Openair in der Lokremise:

Rot – Liebeserklärung an eine Farbe

 von Susanne Marschall

 

Als unübersehbarer roter Faden zieht sich die wahrnehmungspsychologisch, kulturell und ästhetisch elementare Farbe Rot durch diese Filmreihe und bildet das Zentrum des erzählerischen Gewebes um die Erlebnisse, Taten und Träume der Figuren auf der Kinoleinwand. Im Kampf gegen die kalte Macht des blauen Todes umspielt das schwülstige Rot des Bordells die reine Liebe zwischen der Kurtisane Satine (Nicole Kidman) und dem Dichter Christian (Ewan McGregor) in Baz Luhrmanns «Moulin Rouge!»(2001). Grausam dagegen platzt die rote Mordlust aus dem psychopathischen Bösewicht in Stanley Kubricks «Shining» (1980) heraus, wie das Blut aus seinen unschuldigen Opfern, das sich in die endlosen Gänge des unheimlichen Schauplatzes ergiesst. Ängstigendes Rot besetzt den Himmel über Alfred Hitchcocks traumatisierter Heldin in «Marnie» (1964) und erinnert an die berühmten Gemälde Edvard Munchs. Blumen und andere Objekte zierend, spült die Signalfarbe Marnies schlimmste Kindheitserinnerungen immer wieder an die Oberfläche ihres erwachsenen Bewusstseins.

 

Als Blicksperre und zugleich das Lockende markierend, schützt die erotische Farbe in Form von roten Rosenblättern die intimen Zonen des jungfräulichen Mädchenkörpers vor den lüsternen Phantasien Lester Burnhams (Kevin Spacey) in Sam Mendes’ «American Beauty» (1999). Ebenso unkalkulierbar wie seine verqueren Wahnideen flutet rotes Licht in und um die Augen des Vietnamveteranen Travis Bickle in Martin Scorseses Psychothriller «Taxi Driver» (1976). Im roten Licht einer utopischen Zwischenwelt zwischen Leben und Tod philosophieren Lola (Franka Potente) und Mannie (Moritz Bleibtreu) in Tom Tykwers «Lola rennt» (1998) über Gott und die Welt, bevor die Geschichte immer wieder neu ansetzt. Falsch und ins Irreale verschoben, spielt Rot in David Lynchs Kinofilm «Twin Peaks» (1992) oder in Jean-Pierre Jeunets «Le fabuleux destin d’Amélie Poulain» (2001) Katz und Maus mit einem ebenso schrägen Grün auf der Bühne der verfremdeten Farbkontraste. Und als fluides, rotes Licht markiert es einmal mehr die Zonen der Gefahr, in denen sich in Peter Greenaways «The Cook, the Thief, His Wife & Her Lover»(1989) die unglückliche Georgina (Helen Mirren) bewegt, während sie einen Fremden liebt und der sadistische Gatte dem Paar stets dicht auf den Fersen bleibt.

 

Nicht nur im Kino, auch in der Malerei, in der Literatur und auf der Theaterbühne ist Rot niemals eine gleichgültige Farbe. Auf der Palette filmischer Rottöne ballen sich intensive Emotionen. Wildes Rot sticht alle anderen Farben aus, kämpft gegen Schwarz und Weiss, leuchtet aus dunkler Nacht und befleckt roh die Unschuld. Rotes verheisst Glück und Unglück zugleich, kann den Blick in einer einzigen Einstellung verführen und blenden. Obwohl jede Kultur ihre eigene symbolische Beziehung zu Rot pflegt und das spanische Rot eines Pedro Almodóvar kaum mit dem russischen, chinesischen oder dem indischen Rot zu verwechseln ist, mischt sich in der erzählerischen Essenz der Farbe Rot überall auf der Welt das Schöne mit dem Schrecklichen, das unbeherrschbare Leben mit dem noch unbeherrschbareren Tod. Der Tod bewohnt das Leben wie das Blut unsere Adern. Wird unser Körper verletzt, tritt das rote Blut, das pulsierende Zeichen unserer Lebenskraft aus, wird sichtbar und verkörpert eine unmittelbare Gefahr.

