sets das filmische Handwerk erlernen. Zusammen drehten die beiden Brüder den Dokumentarfilm «Saimaa-ilmiö» («The Saimaa Gesture», 1981) über drei finnische Rockbands. Für sein Spielfilmdebüt nahm sich Aki dann nicht weniger als Dostojewskis «Schuld und Sühne» vor. Er hatte gelesen, dass Hitchcock fand, diesen Roman könne man nicht verfilmen. Da Aki nicht wusste, ob er überhaupt fähig war, einen Film zu drehen, sagte er sich: «Wenn schon auf die Schnauze fallen, dann wenigstens aus grosser Höhe.»

 

Tatsächlich ist «Crime and Punishment» («Rikos ja rangaistus», 1983) von einer solchen Stilsicherheit, dass man kaum glauben kann, dass es sich um einen Erstling handelt. Gleich zu Beginn sieht man, wie einer Kakerlake mit einem Hackbeil der Kopf abgetrennt wird. Schauplatz ist ein Schlachthaus, in dem die Hauptfigur Rahikainen arbeitet. Dann geht es hinaus in die Stadt Helsinki, ins Bild gesetzt von Kameramann Timo Salminen, der sich als prägend für den Kaurismäki-Stil erweisen sollte. «Helsinki war damals eine osteuropäische Stadt», sagte Kaurismäki 2005, «glanzlos, aber schön. Heute sieht sie mit all ihren Reklameschildern aus wie ein Klo in einem Pub.» Kaurismäki suchte sich deshalb immer Ecken aus, in denen Helsinki so aussah wie früher. Analog verfuhr er im «Contract Killer» mit London und in «La vie de bohème» («Boheemielämää», 1991/92) mit Paris. Das Viertel von Le Havre, in dem er seinen bisher letzten Film «Le Havre» (2011) drehte, wurde eine Woche nach den Dreharbeiten eingeebnet.

Über den künstlerischen Wert seiner Arbeiten mache er sich wenig Illusionen, sagte der Regisseur. Aber dank seiner Filme könne man später sehen, wie es in diesen Städten einst ausgesehen habe. Aus ähnlichen Gründen läuft in «The Match Factory Girl» im Fernsehen die Berichterstattung über das Massaker von 1989 auf Pekings Tiananmen-Platz. In Kaurismäkis Filmen sollen manche Ereignisse und Orte die Zeit überdauern wie ein Millionen Jahre altes Insekt in einem Stück Bernstein.

 

Nicht nur Arbeit und Helsinki sind in «Crime and Punishment» bereits wichtig, sondern auch die Musik: Die ersten Szenen werden untermalt von einer rauen, englisch gesungenen Version von Schuberts «Ständchen». Ja, in diesem Debüt ist schon das ganze Werk von Aki Kaurismäki angelegt. Und weil das so ist, taucht auch schon Matti Pellonpää in einer kleinen Rolle auf, der Mann, der zum Kaurismäki-Darsteller schlechthin werden sollte, bis er 1995 mit nur 44 Jahren an einem Herzinfarkt starb.

 

In «Shadows in Paradise» («Varjoja paratiisissa», 1986) spielte er dann die Hauptrolle neben Kati Outinen. Bei Kaurismäki ist es den Schauspielern verboten, zu schreien, zu gestikulieren, die Augen zu rollen oder nur schon zu rennen. «Ein guter Schauspieler vermag mit seiner linken Augenbraue mehr auszudrücken als der Absturz mehrerer Helikopter oder ein Partisanengefecht im Wohnzimmer», hat er geschrieben. Und auf die Frage, wie Kaurismäki Regie führe, antwortete Outinen: «Heimlich.» So sitzen in «Shadows in Paradise» dann der Müllmann und die Kassiererin draussen vor dem Supermarkt, rauchen statt zu reden, und doch ist klar, dass hier eine grosse Liebe erblüht.

 

Wie viel Pellonpää im richtigen Leben geraucht – und getrunken – hat, wissen wir nicht. Jedenfalls hat sein Tod Kaurismäki überrascht, denn der hatte die Hauptrolle in «Drifting Clouds» («Kauas pilvet karkaavat», 1995/96) eigens für seinen Lieblingsdarsteller geschrieben. Ihn einfach durch einen anderen Schauspieler zu ersetzen, kam nicht infrage. Doch als Meister der Improvisation vertauschte der Drehbuchautor die Gewichtung der Rollen: Nun wurde die Oberkellnerin (Kati Outinen) die Hauptfigur und ihr Mann (Kari Väänänen), der Tramchauffeur, zur zweitwichtigsten. «Drifting Clouds» ist ein Film über Arbeitslosigkeit. Finnland war Anfang der Siebzigerjahre in eine solche Krise geraten, dass von den fünf Millionen Einwohnern eine halbe Million arbeitslos war. «Ich hätte mich im Spiegel nicht mehr ansehen können, wenn ich dieses Thema nicht aufgegriffen hätte», sagte Kaurismäki. Weil er selbst auf dem Bau und in Fabriken gearbeitet hatte, bevor er Regisseur wurde, sind die Szenen aus der Arbeitswelt bei ihm immer stimmig. Und wenn er von der Arbeitslosigkeit erzählt, gerät ihm das nicht zu Sozialkitsch, sondern es geht einem an die Nieren; wenn es danach mit den Figuren wieder aufwärtsgeht, freut man sich umso mehr. So ist «Drifting Clouds» Aki Kaurismäkis schönster Film geworden. Und damit einer der schönsten Filme der Welt.

 

Thomas Bodmer ist Filmjournalist beim Tages-Anzeiger.

 

Das Kino des grossen Finnen ist ein Kino der kleinen Gesten und der einfachen Leute. Seine Helden sind Müllmänner, Kellnerinnen und Kassiererinnen. Menschen, denen nichts geschenkt wird, sondern die für ihr kleines Glück hart arbeiten müssen. Die  knapp am Abgrund stehen, aber den Schicksals-schlägen mit stoischer Würde begegnen, da ihr Schöpfer sie mit einem grossen Herz ausgestattet hat und sie mit verschämter Fürsorge begleitet. Es sind diese aufrechten Helden der Arbeit und der liebevolle Blick des Regisseurs auf seine Protagonisten, die einem Aki Kaurismäkis Filme so ans Herz wachsen lassen.