 

Obwohl Rot in der chinesischen Farbordnung für Glück steht, markiert ein visuell übermächtiges Rot in Zhang Yimous Filmen «Rotes Kornfeld» (1987) und «Raise the Red Lantern» (1991) stets die Gefahrenzonen für die weiblichen Hauptfiguren, die der Willkür der Männer wehrlos ausgesetzt sind. Unheilvoll durchdringen sich die Sphären der Gewalt und der Sexualität, herrschen Eifersucht und Aggression. Auch in Yimous Wuxia-Drama «Hero» (2002) kommentieren Rottöne die tödliche Eifersucht zwischen der erfahrenen Kämpferin Fliegender Schnee (Maggie Cheung) in vollendetem Rot und der jungen Dienerin Leuchtender Mond (Zhang Ziyi) in heranreifendem Orange um die Gunst des Helden Zerbrochenes Schwert (Tony Leung Chui Wai). Yimou spielt mit den Farbklischees ein erkenntnistheoretisches Spiel, seine Rot-, Blau-, Gelb- und Weisstöne lügen wie der namenlose Schwertkämpfer (Jet Li), der mit seinen zur Monochromie tendierenden, falschen Variationen ein- und derselben Geschichte ein psychologisches Attentat auf den Kaiser begeht.

Gewiss ist, dass auch keine der anderen Grundfarben symbolisch eindimensional lesbar ist. Alle Farben beherrschen mehr oder weniger den Spagat zwischen gegensätzlichen Bedeutungen.

 

Auch in der Farbe Blau treffen Leben und Tod aufeinander, fliessen undefinierbar ineinander wie die Wellen des Ozeans in eine schrankenlose Unendlichkeit, dorthin, wo erstes Leben einst keimte und wohin es immer wieder zurückkehren will. Und dennoch steht Rot in einem Mass unter Spannung wie keine der anderen Farben, als hitziges Zeichen unauflösbarer Ambivalenz bleibt es offen für Unerwartetes, Ungeheuerliches, für tiefe Liebe und wilde Wut, die in vielen Filmen kaum voneinander zu trennen sind. Rot beherrscht die Abstraktion ebenso wie das Konkrete. Die Farbe bildet wie der «springende Punkt» in einem befruchteten Ei die Keimzelle einer künftigen Entwicklung, steht für das Lebendige, die Essenz einer Geschichte. Dabei ist der filmische Ort der Farbe entscheidend. Eine Figur in Rot, ein roter Raum, ein rotes Dekor, ein rötliches Licht, in dem die Dinge und Menschen untertauchen: Die Farbe Rot nimmt schon aufgrund ihres visuellen Gewichts und ihrer reichen Kontexte immer viele narrative Funktionen im Film wahr: als synästhetische Attraktion, als ambivalentes Motiv, als Ventil unbeherrschbarer Gefühle, als Spur des Verdrängten. Fast immer geht die Bedeutung der Farbe Rot darum weit über das Ästhetische hinaus, sie fliesst aus dem Inneren der Geschichte wie das Blut aus einem Körper und führt ihr eigenes Regiment. Das Rote scheint im Kino (häufig auch in der Wirklichkeit) tendenziell den Frauen zu gehören, obwohl oder gerade weil aus der Farbe eine besondere Dominanz spricht. Rote Lippen, rote Haare, rote Kostüme, rote Schuhe durchziehen die Filmgeschichte als Schmuck und Stigma der Figuren, als Provokation, als erotischer Reiz, als Pfeil in eine offene Wunde. Kate Winslet sucht als Rose in James Camerons monumentalem Katastrophenfilm «Titanic» (1997) im eisigen Wasser den Tod und wird in letzter Minute von einem Fremden gerettet. Das samtig schimmernde Dunkelrot des eng geschnürten Kostüms kontrastiert zu ihrem im blauen Licht seltsam fremd wirkenden roten Haar und dem blau-bleichen Teint der Lebensmüden. In «Lost Highway» (1997) arrangiert David Lynch auf unheilvolle Weise Rot und Schwarz an und um Patricia Arquette, die eifersüchtig begehrt und schliesslich verstümmelt und ermordet wird. In Ingmar Bergmans «Schreie und Flüstern» (1972) verkörpert ein mittleres, dichtes Rot das erbarmungslose Leid, malt den physischen Schmerz an die Wände des Krankenzimmers, aus dem es für die krebskranke Agnes (Harriet Andersson) kein Entkommen mehr geben wird. Erst das kühle Blau des Todes lindert die Qualen, entspannt die Gesichtszüge der Sterbenden, schenkt ihr die letzte Ruhe.

Vor allem im Kontrast zu der unbunten Polarität von Schwarz und Weiss gerät Rot oft in den Verdacht der Masslosigkeit, demonstriert die Hybris und den Ungehorsam überwiegend weiblicher, aber immer wieder auch männlicher Figuren. In Michael Powells und Emeric Pressburgers «Black Narcissus» (1947) ballt sich ein erotischer Aufruhr in dem dunklen Rot des weltlichen Kleides, mit dem Schwester Ruth (Kathleen Byron) das jungfräuliche Weiss der anderen Nonnen verhöhnt. Dasselbe Rot begleitet auch die Wut des Impressarios in dem Ballettfilm «The Red Shoes» (1948), der ebenfalls von dem britischen Regie-Duo Powell und Pressburger gedreht wurde. Ken Russell ertränkt in seinem Musikfilm «Tommy» (1975) die schuldbeladene Seele der Mutter des erblindeten Messias in einer orgiastischen Flut von roter Bohnensuppe, die sich aus dem Fernseher in ein blütenweisses Schlafzimmer erbricht. Rot auf Weiss spielt auf die erste Nacht der Braut an, auf die Befleckung des weissen Bettlakens infolge des ersten Geschlechtsakts, auf die notwendige Verletzung, die jene Form der Liebesbegegnung auch dann begleitet, wenn sie freiwillig vollzogen wird. Im Kino führt Rot zu den elementaren Lebenserfahrungen, weitet die Figuren für neue und unbekannte Gefühle, ermöglicht das Erkennen der Identität, die sich riskiert und dadurch selbst erfährt.

 

Theatralisches Rot versperrt gelegentlich aber auch den Weg in das Innere der Figur, vor allem dann, wenn sich diese hinter der visuellen Arroganz des Roten so verschanzt wie Scarlett O’Hara (Vivian Leigh) in Victor Flemings Melodram «Gone with the Wind» (1939). Das prachtvolle Rot ihres Kostüms suggeriert eine zur Schau getragene seelische Kälte und demonstriert den Anspruch der Macht im semantischen Gefüge der Bildkomposition. Ein allzu rotes Kleid im ansonsten farblich dezent aufgestellten Figurengefüge kann das Szenenbild vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen, und so geschieht dies denn auch während eines Festessens in Martin Scorseses «The Age of Innocence» (1993). Die ungebetene Anwesenheit der geschiedenen Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer) in selbstbewusstem Rot wirkt wie ein Affront auf die strenge Tischordnung der Gesellschaft. Im Bild rückt reines Rot optisch in den Vordergrund. Wer auffallen will, trägt rote Kleidung und zwar beileibe nicht nur um der erotischen Attraktion willen. Rot ist gleichermassen die Farbe der Heiligen wie der Huren, der christlichen Kirche wie der Hölle, der juristischen Macht, der Bestrafung und Korrektur (zum Beispiel im Schulheft) und des Verbrechens, des Reichtums wie der bitteren Not. Da klares Rot immer deutlich sichtbar ist, stimuliert es für das wachsame Zuschauerauge zugleich auch eine besondere Form des Verfremdungseffekts, denn die Farbe lenkt die Aufmerksamkeit auf die Konstruktionsprinzipien der Geschichte, auf deren innere wie äussere Struktur. Die Farbe Rot auf der Kinoleinwand wirkt immer, aber vor allen Dingen immer wieder neu. Ihre Vielfalt zu studieren, geben uns die Filme dieser Filmreihe reichlich Anlass. 

 

Susanne Marschall ist Professorin für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Audiovisuelle Medien, Film und Fernsehen und Direktorin des Zentrums für Medienkompetenz an der Universität Tübingen. Sie hat zu Themen der Film- und Fernsehwissenschaft, Literatur- und Theaterwissenschaft, Bild- und Kulturwissenschaft publiziert und ist Autorin der wegweisenden Monografie «Farbe im Kino», die 2009 in zweiter Auflage im Schüren Verlag erschienen ist.

 

Im Juli und August ist es wieder so weit: In den kürzesten und wärmsten Nächten des Jahres verlegt das Kinok seinen Saal in den Innenhof der Lokremise und lädt die Besucher von Donnerstag- bis Samstagabend zum sommerlichen Openair. Dieses Jahr steht die Farbe Rot im Zentrum der Aufmerksamkeit. Vom Liebesmelodram über den Erotikthriller bis zum Schwertkampfepos: Alle Filme lassen die Zuschauer in ein farbtrunkenes Universum eintauchen.